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Erster Weltkrieg
"Kein Brot is' nich!"

Am 25. Januar 1915 wurde in Deutschland die Brotkarte eingeführt. Das Kaiserreich versuchte, mit der Lebensmittelrationierung den bald nach Beginn des Weltkriegs im August 1914 offenbar werdenden Mangel an Grundnahrungsmitteln zu verwalten.

Von Bernd Ulrich | 25.01.2015
    Schwarzweiß Fotografie mit einer Schlange von Menschen vor einem Lebensmittelladen im 1. Weltkrieg.
    Mit der Brotkarte standen jeder Person alle zwei Wochen zwei Brote und 20 Semmeln zu. (picture alliance / dpa)
    "Da steh ich nun schon zwei Stunden auf meine Pedalen", zeterte eine Frau, "und kein Brot is' nich! Eine Jemeinheit is' dat."
    Was sich im März 1916 in der seinerzeit westpreußischen Kleinstadt Schneidemühl anbahnte, gehörte schon damals längst zum Kriegsalltag: Eine Gruppe von Frauen steht vor einer Bäckerei an und muss endlich erleben, dass der Laden plötzlich seine Tore schließt. Regelmäßig brach in solcher Lage ein Tumult aus, bis die Polizei erschien. Auch in Schneidemühl tauchte bald ein Wachtmeister auf und "packte eine der Frauen am Kragen. Da fiel sie hin. Na, nun ging's los! Die Frau hob die Milchkanne und hieb sie dem Polizisten mit voller Wucht ins Gesicht. Als wenn dies das Signal zum Angriff gewesen wäre, stürzten alle Frauen auf den Polizisten. Ein zweiter Polizist kam angerannt. Der aber wurde auch in die Keilerei einbezogen und kräftig verbleut."
    Die eindrückliche Szene, geschildert von der Schriftstellerin und Schauspielerin Jo Mihaly am 15. März 1916 in ihrem Tagebuch, spielte sich so oder ähnlich überall in Deutschland ab. Schon ein Jahr zuvor hatte der Münchener Anarchist und Dichter Erich Mühsam in seinem Diarium vermerkt:
    "Allenthalben hört man über die Einschränkung des Brotkonsums klagen, der natürlich für arme, kinderreiche Familien – zumal bei der überall empfindlich einsetzenden Teuerung – am härtesten fühlbar ist. Es scheint mir sicher, dass trotz aller Beschönigungen und Beschwichtigungen in wenigen Monaten schon sich die Teuerung zur Hungersnot ausgewachsen haben wird."
    Eine durchaus realistische Einschätzung. Am 16. Juni 1916 etwa notierte der Kieler Realschullehrer Hugo Stange in seinem Tagebuch:
    "Gestern hatten wir denn auch hier in Kiel einen sogenannten Brot- und Kartoffelkrawall. Die Arbeiter der Germaniawerft stellten die Arbeit ein und rückten nun mit ihren Weibern und halbwüchsigen Burschen in Kiel ein, fanden hier reichlich Anhänger und gingen mit dem üblichen Lärm in die Brotläden, wo man, um größeres Unheil zu verhüten, der wütenden Menge die vorhandenen Vorräte preisgab."
    Oft wurden die Schlangen vor Lebensmittelläden – im Volksmund auch "Lebensmittel-Polonaisen" genannt – zu wahren Nestern des Protestes: Die Menge griff nicht allein, wie in Schneidemühl, Polizisten an, sondern plünderte auch Lebensmittellager oder stürmte Rathäuser.
    Eine rasch nach Kriegsbeginn ergriffene Möglichkeit, den bald grassierenden Mangel in allen Lebensbereichen, vor allem aber bei den Grundnahrungsmitteln, wenn nicht zu beseitigen, so doch abzumildern, bestand in deren Rationierung und ihrer amtlich kontrollierten Zuteilung. Die Einführung der Brotkarte ab dem 25. Januar 1915, gemeinsam mit der Beschlagnahme der Getreidebestände, bildete dafür nur den Auftakt. Auf die Brotkarte folgte im November des Jahres die Milchkarte und im August 1916 die "Reichsfleischkarte". Auch Kartoffeln, neben Brot traditionell das Hauptnahrungsmittel der Deutschen, waren ab Frühjahr 1916 nur noch gegen Karte zu bekommen, wobei die Abgabemengen jeweils von den kommunalen Behörden festgelegt wurden. Hinzu kamen bald zahlreiche Gebrauchsgüter wie Seife und Textilien, die es auf Bezugsschein gab, wenn überhaupt.
    "Welch ein Mysterium des Wandels liegt in den Brotkarten!"
    Der Literaturwissenschaftler Friedrich Gundolf, der sich Anfang März 1915 in einem Brief zu diesem Ausruf inspiriert fühlte, hatte schon recht: Ein "Wandel" war es in der Tat, allerdings radikaler und zerstörerischer als es sich die meisten Deutschen vorzustellen vermochten. Wiederum Jo Mihaly beschrieb die sofort einsetzende, einschneidende Veränderung im Alltag der Deutschen:
    "In der Stadt wird kein Brot mehr ohne sogenannte 'Brotkarte' verkauft. Die Brotkarte wird alle 14 Tage in verschiedener Farbe und mit verschiedenen Nummern herausgebracht und von der 'Städtischen Brotkommission' an die einzelnen Haushalte verteilt. Auf jede Brotkarte kann man zwei Brote und für 60 Pfennig Semmeln kaufen. Mit zwei Broten und zwanzig Dreipfennig-Semmeln muss man pro Person vierzehn Tage auskommen."
    Und das war nur der Anfang. Neben der Angst um die Angehörigen an der Front, der Verstörung angesichts der Verkrüppelten in den Straßen, der Trauer um die gefallenen Ehemänner, Väter, Brüder und Söhne wurde der Hunger zur schlimmsten Geißel. Ihr und ihren Folgen fielen am Ende, – verursacht durch die alliierte Seeblockade und verstärkt durch die Unfähigkeit, den Mangel zu verwalten – über 700.000 Menschen allein in Deutschland zum Opfer.