Mose ist ein Actionheld

Von Stefan Keim · 17.01.2010
Warten ist nicht schön. Weder im dauerverspäteten ICE, noch im Autobahnschneestau und schon gar nicht in der Wüste, wenn der Anführer schon fünf Wochen auf einem vernebelten Berg verschwunden ist.
Das Volk Israel murrt, und der gerade eben zum Rabbi ernannte Aaron gibt die Losung aus: "Wir brauchen Glamour und deshalb machen wir uns ein goldenes Kalb." Moment mal. Ging es da nicht um ganz andere Dinge, um existenzielle Zweifel, um die Sehnsucht nach den alten Göttern? Nicht im Pop-Oratorium "Die 10 Gebote", mit dem die evangelische Kirche in der knallvollen Dortmunder Westfalenhalle ihren ersten Beitrag zur Kulturhauptstadt leistet.

Eine Umfrage des WDR-Kulturmagazins west.art hat soeben ergeben, dass die meisten Deutschen mit dem Begriff RUHR.2010 etwas anfangen können, in Nordrhein-Westfalen sind es sogar 85 Prozent. Aber die wenigsten wissen, was da überhaupt läuft. Die Marke setzt sich durch, der Inhalt bleibt im Nebel wie der Berg, auf dem Gott die Gebote verkündet. Die Kirche hat mit ihrem Pop-Oratorium eine perfekte Strategie entwickelt, um Aufmerksamkeit zu erregen.

Über 2500 Sänger aus 90 Chören des Ruhrgebietes beteiligen sich an der Uraufführung, viele Monate haben sie geprobt. Ein Viertel der riesigen Westfalenhalle ist nur von ihnen gefüllt, in engelsweißer Kleidung. Während die Bekannten und Verwandten auf der anderen Seite sitzen, winken, rufen und wenn es dunkel wird, mit Leuchtstäben wedeln. Der Publikumserfolg ist vorprogrammiert.

Vielleicht sollte man es darauf beruhen lassen und keinen kritischen Blick auf die christliche Krach-Fete werfen. Aber die Werbung und das gewaltige Merchandising – mit Textbuch, Programmheft, CD und Mitschnitt durch Bibel-TV, der auch auf DVD erscheint – erscheinen zu gewaltig. Außerdem waren die Ansprüche wohl doch etwas höher. Textdichter Michael Kunze ist der deutsche Musicalautor und -übersetzer Nummer eins, Komponist Dieter Falk produziert Pur, Monrose und Paul Young und war Jurymitglied der Castingshow "Popstars". Von diesen Leuten könnte man etwas mehr erwarten als Krach und Unsinn.

Vielleicht wollte Dieter Falk alles Kitschig-Süßliche vermeiden und sich an "Jesus Christ Superstar" von Andrew Lloyd Webber orientieren. 90 Prozent der Musik sind knallig und rockig, dabei allerdings so undifferenziert, dass sich ohne Blick ins Textheft oder auf die Untertitel kaum erkennen lässt, wer gerade was singt.

Die Tonanlage ist rettungslos überfordert, zumindest auf den Sitzplätzen der Presse an der Seite kommt meistens nur Klangbrei an. Nicht einmal Otto Sander, der dem lieben Gott per Einspielung die warme Stimme leiht, ist immer verständlich. Das Ensemble steht nicht wie bei einem normalen Oratorium hinter Notenpulten, sondern hat die Songs auswendig gelernt und spielt sogar ein bisschen. Wenn Regisseurin Doris Marlies den Chor einsetzt und aus den 2000 Sängerinnen und 500 Sängern eine Wand bildet oder einen goldenen Hintergrund für den Auftritt des Pharao, gelingen ein paar hübsche Bilder. Sonst liefert sie brave Klischee-Arrangements.

Kurz horcht man nach der Pause auf, wenn eine Bratsche orientalische Melodik einfließen lässt. Sonst gibt es nur ein paar Balladen als Ruhepause, die Bahar Kizil von Monrose als Moses Ehefrau Zipporah singt. Michael Eisenburger sieht als Mose aus wie ein Prinz aus einem Animationsfilm der Disney-Studios. Er brüllt wie alle anderen, was das Zeug hält, um gegen die Chor- und Instrumentalmassen durchzukommen.

Dieser Mose ist ein jugendlicher Actionheld, der mit grimmig-pathetischem Blick das Meer teilt und bei seinem ersten Auftritt ein paar Hirten verhaut, die seine Gattin in spe vom Wasserloch verdrängen wollen. "Bitte? Wie? Seid ihr alle besoffen?" singt Mose. "Ein Wasserloch steht allen offen. Das ist Brauch, wo es auch sei. Lasst das Mädchen an die Pfütze, oder Ihr kriegt was auf die Mütze. Gebt den Weg zum Wasser frei." So witzelt und reimt sich Michael Kunze den Abend zusammen. Nach zweieinviertel Stunden Pop-Oratorium kommen einem die saisonalen Büttenreden wie Rilke-Gedichte vor.

Natürlich darf und muss ein Textdichter für einen solchen Abend die biblische Geschichte frei bearbeiten. Nichts anderes hat Tim Rice für "Jesus Christ Superstar" getan. "Die 10 Gebote" sind inhaltlich so enttäuschend, weil Michael Kunze sich für nichts interessiert. Weder dafür, dass im Nahen Osten der Zugang zu Trinkwasser bis heute ein existenzielles Problem ist, noch für die Figuren, nicht einmal für die zehn Gebote.

Denn die werden am Schluss schnell herunter gehaspelt, bis die Botschaft übrig bleibt: "Liebe ist das Gebot. Liebe allein schließt alles ein." Zehn Gebote scheinen zu viel zu sein, das versteht ja keiner mehr. Doch wer die Aussagen der Bibel auf so ein simples Niveau herunter fährt, nur um kurzfristig Erfolg zu haben, zahlt einen hohen Preis. Er tanzt ums goldene Kalb.

Service:
Internetseite des Pop-Oratoriums "Die 10 Gebote"