Monstrum von einem Roman

10.12.2008
Das Opus magnum der vor knapp drei Jahren mit 83 Jahren verstorbenen Wienerin Inge Merkel liegt endlich wieder vor. Darin unterhalten sich drei Intellektuelle über Sinnlichkeit und Glaubensfreiheit und die Gefährlichkeit unaufgeklärter Massen: ein wahnwitziges und hochaktuelles Buch.
Dies ist schon ein sehr sonderbares und ungemein wahnwitziges Buch. Man kennt ja selten den Grund der Zerstreuungen, denen die Menschen frönen, sicher haben sie oft mit Manien und Obsessionen zu tun. Hier in diesem Buch ist es jedenfalls überdeutlich, es wird uns schon im Untertitel unter die Nase gerieben: In ihrem dicken, schweren Roman "Das große Spektakel" ist es Inge Merkel bitterernst, und gleichzeitig scheint sie ein diebisches Vergnügen daran zu haben, uns zu verwirren und sich selbst zu unterhalten. Um das zu erklären, muss man sie kurz vorstellen.

Inge Merkel wurde 1922 in Wien geboren, sie hat dort Klassische Philologie, Geschichte und Germanistik studiert und noch 1944, Monate vor dem sowjetischen Einmarsch in Wien, ihren Doktor gemacht. An der Uni Wien lehrte sie lange bei den Altphilologen, später war sie bis zu ihrer Pension Gymnasiallehrerin für Latein. Sie lebte immer in Wien, sterben wollte sie dort offenbar nicht: Ein Jahr vor ihrem Tod im Januar 2006 ging sie zu ihrer Tochter und den Enkelkindern nach Mexiko, sie wurde 83 Jahre alt.

Die Erfahrung und die Bildung eines langen Lebens gehen in ihr Werk ein, sie debütierte nämlich erst mit knapp 60 Jahren, 1982 erschien ihr Erstling, der Briefroman "Das andere Gesicht", für den sie den Aspekte-Literaturpreis für das beste deutschsprachige Debüt erhielt. Es folgten sechs Romane, darunter 1990 ihr Opus magnum "Das große Spektakel".

Nun liegt es, nachdem es längst vergriffen war, wieder vor – aus gutem Grund: Es ist ein eben bitterernstes und gleichzeitig ungeheuer amüsantes Plädoyer für die Glaubensfreiheit, für eine sinnliche, pralle, barocke Lebensführung und eine Warnung vor der Gefährlichkeit unaufgeklärter & ungebildeter Massen; eigentlich ist das Buch heute aktueller als vor 18 Jahren.

Das Pralle und das Freie schlägt sich beides in einer zügellosen, überbordenden Sprache nieder, die ihresgleichen sucht und "von zartesten Wortbildern und feingedrechselten Perioden zu den saloppesten Wendungen, den krassesten Kraftausdrücken reicht", wie eine begeisterte Hilde Spiel damals zu Merkels Roman "Die letzte Posaune" anmerkte. Schon gleich am Anfang werden wir dringend davor gewarnt (wie sähe eigentlich die Strafe aus, fragen wir uns), "gelehrte Partien auszulassen oder nur zu überfliegen" oder gar das lange Vorwort (160 Seiten!) schnöde zu überschlagen.

Drei Personen führen in diesem Monstrum von einem Roman ein unendliches Gespräch: eine katholische Frau Doktor (Ich-Erzählerin und Alter Ego der Autorin), ein jüdischer Historiker Singer und ein Benediktiner Thugut; die beiden Erstgenannten traten auch schon in ihrem Debüt auf. Inge Merkel hält sich nicht mit Kleinigkeiten auf, ihre Personen erzählen die Geschichte des Abendlandes von seinen antiken Ursprüngen bis heute. Auftraggeber ist ein amerikanischer Provinzort, der es gern unterhaltsam haben möchte, weshalb die Frau Doktor, weil Singer nur seriös arbeiten kann, mit den sogenannten "Windeiern" einspringen muss, in denen sie die trockene Geistesgeschichte als gefühliges Actiondrama erzählt.

Das Nachwort des Schriftstellers Ernst-Wilhelm Händler stellt die Autorin knapp vor, verschafft einen ersten willkommenen Überblick über den Roman, ist in seinem Kern aber auch ein bisschen banal.

Rezensiert von Peter Urban-Halle

Inge Merkel: Das große Spektakel. Eine todernste Geschichte, von Windeiern aufgelockert
Roman. Nachwort von Ernst-Wilhelm Händler
Manesse Verlag, Zürich/München 2008
768 Seiten, 24,90 Euro