Monumentale Benjamin-Studie

11.01.2010
Als der 1944 geborene Jean-Michel Palmier 1998 verstarb, hinterließ er eine Walter Benjamin gewidmete Studie, die 2006 erschien. Die Zeitschrift "Libération" sprach von einem "außergewöhnlichen Buch, nach dem man Benjamin nicht mehr lesen kann wie zuvor." Nun liegt sie in deutscher Übersetzung vor.
Nun legt, zehn Jahre nach dem Tod Palmiers, der Suhrkamp Verlag die "monumentale Studie" in deutscher Übersetzung vor, die als "schlicht der Schlüssel" bezeichnet wird, der "zum Verständnis dieses enigmatischen Autors" beiträgt.

Auf diesen umfangreichen "Essay", wie ihn der Herausgeber Florent Perrier bezeichnet, trifft zwar die Bezeichnung "monumental" zu – er umfasst immerhin mehr als 1300 Seiten –, aber um "den Schlüssel" zu Benjamins Werk handelt es sich nicht. Als Palmiers Fragment gebliebener "Essay" in Frankreich erschien, war er, so tragisch es klingt, in Teilen bereits veraltet. Es war Jean-Michel Palmier nicht mehr vergönnt, seine umfangreichen Studien zu Benjamin in eine für den Druck vorgesehene Fassung zu bringen, wovon man aber erst in den Anmerkungen des Herausgebers auf Seite 1205 erfährt. Von den fünf Hauptteilen des Buches hatten nur die ersten drei und der Anfang des vierten Teils "annähernd die Gestalt" angenommen, die sich Palmier für die "Endfassung gewünscht hatte".

Wir haben es also mit einem Torso zu tun. Gerade im ersten Teil "Zwischen zwei Apokalypsen: Die Tragödie eines deutsch-jüdischen Intellektuellen" wird dies offensichtlich, denn Erläuterungen, die man erwartet, spart der Autor in dem knapp 600 Seiten umfassenden Kapitel aus, um sie in den folgenden Kapiteln nachzureichen.

Geschuldet ist dies der Gliederung des Buches, das im ersten Teil stark biographisch und in den folgenden Teilen eher werk- und themenerläuternd angelegt ist. Das führt einerseits zu Leerstellen, andererseits zu Wiederholungen, die es erschweren, sich auf diese Studie einzulassen. Bestechend hingegen ist Palmier, wenn er Werkmotive beschreibt oder bestimmte Konstellationen erläutert, wie beispielsweise die Bedeutung von Georg Lukács' "Geschichte und Klassenbewußtsein" für Benjamins politische Entwicklung.

Unklar bleibt, bis zu welchem Zeitpunkt Palmier die Benjamin-Forschung zur Kenntnis nehmen konnte. Er geht kaum auf sie ein und da die im Anhang ausgewiesene Literaturliste auch solche Werke der Sekundärliteratur aufführt, die nach Palmiers Tod erschienen sind, ist nicht eindeutig auszumachen, bis wann er sie verfolgen konnte. Ebenso wenig lässt sich genau sagen, bis wann und mit welchen Unterbrechungen er an dem Manuskript gearbeitet hat. Palmier zieht in seinem Essay häufig Gershom Scholems Buch "Walter Benjamin – Die Geschichte einer Freundschaft" zu Rate. Das ist legitim. Da Scholem aber kein Freund Bertolt Brechts war, mit dem Benjamin aber eine intensive Freundschaft verband, geraten die Freundschaftsbilder in eine Schieflage, denn zu Brecht findet sich vergleichsweise wenig. Das Buch von Erdmut Wizisla, das diesen Aspekt untersucht, "Benjamin und Brecht. Die Geschichte einer Freundschaft", erschien 2004, also nach Palmiers Tod. Dies ist nur ein Beispiel, an dem sich zeigt, was zu Walter Benjamin seit dem viel zu frühen Tod von Jean-Michel Palmier geforscht wurde. Deutlich wird daran aber auch, warum dieses Buch beim besten Willen kein "Standardwerk" sein kann, wie es der Verlagsprospekt ankündigt.

Der Herausgeber Florent Perrier, der keinen "Verrat" an Jean-Michel Palmier üben wollte, stellt dem Buch ein 62-seitiges, äußerst ambitioniertes Vorwort voran. Er wäre besser beraten gewesen, sich in den Dienst seines Autors zu stellen und zu kommentieren, wo Kommentare angebracht sind, und zu ergänzen, wo Ergänzungen unumgänglich und notwendig gewesen wären. Ist nicht diese nun vorliegende Ausgabe, in der entscheidende Aspekte der Benjamin Forschung unberücksichtigt bleiben, in gewisser Weise nicht doch in gewisser Weise "Verrat" an Palmiers Lebenswerk?

Besprochen von Michael Opitz

Jean-Michel Palmier, Walter Benjamin. Lumpensammler, Engel und bucklicht Männlein. Ästhetik und Politik bei Walter Benjamin
Hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Florent Perrier
Aus dem Französischen übersetzt von Horst Brühmann
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009
1372 Seiten, 64 Euro