Münkler: Die EU ist kein Export-Modell

Herfried Münkler im Gespräch mit Katrin Heise · 10.12.2012
Andere Regionen müssten ihre eigenen Wege finden, um friedlich zu kooperieren, betont der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU sollten sich die Europäer nicht damit brüsten: "Wir haben das Modell, an dem ihr euch zu orientieren habt."
Katrin Heise: Seit über 60 Jahren herrscht Frieden in Mittel- und Westeuropa. Er erscheint uns robust, beinahe schon selbstverständlich, und Selbstverständliches preist man nicht mehr. Man ist nicht mehr dankbar dafür, man nimmt es einfach so hin. Das wollte die Nobelpreiskommission offenbar ändern. Und angesichts von Europamüdigkeit aus wirtschaftlichen Gründen die Friedensleistung der EU hervorheben auch als Symbol mit Strahlkraft in die Welt. Der Friedensnobelpreis also für die Europäische Union. Den Staatenbund als friedensstiftendes Modell nehme ich jetzt mal unter die Lupe, zusammen mit dem Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Herr Münkler, ich wünsche Ihnen einen schönen guten Morgen!

Herfried Münkler: Guten Morgen, Frau Heise!

Heise: Wenn wir jetzt anlässlich des Friedensnobelpreises mal an den Anfang blicken, also '57, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft oder davor, '51, die Montanunion, den Vorläufer sozusagen. Das war ja jetzt eigentlich nicht Versöhnung und Friede, das waren ja handfeste wirtschaftliche Interessen, die die Länder haben zusammenrücken lassen, oder?

Münkler: Einerseits ja, andererseits spielte aber doch auch die Frage der Aufrüstungspolitik oder einer möglichen Aufrüstungspolitik eine Rolle. Denn in dem Augenblick, wo man Frankreich und Deutschland im Bereich der Montanindustrie vergemeinschaftete, war eine gegeneinander gerichtete Aufrüstungspolitik – das war ja damals noch das Panzerzeitalter – so nicht mehr möglich. Und insofern spielte diese friedenspolitische Komponente darin sehr wohl eine Rolle. Nur, dadurch, dass diese Zeit ja dann, eigentlich '51 schon durch die Konfrontation von West und Ost überlagert worden ist und die Angehörigen der EWG eigentlich alle im selben Bündnis, nämlich in der NATO waren, war die friedenspolitische Dimension dann relativ bedeutungslos. Es ging eher um wirtschaftspolitische Fragen. Die Frage der Sicherheitspolitik war einfach auf die NATO übertragen.

Heise: Ich würde gern trotzdem noch mal bei diesem Anfang bleiben. Man könnte ja auch so argumentieren: Europa war nach den großen Kriegen, zwei innerhalb von wenigen Jahrzehnten, einfach auch erschöpft. Also man konnte nicht mehr Krieg führen. Hätte es vielleicht aus diesem Grund heraus, auch ohne diese Zusammenschlüsse, Frieden gegeben?

Münkler: Also es ist jedenfalls wahrscheinlich, dass es keine Staatenkriege mehr gegeben hätte, aber dazu hätte es der europäischen Erschöpfung nicht bedurft. Denn dafür haben ja im Prinzip die Amerikaner gesorgt, die in ihrer Interessensphäre im Prinzip eine ziemlich strenge Aufsicht darüber geführt haben, dass die Akteure gegeneinander keine Kriege geführt haben. Das war jetzt sozusagen in dem vom Zweiten Weltkrieg unmittelbar betroffenen Gebiet nicht so sehr der Punkt, aber wenn Sie denken, Griechenland, Türkei, da stand es ja ein paar Mal auf der Kippe, aber das haben die Amerikaner eben verhindert. Das wäre bei uns auch so gewesen. Sie haben aber völlig recht. Die Erschöpfung betrifft vor allen Dingen dann einerseits natürlich die materielle Dimension, aber dann auch, seit den 60er-Jahren, nach dem Ende des Babybooms, auch so etwas wie eine demografische Erschöpfung. Es fehlen die jungen Männer, die gegeneinander Krieg führen könnten.

Heise: Wie wichtig waren eigentlich, wenn man jetzt gerade eben auch noch an die Kriegsgenerationen denkt, wie wichtig waren, würden Sie sagen, tatsächlich einzelne Persönlichkeiten, die da an der Macht waren, für einen Versöhnungsprozess?

Münkler: Also das Zusammenspiel zwischen de Gaulle und Adenauer, das spielt sicherlich eine große Rolle, und auch andere Politiker, die in dieser Frage relevant gewesen sind. Ich glaube allerdings, dass sozusagen man da, wenn ich das so sagen darf, politisches Feuilleton und reale Politikgeschichte auseinanderhalten muss, weil wir ein bisschen darauf angewiesen sind, uns selber zu feiern und das groß zu finden, werden bestimmte Figuren herausgehoben und ihnen eine Bedeutung zugeschrieben, die letzten Endes aber nur darin besteht, dass das, was strukturell angesagt und erforderlich war, von ihnen eben klugerweise umgesetzt worden ist.

Heise: Sie haben ja schon darauf hingewiesen, auf die Konfrontation der Systeme, also den Kalten Krieg und dadurch also so die – ja, das Zusammengerücktsein eigentlich des inneren Europas, also die innereuropäischen Konflikte waren überlagert. Gab es da eigentlich, '89, '91 eine reale Gefahr, dass so zwischenstaatliche Konflikte wieder hochkommen, Eskalation gedroht hätte?

Münkler: Jein. Also zu sagen, die Anmoderation von Ihnen ist ja im Prinzip richtig, dass in Europa keine Kriege mehr stattgefunden haben, aber natürlich haben die jugoslawischen Zerfallskriege stattgefunden. Und das ist auch das, was Europa in der Zukunft wohl bedrohen wird, zwischenstaatliche Kriege. Ich denke, das ist nicht mehr die Herausforderung aus vielerlei Gründen. Aber Kriege, in denen sich Kriminalität, Hass auf der Grundlage von ethnischen oder religiösen Unterschieden miteinander verbinden, die eher auf kleiner Flamme von Banden und Gruppierungen geführt werden, das ist schon ein Problem. Und nun zeigte sich in den jugoslawischen Zerfallskriegen interessanterweise, dass plötzlich die Gegensätze, die 1914 zur Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts geführt haben, wieder da waren, insofern bestimmte Länder, namentlich Österreich und die Bundesrepublik Deutschland, Kroatien unterstützt haben, also einen Teil, der früher zur Donaumonarchie gehört hat, und die Franzosen in diesem Falle mit Serbien – na also, kooperiert ist vielleicht zu viel gesagt, aber jedenfalls Sympathien für die Serben gehabt haben. Und man hat ja teilweise gesagt, dass bei den Militärs, die dort eingesetzt sind, es das Problem gebe, dass von den französischen Militärs gleich die Serben gewarnt würden. Also da tauchten plötzlich wieder die Spannungen auf. Natürlich das Ganze auch noch vor dem Hintergrund der deutschen Wiedervereinigung und den Befürchtungen, die zu diesem Zeitpunkt vor allen Dingen in Paris, aber auch in London geherrscht haben.

Heise: Na, das hört sich eben nicht danach an, dass es eine ganz tiefe Wertegemeinschaft gibt in der EU. Heute bekommt die EU den Friedensnobelpreis, Anlass für uns, zusammen mit dem Politikwissenschaftler Herfried Münkler diese friedensstiftende Funktion unter die Lupe zu nehmen, die, wie Sie ja eben gesagt haben, doch eigentlich eine wacklige ist. Oder, Herr Münkler, wie – welche Rolle spielen die Zivilgesellschaften bei diesem friedensstiftenden Modell? Man hat nämlich den Eindruck, dass es eigentlich vor allem um Vertragsabschlüsse geht, die die Länder so nahe beieinander verzahnt halten, und weniger die Zivilgesellschaften, die aufeinander zu gehen.

Münkler: Nun soll man solche Verträge, die ja rechtliche Rahmenbedingungen schaffen, nicht unterschätzen, weil sie in der Lage sind, Konflikte, Meinungsverschiedenheiten, divergierende Interessen so zu managen, dass das Ganze nicht eskaliert. Das ist ja in der Vergangenheit immer das Problem gewesen, dass teilweise marginale Meinungsverschiedenheiten, jedenfalls in der Retrospektive betrachtet, marginale, dann immer stärker eskaliert wurden, sodass sie schließlich dann durch den Volkszorn oder Empörung oder was auch immer unterbaut wurden. Wir sind jetzt als Europäer gleichsam im Fernsehsessel und beobachten derlei eher im Nahen Osten, aber im 19. und vor allen Dingen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat derlei ja auch bei uns eine Rolle gespielt. Und Verträge, sozusagen: strukturelle Bedingungen, um das Hochkochen solcher Entwicklungen niedrig zu halten. Die Zivilgesellschaft, na ja, die Zivilgesellschaft, ich meine, es ist eher die Marktgesellschaft, es ist der Tourismus und der Austausch sozusagen an Lebensformen, an Lebensmitteln, das Sichkennenlernen und Schätzenlernen, das da vielleicht dann doch eine sehr viel stärkere Rolle spielt als zivilgesellschaftliche Akteure, die eigentlich nicht europäisch, sondern wenn, dann global aufgestellt sind.

Heise: Also Stichwort Wertegemeinschaft, habe ich bei Ihnen jetzt noch gar nicht gehört, beispielsweise.

Münkler: Ja, wissen Sie, Wertegemeinschaft ist natürlich sehr schön und wird gerne beschworen, aber sozusagen für den Politikwissenschaftler verlässlich sind eher die institutionellen Arrangements, die das Zusammenspiel befördern. Und im Augenblick würde ich meinen, wenn wir nach Bulgarien oder Rumänien gucken, ist das, oder auch Ungarn, mit der Wertegemeinschaft so eine Sache. Die Osterweiterung hat da doch, na ja, Gott, unter dem Motiv der Stabilisierung des Raumes Mitteleuropas ein paar Länder in die Gemeinschaft gebracht, die sozusagen vielleicht beim Lippenbekenntnis in der Wertegemeinschaft dabei sind, aber nicht wirklich.

Heise: Vor dem Hintergrund all dessen, was Sie jetzt gesagt haben, Symbol mit Strahlkraft, EU als friedensstiftendes Modell – eignet sie sich tatsächlich als Exportprodukt? Also jetzt, Sie haben die Nahostregion zum Beispiel angeführt.

Münkler: Also man muss, wenn einem mal was gelungen ist, das teilweise auf glückliche Rahmenbedingungen zurückzuführen ist, unter anderem auch ökonomische Prosperität über einen so langen Zeitraum, jetzt nicht gleich den Kamm stellen und durch die Welt marschieren und laut gackern und sagen: Wir haben das Modell, an dem Ihr Euch zu orientieren habt! Das, glaube ich, würde weder gut ankommen noch den tatsächlichen Bedingungen entsprechen. Denn die Bedingungen sind dann doch sehr stark auf die geografischen und kulturellen und auch historischen Bedingungen Europas – von denen abhängig. Natürlich kann man sagen, um zu sagen, Kooperation zwischen Staaten, die von der Wirtschaft her dann auf die Politik übergreift und versucht, immer weitere Bereiche zu erfassen, ist etwas Attraktives, ist eine Lösung auch für andere Regionen. Das ist gar keine Frage. Aber die anderen Regionen müssen dann doch ihre ganz eigenen Wege finden. Und vor allen Dingen müssen sie denjenigen finden, der sozusagen die Rolle der Bundesrepublik innerhalb der EU spielt, also eines Akteurs, der seine Größe gleichwohl mit Verzicht auf politische Macht begleicht und der bereit ist, bei Meinungsverschiedenheiten oder Finanzierungsdefiziten sozusagen mit dem bekannten Scheckbuch einzuspringen.

Heise: Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler zur EU als friedensstiftendes Modell betrachtet, hier im Radiofeuilleton. Herr Münkler, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag und danke Ihnen für das Gespräch!

Münkler: Ich danke auch! Tschüss!

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Herfried Münkler, Politikwissenschaftler an der HU Berlin
Herfried Münkler: Divergierende Interessen managen.© Humboldt Universität Berlin