Molly Brodak: "Als ich 13 war, überfiel mein Vater seine erste Bank"

Mein Papa, der Gangster

Blinklichter eins Polizeifahrzeuges
Blinklichter eins Polizeifahrzeuges in den USA. © imago/Westend61
Von Beate Ziegs · 20.08.2016
Ihr Vater führte ein Doppelleben – als Familienmensch, der bei General Motors in Detroit arbeitete, und als Bankräuber. Molly Brodak spürt in ihrem poetischen Buch seinem Geheimnis nach und verwebt ihre privaten Erinnerungen mit Ereignissen der Weltgeschichte.
Es ist der Sommer 1994. Joseph Brodak arbeitet bei General Motors in Detroit. Nebenbei verzockt er sein Geld bei Sportwetten und überfällt insgesamt elf Banken, um seine Frau und zwei Töchter zu ernähren. Vor allem aber um weiterzocken zu können. Er wird geschnappt und zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt.
Danach führt er jahrelang ein nach außen hin normales Leben mit einem Job erneut bei General Motors, einem kleinen Haus mit Garten. Macht Urlaub mit der Familie in Peru. Aber im Geheimen spielt er wieder, häuft horrende Schulden an, überfällt 2009 mal wieder eine Bank, wird auf frischer Tat ertappt und zu zehn Jahren Haft verurteilt.
"Sehen Sie, das ist es schon. Damit haben wir bereits die Fakten. Die Fakten kann man leicht erzählen; das tu ich ständig. Sie haben mit mir nichts zu schaffen. Sie verbergen das Problem wie ein Deckel. Um die Fakten geht es nicht."

Dass ihr Vater lügt, sieht sie ihm schon als Kind an

Stattdessen will Tochter Molly Brodak ein Vakuum füllen, das sich auftut, sobald die Fakten erzählt sind. Es geht um das geheime Leben, das ihr Vater führte, um die andere Seite, auf die er wechselte, wenn er das Haus verließ.
"Niemand sah ihn spielen, niemand wurde aufgefordert (..,), ihm auch nur Glück zu wünschen. Es war alles total geheim. (…) Mom erfuhr von seiner Spielerei nur durch seine gigantischen Verluste: ein abgeräumtes Sparbuch, das Auto plötzlich weg, Rechnungen und Schulden, Drohanrufe. Manchmal kam er mit gebrochenen Rippen nach Hause oder einer gebrochenen Nase, und es wurde kein Wort darüber verloren."
Noch unerträglicher als das Schweigen und Verschweigen ist für die junge Molly das Lügen. Dass ihr Vater lügt, sieht sie ihm schon als Kind an.
"Seine Augenpartie veränderte sich, während er sprach, es war wie eine Trübung oder Farbveränderung. (…) Zwischen uns war eine Schranke der Peinlichkeit, die er nicht überquerte."
Die inzwischen erwachsene Tochter aber versucht nicht nur diese Schranke zu überwinden, sie bringt, indem sie über ihn schreibt, sogar zunehmend Verständnis für ihren Vater auf:
"Ich bezweifle keinen Moment lang, dass er seine Lügen, wenn sie erst einmal stehen, unbedingt glaubt. Sie sind gut durchdacht. Sie ordnen die Welt."

"In Familien lebt jeder allein"

Es ist eine Welt am Abgrund. Da ist Molly Brodaks ältere Schwester, die sich verzweifelt an die Illusion klammert, vom Vater geliebt zu werden, auch wenn dieser sie beklaut. Da ist die Mutter, die als Kind von ihrem Bruder sexuell missbraucht wurde, immer wieder manisch-depressive Phasen durchlebt und lange braucht, bis sie sich endlich von ihrem Mann lösen kann.
Und da ist Molly Brodak selbst, die sich schon als Kind – ganz wie ihr Vater – in sich zurückzieht, sich kleinmacht, am liebsten ein blinder Fleck wäre, den niemand beachtet. Während ihres Studiums wird sie eine Zeit lang Edelklamotten stehlen und im Internet verticken. Ohne jemals erwischt zu werden, wird sie von jetzt auf gleich damit aufhören. Sie wird ein Magengeschwür entwickeln, und ihr wird ein Tumor aus dem Gehirn operiert werden.
"Vielleicht sind private Welten die einzigen, die existieren. (…) In Familien lebt jeder allein. Jeder stürzt sich allein ins Handeln, in die Liebe, in die Arbeit."

Gegoren 1945 in einem Lager für Displaced Persons

Aber Molly Brodak schildert nicht nur die zerrüttete Kleinfamilie. Sie verwebt die Suche nach der Quelle all der privaten Lügen ihres Vaters mit der Geschichte, wie sie sich im Großen zugetragen hat.
Eine Gruppe Displaced Persons in einem Lager in Wiesbaden.
Eine Gruppe Displaced Persons in einem Lager in Wiesbaden. © picture-alliance / dpa / Dena US Signal Corps Photo
So erfährt der Leser nahezu beiläufig, dass Vater Brodak 1945 in einem Lager für Displaced Persons geboren wurde. Im Jahr davor waren seine Eltern mit ihren fünf Kindern von den Nazis aus dem polnischen Szwajcaria deportiert worden. Die Mutter trug ihr sechstes Kind heimlich aus, während sie Zwangsarbeit leistete.
Und dieses sechste war Mollys Vater. 1951 ermöglichte eine katholische Organisation die Überfahrt in die USA. Die Familie zog nach Detroit. Als werde er an die Hand genommen, begleitet der Leser Molly Brodak bei ihren Recherchen, klettert zum Beispiel mit ihr in einer Ruine herum, in der sich einst das Auffanglager für die polnischen Flüchtlinge befand.
"Mir stand tatsächlich der Mund offen, und es kamen mir die Tränen. Die abblätternden Farben und das Licht im Raum, der Blumenvorhang und die Dunkelheit, der zusammengekehrte Gipsstaub, das gute Holz, die reglose Luft. Es war wunderschön. Auf eine Weise, die meine tiefsten, ältesten Schichten anrührte. Es war, als bekäme ich ausnahmsweise mal etwas Wahres zu sehen."
Molly Brodak schreibt vom proletarischen Arbeitsethos des Mittleren Westens, von den Veränderungen im Viertel, als die ersten polnischen Einwanderer wohlhabend wurden und wegzogen, als immer mehr Läden dichtmachten und sich Bürgerwehren bildeten.

Kraftvoll-poetische Sprache

Eindrücklich schildert sie die Verzweiflung, die sich mit dem Zusammenbruch der Autoindustrie wie ein Krebsgeschwür über der Stadt ausbreitete. Sie besucht Spielhallen, stellt Hypothesen über den Zusammenhang zwischen Armut und Spielsucht auf und lässt sie wieder fallen, nähert sich Kapitel für Kapitel der schillernden Figur ihres Vaters an, seinen Wunden und Ängsten. Und doch:
"Ich taste mich voran zu einem schärferen Bild von ihm. Aber ich spüre nichts. Es passt alles nicht zusammen."
Anders als Mutter und Schwester will sie sich mit der desaströsen Familiengeschichte nicht abfinden, kommt aber auch an ihren Vater nicht wirklich heran. Auch nicht – oder erst recht nicht –, wenn sie ihn im Gefängnis besucht. Ohne falsche Sentimentalität legt sie offen, wie sehr er von ihr Besitz ergriffen hat – und wie sehr sie ihn besitzen möchte.
Das Vakuum zwischen den Fakten vermag Molly Brodak nicht zu füllen, wohl aber mit kraftvoll-poetischer Sprache in Worte zu fassen.
"Der Himmel in Michigan kann so bleiern grau sein wie nasser Beton, tagelang wälzen sich die Wolken dahin und reißen niemals auf. Darunter meine Heimat, in der Erde versinkend, und die Erde verdaut ihr eigenes Paradox, schweigend."

Molly Brodak: Als ich 13 war, überfiel mein Vater seine erste Bank
Aus dem Englischen von Barbara Schaden
Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2016
288 Seiten, 22,00 Euro

Mehr zum Thema