Mord auf Bestellung

Von Peter B. Schumann · 02.09.2009
Mexiko ist zu einem der gefährlichsten Länder weltweit für die Vertreter der Medien geworden. Die Formen der Verfolgung reichen von Drohanrufen über Drohbriefe und -mails, bis zur Ermordung einzelner Reporter.
"Heute Vormittag wurde Armando Chavarría von Unbekannten in seinem Auto ermordet. Der Parlamentspräsident des Staates Guerrero wurde vor seinem Haus von zwei Schüssen in den Kopf und in den Bauch getroffen. Chavarría war einer der wichtigsten Vertreter der PRD und als Kandidat dieser Linkspartei für den Posten des Gouverneurs bei den Wahlen 2011 vorgesehen."

Es ist erst zwei Wochen her, dass Armando Chavarría umgebracht wurde, in diesem Jahr das prominenteste Opfer der unendlichen Welle der Gewalt, die Mexiko seit langem heimsucht. Keiner weiß, wer ihn erschossen hat, und man wird es wohl auch nie in Erfahrung bringen, denn nur selten werden solche Verbrechen geahndet. 2009 wurden bereits 25 Mitglieder der oppositionellen PRD, der Partei der Demokratischen Revolution, ermordet, 20 von ihnen allein im Bundesstaat Guerrero.

Er liegt südwestlich von Mexiko-Stadt an der Pazifikküste und gehört zu jenen Gebieten, die die Drogenmafia weitgehend kontrolliert. Deshalb liegt der Verdacht nahe, dass sie hinter diesen Morden steht. Ihre Kartelle sind ein Sammelbecken für jede Sorte von Verbrechern, aber auch für Ex-Polizisten, Ex-Militärs und für Leute ohne Berufschancen, die hier das schnelle Geld vermuten und oft nur den Tod finden.

Die Mafia ist der brutalste Gewalttäter in Mexiko. Von hier aus versorgt sie den riesigen Drogenmarkt in den USA vor allem mit Kokain und Heroin, aber auch mit synthetischen Drogen und beschafft sich von dort die Waffen für ihre Kapitalverbrechen: für Entführung, Menschenhandel, Geldwäsche, Prostitution und Mord. Auf ihr Konto gingen im letzten Jahr insgesamt 5.630 Opfer, doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Staatspräsident Calderón hatte der Mafia bei seinem Amtsantritt im Dezember 2006 den Kampf angesagt:

"Die Kriminellen wollen mit ihrem immensen Waffenarsenal die Macht über ganze Landstriche, Städte oder Regionen ausüben. Deshalb müssen wir Strategien entwickeln, die es uns erlauben, die Kontrolle über die von den Gangsterbanden verheerten Bereiche zurückzugewinnen."

Sein Rezept: die Mobilisierung der Streitkräfte. Denn der Polizei traut niemand mehr in Mexiko. Sie ist zutiefst korrupt, von der Mafia unterwandert und oft sogar von ihr gekauft. Selbst Präsident Calderón bekannte bei einer Sicherheitskonferenz im letzten Jahr:

"Wir müssen die Kriminalität beenden und sie zunächst aus unserem eigenen Haus vertreiben und dann eine neue Generation von Polizisten mit einer neuer Ethik schaffen. Polizisten, die die Bürger und nicht die Verbrecher schützen, die die Kriminalität bekämpfen und sich nicht daran beteiligen oder sie vorsätzlich ignorieren."

Tatsächlich hat die Regierung Calderón Hunderte von Polizisten und Kommissaren entlassen und Tausende zu Schulungen geschickt. Aber das statt der Polizei operierende Militär stellte sehr bald ein neues Problem dar. Die Streitkräfte, die die Gewalt bekämpfen sollten, wurden selbst zu Gewalttätern. Javier Corral, Vorsitzender der Mexikanischen Vereinigung für das Recht auf Information in Mexiko-Stadt:

"Wir gehen von Niederlage zu Niederlage und von Machtmissbrauch zu Machtmissbrauch. Die Militärs sind nicht gerade zimperlich im Umgang mit den Menschenrechten. Jetzt erfüllen sie eine Aufgabe, für die sie nicht ausgebildet sind, und geraten dabei immer öfter in Versuchung, das politische Mandat, das sie bei der Bekämpfung der Kriminalität innehaben, zu missbrauchen. Man hat sie auf die Straße geschickt: doch wie kriegt man sie jetzt wieder in die Kaserne?"

Rückzug gibt es für die Regierung nicht. Aber hat das Heer der neuen Ordnungskräfte, nahezu 50.000 schwer bewaffnete Soldaten und Bundespolizisten, überhaupt eine Chance? Denn die sieben Drogenkartelle sollen über mehr als 100.000 Mann verfügen und beherrschen weite Gebiete an der Golfküste und im Norden, an der Grenze zu den USA. Ihre Morde sind oft von unvorstellbarer Brutalität. Immer wieder richten sie ihre Opfer hin und enthaupten viele sogar. Am selben Tag, als der Parlamentspräsident von Guerrero erschossen wurde, entdeckte man in der Nähe einen mobilen Eisschrank mit drei menschlichen Köpfen und einem Beutel voller Körperteile.

Oft sind die Toten Angehörige einer Drogenbande, die von ihren Rivalen exekutiert wurden. Doch in der letzten Zeit findet man immer öfter auch Leichen von Journalisten am Straßenrand oder in einem Abwasserkanal – wie am 23. Mai dieses Jahres. Es war der Körper von Eliseo Barrón, Polizeireporter in der Millionenstadt Torreón im Norden des Landes. Dokumente über diesen Fall wie über alle anderen Journalisten-Morde werden unter anderem vom mexikanischen Büro der Reporter ohne Grenzen gesammelt. Es liegt an einem Verkehrsknotenpunkt von Mexiko-Stadt und wird von einer zierlichen Frau Anfang 30 geleitet: Belbina Flores. Erstaunlich gelassen gibt sie Auskunft.

"Am Tag zuvor war eine Gruppe bewaffneter Kapuzenmänner in seine Wohnung eingedrungen, hatte ihn zunächst in Anwesenheit seiner Familie gefoltert und dann verschleppt. Anderntags entdeckte jemand die Leiche. Sie hatten ihn mit Kopfschüssen ermordet. Am Tag seiner Beerdigung tauchten an verschiedenen Brücken Spruchbänder, sogenannte Narco-Sprüche, auf. Sie warnten alle Journalisten davor, gegen sie zu operieren, denn dann würde ihnen ähnliches zustoßen… Solche Hinweise hat es mehrfach auch in anderen Bundesländern gegeben. Sie sollen Terror unter den Journalisten verbreiten und zu einer Psychose in den Redaktionen führen."

Viele Zeitungen verzichten inzwischen darauf, Artikel oder Fotos namentlich zu kennzeichnen, und kleinere Blätter haben sich sogar entschieden, überhaupt nicht mehr über das organisierte Verbrechen zu berichten. Manchmal ist es jedoch schwer festzustellen, welche Seite Terror verbreitet, denn die Grenzen zwischen der Mafia und den Mafia-Bekämpfern sind oft fließend.

"Wir wissen, dass Eliseo Barrón einige Tage zuvor sensible Informationen über 300 Polizisten erhalten hat, die in Torreón wegen Korruption und Komplizenschaft mit der Mafia entlassen werden sollten. Er war ein Spezialist, der sich bereits seit elf Jahren mit Themen der öffentlichen Sicherheit beschäftigte, einer unserer besten Polizeireporter, der sehr gut Bescheid wusste… Es liegt also nahe, dass die Mörder aus diesem Umfeld kamen. Allerdings erschienen anderntags die 'Narco-Sprüche', und viele Medien hielten dies für einen klaren Hinweis auf das organisierte Verbrechen."

Seit der Erschießung von Eliseo Barrón, seit Ende Mai wurden drei weitere Journalisten umgebracht. Die Zahl der ermordeten Pressevertreter hat sich damit seit 2000 auf 54 erhöht. Mexiko gilt heute als eines jener Länder, in denen Journalisten besonders gefährdet sind. Denn selbst von staatlicher Seite droht ihnen ständig Gefahr. Belbina Flores:

"Einer der Hauptverantwortlichen sind die Sicherheitskräfte: die Gemeindepolizei, die Kriminalpolizei, die Schutzpolizei, die Armee. In den letzten beiden Jahren wurden ihre Operationen gegen die Drogenmafia massiv ausgeweitet. Gleichzeitig nahmen die verbalen und körperlichen Aggressionen auf Kameraleute und Fotoreporter zu. Die Sicherheitskräfte erschweren zunehmend die Arbeit der Journalisten."

Gegen solche Übergriffe unternimmt die Regierung nur selten etwas. Kaum einer der Journalisten-Morde wurde aufgeklärt. Die Straflosigkeit ist seit langem ein weiteres zentrales Problem Mexikos. Es gehört zu den ständigen Themen, mit denen sich Carmen Aristegui beschäftigt, eine der engagiertesten Journalistinnen des Landes. Die dynamische Frau mit dem blonden Kurzhaarschnitt moderiert von Montag bis Freitag jeden Morgen das vielgehörte Rundfunkprogramm des Privatsenders MVS und jeden Abend den Interview-Block von "CNN auf spanisch". Er wird aus dem Hotel Vier Jahreszeiten im Stadtzentrum ausgestrahlt. Carmen Aristegui:

"Mexiko lebt in einer Staatskrise. Die Justiz ist kollabiert: Von 100 Delikten wird kaum ein Prozent angemessen abgeurteilt. Das ist erschreckend und geradezu eine Einladung, Straftaten zu begehen. Statt der Gewalt erstmal durch Strukturreformen im Staatsapparat zu begegnen, schickte Felipe Calderón das Militär auf die Straße. Er glaubte wohl, den eigenen Mangel an Legitimität infolge des äußerst umstrittenen Wahlergebnisses von 2006 dadurch ausgleichen zu können, dass er den Kampf gegen den Drogenhandel zum zentralen Thema seiner Regierung machte."

Präsident Calderón konnte zwar dem organisierten Verbrechen eine ganze Reihe von schweren Schlägen versetzen und mehrere seiner Bosse verhaften lassen. Aber die Zahl der Morde in den ersten acht Monaten dieses Jahres übersteigt bereits bei weitem die Gesamtzahl von 2008. Trotzdem lassen sich viele Journalisten nicht davon abhalten, deren Brutalitäten darzustellen wie beispielsweise das Enthaupten der Opfer. In seinem Buch Mann ohne Kopf, das in diesem Jahr erschienen ist, hat der Schriftsteller und Kulturkritiker Sergio González Rodríguez dieses schauerliche Kapitel dargestellt:

"Köpfen ist eine Taktik, um Angst zu verbreiten, eine Atmosphäre der Panik hervorzurufen. Und zwar nicht nur bei den Gegnern, der Polizei oder der Regierung, sondern in der gesamten Gesellschaft. Furcht bewirkt oft Immobilität und Indifferenz, manchmal auch Aggression. Und das Schlimmste: diese Akte der Gewalt bleiben ungestraft."

Sergio González Rodríguez, ein Mittvierziger mit indigenen Vorfahren, war sich der Folgen einer solchen Veröffentlichung bewusst. Er hatte bereits ein Buch über die unzähligen Morde an Frauen publiziert, die in der Stadt Juárez, dem gewalttätigsten Ort Mexikos an der Grenze zu den USA seit Jahren für Schlagzeilen sorgen. Sein Titel: Knochen in der Wüste.

"Ich hatte schon am Anfang meiner Recherchen ziemliche Schwierigkeiten. Dann haben sie mich sogar entführt und mit Schlägen gefoltert, wollten mich aber noch nicht töten. Also habe ich erstmal in einem Krankenhaus überlebt, schließlich weiter recherchiert und 2002 dieses Buch herausgebracht. Danach begannen die Morddrohungen, denn ich enthülle darin die Beziehungen von Politikern und Polizeichefs zu Mördern, Entführern und Vergewaltigern. Ein gefährliches Thema für jeden, der es aufgreift. Alle meine Kollegen haben Ähnliches erlebt wie ich."

Die Folterungen haben bei ihm bleibende physische und psychische Schäden verursacht: er hinkt seither, gibt auch nur ungern darüber Auskunft und ist äußerst misstrauisch gegenüber Anrufern, die um ein Interview bitten und die er nicht sofort identifizieren kann.

"Jetzt erlebe ich die gleiche Geschichte wieder, seit mein Buch Mann ohne Kopf im Frühjahr erschienen ist: ständige Drohungen und systematische Einschüchterungsversuche per Telefon, per E-Mail und per Brief. Das hängt mit der Korruption unserer Institutionen zusammen, ihrer Komplizenschaft mit dem organisierten Verbrechen… Denn man verfolgt uns sogar mit Strafverfahren aufgrund falscher Anklagen. Drei solcher Prozesse wurden gegen mich angestrengt, aber von den jeweiligen Richtern mangels Beweise niedergeschlagen."

Trotz der hohen Risiken versuchen Journalisten wie Sergio González Rodríguez die Verbrechen in ihrem Land aufzuklären, vor denen die Justiz meist die Augen verschließt. Die Mafia reagiert mit immer neuen Attacken. Anfangs hat sie die Reporter verfolgt und bedroht. In den letzten zwei Jahren lässt sie immer häufiger auch die Redaktionen von Zeitungen überfallen und sogar Fernsehstationen angreifen – wie Anfang des Jahres den Lokalsender des TV-Konzerns Televisa im Industriezentrum Monterrey, im Nordosten Mexikos.

"Heute Abend hat ein maskiertes Kommando eine Granate und Schüsse auf die Installationen von Televisa Monterrey abgefeuert und leichte Schäden am Gebäude verursacht. Das Attentat fand gegen 20:35 statt. Die Verbrecher hinterließen ein Schild, auf dem stand: 'Macht gefälligst Sendungen über uns und die Narco-Führer. Das ist ein dringender Hinweis!' … Die mexikanische Armee hat den Ort weiträumig abgesperrt und Schutzmaßnahmen für die anderen beiden lokalen Fernsehsender getroffen. Dies ist der erste Anschlag auf die Medien im Staat Nuevo León."

Diesmal wurden sogar drei Typen gefasst, die das Attentat verübt haben sollen. Vor kurzem wurde schon wieder eine Tageszeitung von einer Bande Bewaffneter beschossen: El Siglo de Torreón. Wie bei anderen Anschlägen gab es auch diesmal geringen Sachschaden. Die Attacke galt nur der Einschüchterung der Presse, war bloß eine der vielen täglichen Warnungen. Angesichts dieser Situation ziehen es viele Journalisten vor zu schweigen oder werden von ihren Redaktionen in andere Ressorts versetzt oder müssen eine Zeitlang im Ausland arbeiten, weil sie in Mexiko ihres Lebens nicht mehr sicher sind. Denn die Aggressionen kommen von allen Seiten. Die Journalistin Carmen Aristegui:

"Die Drohungen gegen Journalisten gehen von der Drogenmafia aus oder vom organisierten Verbrechen, das noch weitere 24 Straftaten umfasst. Doch sie können auch von politischer Seite stammen, die nicht selten mit der Delinquenz verbunden ist, oder direkte Aktionen von lokalen Drogenbossen sein, es gibt hier kein Aggressions-Monopol. Allerdings ist die mexikanische Presse auch sehr schwach und leicht verletzbar. Sie steht zwischen zwei Extremen: der Konzentration im Bereich der Medien, unter der Pluralität und Kritik schwer leiden, sowie der direkten physischen Aggression. Zwischen diesen beiden Polen gerät die Meinungsfreiheit zu einem Wunschbild."

Noch gibt es zahlreiche Journalisten in Mexiko, die sich für ihre Rechte und gegen die Gewalt engagieren. Doch die Zahl der Resignierten steigt mit der Zahl der Toten. Belinda Flores von Reporter ohne Grenzen:

"Auf dem Spitzenplatz, den Kolumbien vor vielen Jahren in der Statistik der Aggressionen gegen Journalisten eingenommen hat, befindet sich heute Mexiko. Das sollte der Regierung zu denken geben. Es sollte aber auch die mexikanische Gesellschaft mobilisieren, damit sie Druck auf die staatlichen Autoritäten ausübt. Denn wenn die Pressefreiheit schwindet, dann ist auch die Demokratie in Gefahr."