Donnerstag, 28. März 2024

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"Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur"
Humboldt lebt!

Wer Alexander von Humboldt für einen verstaubten Säulenheiligen vergangener Zeit hält, wird mit diesem Buch auf das Angenehmste eines Besseren belehrt. Die aus Deutschland stammende britische Historikerin Andrea Wulf präsentiert den Universaltgelehrten in neuem Glanz. Auf unterhaltsame Weise lässt sie das Humboldtsche Gefühl für die Ganzheit der Welt wiederauferstehen.

Rezension von Michael Lange | 23.10.2016
    Naturforscher Alexander von Humboldt (l) und der Botaniker Aimé Bonpland
    Naturforscher Alexander von Humboldt (l) mit dem französischen Botaniker Aimé Bonpland während einer Expedition in Südamerika. (imago/United Archives)
    Wenn wir die Schönheit der Natur als feines Netzwerk bewundern, wenn wir versuchen, ökologische Zusammenhänge zu begreifen, dann hat diese Vorstellung von unserer Umwelt ihren Ursprung in der Gedankenwelt Alexander von Humboldts. Seine ständige Neugier, seine Wissbegier, aber auch Gespräche mit Philosophen und Dichtern bereiteten Humboldt vor auf das, was er auf Reisen erleben sollte.
    Vor über 200 Jahren machte er sich auf den Weg kreuz und quer durch Südamerika, paddelte auf dem Orinoco und bestieg den Chimborazo im heutigen Ecuador, der damals als höchster Berg der Welt galt. Es sammelte Pflanzen und Tiere, führte unzählige Messungen durch, aber er ließ die Natur auch auf sein Gemüt wirken und versuchte, seine Empfindungen in Worte zu fassen.
    "Alles hängt mit allem zusammen"
    Humboldt interessierte sich für viele Details, aber anders als andere Naturforscher seiner Zeit beließ er es nicht dabei. Er sammelte nicht nur naturgeschichtliche Objekte, sondern Ideen und schuf so ein neues Verständnis der Natur. Seine wichtigste Erkenntnis lautete: "Alles hängt mit allem zusammen." In zahlreichen Briefen, Schriften und in Vorträgen sorgte er für die Verbreitung seiner Gedanken. Sie machten ihn zu einem weltweit verehrten Star der Gelehrsamkeit.
    Dabei war Humboldt nicht immer ein angenehmer Zeitgenosse. Er konnte aufbrausen, redete gern viel und schnell, und Zuhören gehörte nicht zu seinen Stärken. Bei einem Treffen mit Charles Darwin ließ er diesen kaum zu Wort kommen. Dennoch überwog bei seinen Gesprächspartnern stets die Bewunderung. Bei Humboldts Beerdigung folgten Tausende dem Trauerzug und König Wilhelm von Preußen nannte Alexander von Humboldt "den größten Mann seit der Sintflut."
    Romantische Verklärung und systematische Erforschung der Natur
    In der professionalisierten Wissenschaft, die damals entstand, ist Humboldts ganzheitliche Sicht auf die Natur zunehmend verloren gegangen. Statt Informationen zusammen zu führen, spaltete sich die Wissenschaft immer weiter in Fachdisziplinen auf. Erst in jüngerer Zeit bemühen sich einige ihrer Vertreter um mehr Interdisziplinarität. Man könnte auch sagen: Mehr Humboldt. In den Köpfen von Nichtwissenschaftlern hingegen genießt das Weltbild Humboldts heute mehr Zuspruch denn je. Er prägte viele Gedanken, die für Umweltschützer heute selbstverständlich sind, auch wenn viele nicht wissen, auf wen das "ganzheitliche" Naturverständnis zurückgeht.
    Das hervorragend gestaltete Buch von Andrea Wulf überzeugt durch viele Zitate und sorgfältig recherchierte Hintergrundinformationen. Die lebendige Sprache macht es zum Leseerlebnis und nach der Lektüre bleibt kein Zweifel: Alexander von Humboldt hat uns heute sehr viel zu sagen. Er hat sowohl die romantische Verklärung der idealen Natur als auch die systematische Erforschung ihrer Ökologie tatsächlich "erfunden".
    Buchinfo:
    Andrea Wulf: "Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur"
    Übersetzung: Hainer Kober
    C. Bertelsmann, 560 Seiten, 24,99 Euro, ISBN: 978-3570102060