Mohammed VI. von Marokko

Der König, sein Anspruch und das Volk

23:01 Minuten
König Mohammed VI. von Marokko (v.l.n.r.) Kronprinz Moulay Hassan und Prinz Moulay Rachid warten in Rabat auf die Ankunft von Papst Franziskus.
König Mohammed VI. von Marokko (v.l.n.r.) Kronprinz Moulay Hassan und Prinz Moulay Rachid © AFP / Fadel Senna
Von Jens Borchers · 29.07.2019
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Als Mohammed VI. vor 20 Jahren König von Marokko wurde, waren die Erwartungen enorm. Heute wissen die Menschen, die seitdem von ihm regiert werden: Er hat es versucht, aber der König der Armen, als der er angetreten war, ist er nicht geworden.
"Gott gebe unserem Herrn ein langes Leben" rufen Bedienstete des Palastes und verbeugen sich tief. Das Ritual gehört zum alljährlichen Thronfest Ende Juli. Dann folgt natürlich die Nationalhymne. Der Rasen vor dem Königspalast wirkt wie mit der Nagelschere geschnitten. König Mohammed VI. steht unter einem Baldachin, traditionell gekleidet, und harrt routiniert der Zeremonie. Vor ihm aufgereiht stehen Generäle in Paradeuniform. Würdenträger in cremefarbenen marokkanischen Djellabas mit aufgesetzter Kapuze. Einige Frauen in festlichen Gewändern. Und ausländische Staatsgäste in dunklen Anzügen.
Eine und einer nach dem anderen werden sie aufgerufen. Die Marokkaner gehen auf ihren König zu, lehnen kurz den Kopf an seine Brust und versuchen möglichst, die Hand des Monarchen zu küssen. Ein Treueschwur für den machtvollen Herrscher: Staatschef, Oberkommandierender der Armee, Religionsführer der marokkanischen Muslime.

Politisch: Auswahl der Gäste fürs Thronfest

Die Gästeliste solcher Thronfeste wird im Palast gemacht. Nach welchen Kriterien – das ist nicht bekannt. Erstaunlich ist aber, wer da so alles an ausländischen Gästen aufgerufen wird:
Gianni Infantino, der Präsident des Fußballverbands FIFA beispielsweise, war im vergangenen Jahr beim Thronfest. In dem Jahr also, in dem sich das Königreich Marokko zum fünften Mal für die Ausrichtung einer Fußball-Weltmeisterschaft beworben hatte. Gästelisten des Palastes sind immer auch ein politisches Instrument.
Der Treueschwur der marokkanischen Würdenträger, das Défilé der Gäste aus dem Ausland, der pompöse Rahmen der Thronfeste, der servile Eifer, mit dem die geladenen Gäste nach einem Blick, einem Händedruck, nach einem Moment der Beachtung durch den König heischen – all das gehört zur Inszenierung der marokkanischen Monarchie.
Mohammed VI. mit Anzug und Sonnenbrille am Flughafen von Rabat bei einem Besuch des französischen Präsidenten Emmanuel Macron
Mohammed VI. ist seit 1999 König von Marokko.© picture alliance / abaca / Lionel Hahn
Und natürlich auch die Religion. Vor 20 Jahren, bei seinem Amtsantritt, hatte Mohammed VI. für seinen gerade verstorbenen Vater gebetet: "Möge Gott unserem lieben Verstorbenen Frieden und Barmherzigkeit gewähren, ihm das Paradies öffnen und ihn auf eine Ebene mit den Aufrichtigen, den Propheten, den Gläubigen, den Märtyrern und den Guten heben."
Jetzt saß der Nachfolger des Verstorbenen da vor den Augen der Nation: Er wirkte fast schüchtern, ein schmaler, ernster junger Mann, 36 Jahre alt, auf dessen Schultern jetzt die ganze Verantwortung lastete. Der neue König übernahm einen Staat mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten und krassen sozialen Unterschieden. Mohammed VI. folgte auf einen König, seinen Vater, der zwei Putschversuche überlebt hatte, dem Menschenrechte wenig und absolute Loyalität sehr viel bedeutet hatten.
Hassan II. hatte in den 38 Jahren seiner Regentschaft furchterregenden Respekt ausgestrahlt.

Aufgaben für den Thronfolger waren immens

Mustapha Sehimi, Jurist, Historiker und Publizist, verfolgt genau, was Marokkos Könige tun oder nicht tun. Auf die Frage, was er dachte, als Mohammed VI. den Thron bestieg, sagt Sehimi:
"Die Aufgabe würde schwer sein: Die marokkanische Gesellschaft ist kompliziert, es gab wirtschaftliche und soziale Probleme, er würde Reformen anpacken müssen, um den Erwartungen der Menschen gerecht zu werden. Die Aufgabe war immens."
Als Thronfolger Mohammed VI. aus dem langen Schatten seines Vaters treten muss, wussten die Marokkaner nur: Er ist jung. Er brettert gerne mit Jetskis übers Meer. Er liebt schnelle, teure Autos. Aber er hatte schon den Ruf, sehr viel nahbarer zu sein als der Vater. Und: Mohammed VI. galt als Mann, der ein Auge für die sozialen Missstände in Marokko habe.
Sehimi erlebte selbst als Professor den jungen Mohammed VI. an der Universität. Er war einer von insgesamt zwölf jungen Männern, die gemeinsam für die höchsten Ämter geformt und gedrillt wurden: "Seine Feinfühligkeit für soziale Fragen ist echt. Ich weiß das. Die Zwölfer-Gruppe war ja sechs Jahre bei uns an der Fakultät, er war also bei uns, den Juristen."
Ein Schwarz-Weiß-Foto zeigt Mohammed VI. bei seiner Thronrede.
Fast schüchtern, ein schmaler, ernster junger Mann: Mohammed VI. bei seiner Thronrede am 30. Juli 1999 © picture-alliance / dpa / AFP / Abdelhak Senna
Schnell hat der neue König zwei Spitznamen: Die Medien nennen ihn den "König der Armen", eben weil er das soziale Gefälle anspricht und etwas dagegen tun will. Im Volk nennen sie ihn M 6, eine Kurzform von Mohammed VI. Das klingt wie die Bezeichnung eines kraftvollen Autos und irgendwie war die Erwartung ja auch: Der neue König soll Vollgas geben.

Frust im Volk sitzt tief

Heute, nach 20 Jahren an der Macht, hört man Chöre der Frustration in Marokkos Fußballstadien. Wenn der Gesang der Ultras aus der Südkurve des Stadions von Raja Casablanca dröhnt – dann geht es nicht nur um Tore, Titel und Triumphe. Die Fans singen ihren Protest: "Ich werde unterdrückt in meinem Land – bei wem kann ich mich beklagen – nur beim allmächtigen Gott – er wird mein Leiden verstehen."
Und das ist nur der Anfang. Dieser Fan-Gesang ist eine Anklage: "Ihr habt die Reichtümer unseres Landes gestohlen – ihr habt sie mit Ausländern geteilt – ihr habt eine ganze Generation zerstört."
Das Video dieses Protestsongs der Fußballfans ist mehr als eine Million Mal angeklickt worden. Und etliche singen ihren Protest nicht nur – sie randalieren: Ein Mob junger Kerle zieht durch ein Stadtviertel Casablancas, zertrümmert Schaufenster, gräbt Pflastersteine aus, schleudert sie in die Windschutzscheiben geparkter Autos. Die Sicherheitskräfte haben alle Hände voll zu tun. Und sie sind nicht zimperlich.

Fußballstadien als Orte des Protests

"Ich habe mir das angeschaut, was da in den Fußballstadien passiert. Das ist besorgniserregend. Weil die Stadien zu einem sozialen Raum des Protests werden." Mustapha Sehimi beunruhigt das.
Er glaubt, dass sich da eine Mischung aus Ärger, Wut, Neid und Missgunst Bahn bricht. Ausgelöst durch die tiefen sozialen Gräben in Marokko, die nach den 20 Jahren der Regentschaft von Mohammed VI. immer noch klaffen wie Wunden. Ein Beispiel? – Mustapha Sehimi, der Jurist und Historiker, hat sofort eins parat: "Es gibt hier Milliardäre, die wir alle kennen. Die zahlen weniger Steuern als Sie und ich."
Marokkos König selbst stellt Fragen nach der sozialen Gerechtigkeit im Land. Als Mohammed VI. vor fünf Jahren seine alljährliche Thronrede hielt, gab es darin eine interessante Passage. Der König sprach von Fortschritten im Land. Von den Statistiken, die ausweisen, dass der Reichtum Marokkos gestiegen sei.
Und dann stellte Mohammed VI. die Frage: "Wo ist dieser Reichtum? Haben alle Marokkaner davon profitiert oder nur bestimmte Schichten? Es bedarf keiner tiefgehenden Analysen, um auf diese Frage zu antworten: Auch wenn Marokko spürbare Fortschritte gemacht hat – die Wirklichkeit zeigt, dass nicht alle Marokkaner von diesem Reichtum profitiert haben."
Mohammed VI. hat in den 20 Jahren seiner Regentschaft versucht, das Land zu modernisieren: Ihm verdankt Marokko den modernen Container-Hafen Tanger-Med, das Autobahn-Netz, diverse Initiativen, um Industrie anzusiedeln und Investoren aus dem Ausland anzulocken. Der König sorgte dafür, dass Marokko das größte Solar-Kraftwerk der Welt baute.
Mohammed VI. und Emmanuel Macron stehen vor einem Hochgeschwindigkeitszug.
Mohammed VI. gemeinsam mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bei der Eröffnung der Hochgeschwindigkeitszugstrecke in Tangier.© Christophe Archambault/ Pool Photo via AP
Und schließlich das jüngste Symbol marokkanischer Modernität: Auf dem eigens neu gebauten Bahnhof in der Hauptstadt Rabat werden Fanfaren für den König und den französischen Staatspräsidenten Macron geblasen. 2,3 Milliarden Euro hat die Strecke von Tanger nach Casablanca gekostet. Frankreich hat die Hälfte davon bezahlt.

Prestige-Projekte des Königs für die Reichen

Marokkos französischer TGV kann jetzt mit fast 350 Stundenkilometern zwischen den Hafenstädten hin- und herjagen. Ein Symbol der Modernität? Modellprojekt einer rasch wachsenden Wirtschaft? Professor Najib Akesbi holt tief Luft, bevor er diese Frage beantwortet. Der Wirtschaftswissenschaftler wird grundsätzlich:
"Ich kann Ihnen ganz egoistisch sagen: Ich werde vom TGV profitieren. Weil ich zu den vier oder fünf Prozent der Marokkaner gehöre, die sich die Fahrkarten leisten können. 95 Prozent - und das sind Fakten – haben ganz andere Bedürfnisse: Bildung! Gesundheit! Aber selbst wenn wir mal bei der Schienen-Infrastruktur bleiben – wussten Sie, dass Marokkos Schienennetz, bis auf wenige Kilometer, noch genauso so groß ist wie es uns die Franzosen 1956 hinterlassen haben?"
Najib Akesbi vertritt mit vielen Zahlen und ebenso viel Engagement die Ansicht, dass in Marokko grundlegende Fehlentscheidungen getroffen wurden und werden. Anstatt in Bildung, Ausbildung, Gesundheitswesen und Basis-Infrastruktur zu investieren, habe man sehr viel Geld immer wieder in Großprojekte von zweifelhaftem Nutzen gesteckt. Siehe TGV.
Vier Schülerinnen gehen in Schulkleidung auf einer Straße
Jugend in Marokko: Schülerinnen in Schulkleidung in der Stadt Agdz© picture alliance / imageBROKER / Stefan Kiefer
Nach der Unabhängigkeit von Frankreich war entschieden worden: Marokko sollte eine Marktwirtschaft werden. Aber bis heute kommen 70 Prozent aller Investitionen vom Staat, sagt Professor Akesbi. Die Importe sind doppelt so hoch wie die Exporte. Die Wirtschaft wächst nicht rasch genug, um ausreichend Arbeitsplätze zu schaffen. Der Professor sagt ganz dezidiert, wer dafür verantwortlich ist:
"Seien wir offen", sagt Najib Akesbi, "die grundsätzlichen Entscheidungen – die fehlgeschlagen sind! – hat die exekutive Monarchie getroffen!"

Das Internet verändert die Atmosphäre

Marokko hat auch eine Regierung, die aus demokratischen Wahlen hervorgeht. Aber diesen Politikern traut kaum jemand über den Weg. Die Wahlbeteiligung sinkt deshalb kontinuierlich. Und die Hoffnung, der allmächtige König werde es richten, die stieg ständig. Bisher jedenfalls. Genau das scheint sich aber zu verändern. Der Zugang zum Internet und zu den sozialen Medien hat die Verbreitung von Informationen nicht nur beschleunigt.
Viele sehen, hören und lesen, wie es in anderen Ländern aussieht. Und sie sehen den Alltag zu Hause. Vor allem für viele junge Menschen sieht dieser Alltag nicht gut aus: Nicht genug Jobs, eingeschränkte Freiheiten, ein autoritärer Staat. Najib Akesbi glaubt, dass sich die Stimmung unter den jungen Menschen im Land verändert hat:
"Seit etwa einem Jahr sind Tabus gebrochen worden. Die Sprache, die Worte, die benutzt werden – das hat sich verändert. Und wenn ich von gebrochenen Tabus rede, sprechen wir vom König. Selbst 2011, bei den Demonstrationen damals, haben sie nur die Berater des Königs kritisiert. Aber nicht den König selbst. Jetzt aber wird die Monarchie an sich in Frage gestellt."
Ein Mann reckt vor einem Demonstrationszug beide Arme in die Höhe.
Proteste in der marokkanischen Stadt Casablanca, im Juli 2018© AP Photo/ Mosa'ab Elshamy
Abdellah Aid ist 28 Jahre alt, Mitbegründer des "Forums für Modernität und Demokratie". Das Forum ist keine Partei. Es ist eine Nichtregierungsorganisation. Abdellah Aid sagt, das sei ganz bewusst so eingerichtet worden. In Parteien müsse für Alles und Jedes das Einverständnis von den Chefs kommen – das sei bei ihnen anders. Ganz bewusst. Abdellah Aid und sein Forum für Modernität und Demokratie wollen, dass Leute initiativ sind, Ideen entwickeln, eigenverantwortlich Dinge tun und kommunizieren. Denn das ist es, was nach seiner Beobachtung im marokkanischen Staat zu selten geschieht.

Großes Problem Jugendarbeitslosigkeit

Deshalb würden Probleme wie die grassierende Jugendarbeitslosigkeit nicht gelöst: "Der marokkanische Staat weiß nicht mehr, was er machen soll. Es gibt keine Strategie, keine Vision. Selbst der König hat gesagt, das marokkanische Entwicklungsmodell sei gescheitert. Er hat die politischen Parteien aufgefordert, neue Vorschläge für die Richtung unserer Entwicklung zu machen. Wenn also das alte Modell gescheitert ist und ein Neues bisher noch nicht in Sicht ist – dann gibt es gar nichts. Keine klare Strategie. Das Schlimmste ist: Es gibt kein politisches Modell."
Über diese Argumentation würden Politiker und Berater des Palastes sicherlich mit Abdellah Aid streiten. Aber so sehen es viele junge Leute in Marokko. Dass der König selbst nicht mehr von der Kritik ausgenommen wird, das sieht auch Abdellah Aid so.
"Das ist die Generation Mohammed VI. Das ist nicht mehr die Generation von Hassan II., seinem Vater. Wer nach 1999 geboren ist, kennt Hassan II. nicht aus eigenem Erleben, sie kennen nicht die Folter der damaligen Zeit. Sie haben keine Angst, sie nutzen die sozialen Netzwerke und wissen, wie es anderswo ausschaut. Und sie fragen sich, warum die Dinge hier in Marokko anders sind."
Ein junger Demonstrant trägt ein Stirnband auf dem in Arbaisch steht: "Wir sind nicht auf dem Gebiet von irgendjemandem".
Ein junger Demonstrant bei Protesten in Marokkos Hauptstadt Rabat© picture alliance / AP Photo / Mosa'ab Elshamy
In den sozialen Netzwerken wird auch nach dem Reichtum und dem wirtschaftlichen Einfluss des Königs gefragt. Die königliche Familie ist über eine Holding-Gesellschaft an vielen großen, sehr lukrativen Unternehmen beteiligt. Eine Begründung dafür lautet, der König habe durch die Beteiligungen moderne, konkurrenzfähige Unternehmen fördern wollen.

Königliche Geschäfte lösten Ängste aus

Karim Tazi, ein prominenter und reicher marokkanischer Geschäftsmann, sieht das kritischer. Dem französischen Fernsehsender France 3 sagte er: "Ich glaube, anfänglich gab es tatsächlich diese Hoffnung oder die Vorstellung, dass die Entwicklung der königlichen Unternehmens-Holding eine Lokomotive für Marokkos Wirtschaft sein könnte. Unglücklicherweise wurde aus der guten Absicht etwas Teuflisches: Die königlichen Geschäfte wurden derart dominant, dass sie Ängste auslösten."
Telekommunikation, Bauwesen, Transport, Tourismus, Bodenschätze, Lebensmittel, Handel, Bank- und Versicherungsgeschäfte – das Königshaus mischt in vielen Wirtschaftsbereichen mit. Aboubakr Jamai, früher Herausgeber einer sehr kritischen Zeitschrift in Marokko, schrieb über die königlichen Geschäfte. Jamai schilderte das in France 3 so:
"Die Milch in deinem Kaffee kam von Centrale Laitiere, damit war der König auch an Danone beteiligt. Deinen Wagen kauftest du sehr wahrscheinlich bei einem Autohaus, das der Königsfamilie gehört. Den Kredit dafür hast du vielleicht bei der Attijariwafa-Bank aufgenommen, versichert hast du ihn bei Attijariwafa-Versicherungen – und so weiter. Das bedeutet: Man kann praktisch leben, in dem man nur Produkte konsumiert, die von den Unternehmen des Königs verkauft werden."
Plakat mit dem Porträt des marokkanischen Königs Mohammed VI. an einer Straße, dahinter ist ein Haus zu sehen.
Ein Plakat für König Mohammed VI. in Tafraout im Anti-Atlas Gebirge© picture alliance / imageBROKER / Uwe Kraft
Aboubakr Jamai schildert in dem Dokumentarfilm des französischen Senders, dass seine Zeitschrift daraufhin mit Verleumdungsklagen und Geldstrafen überzogen worden sei. Sie musste schließlich eingestellt werden. Jamai zog nach Frankreich. Die Frage nach der wirtschaftlichen Potenz oder gar Dominanz der königlichen Unternehmen blieb in Marokko. Aber sie wird – wenn überhaupt – im Schutz der Anonymität in den sozialen Netzwerken diskutiert. Der Publizist Mustapha Sehimi sagt deshalb über die politische Lage in Marokko heute:
"Die politische Bipolarität besteht heute nicht mehr zwischen dem König und den Oppositionsparteien. Auch nicht mehr zwischen dem König und der Islamisten-Bewegung. Das war früher. Heute steht dem König ein digital agierender Pol gegenüber, der nicht zu kontrollieren ist. Das ist besorgniserregend."
Aus diesem digitalen Gegenpol heraus kommen Boykottaufrufe gegen Unternehmen, an denen die Herrschenden beteiligt sind. Aus diesem digitalen Gegenpol heraus wird auch die Frage nach der Verantwortung des Königshauses für die Lage in Marokko gestellt.

König kritisiert Politiker-Kaste

Der König hat in den 20 Jahren seiner Regentschaft fünf Ministerpräsidenten erlebt. Unterschiedliche Regierungs-Koalitionen. Sie alle genießen, Umfragen belegen das immer wieder, kein großes Vertrauen in der Bevölkerung.
Marokkos König äußert sich ebenfalls nicht gerade positiv über die politische Klasse seines Landes: "Wenn es positive Ergebnisse gibt, drängen sich die Politiker, Parteien und Verantwortliche in den Vordergrund. Weil sie politisch und medial davon profitieren wollen. Aber wenn die Dinge nicht so laufen wie geplant, dann versteckt man sich hinter dem Palast und macht ihn verantwortlich."
Es gibt konkrete Beispiele dafür. Vor zwei Jahren entwickelte sich im Norden Marokkos, im Rif-Gebirge, eine massive Protestbewegung. Sie prangert soziale Ungleichheiten an. Sie beschwert sich darüber, dass vom König höchstpersönlich initiierte Infrastrukturprojekte nicht vom Fleck kommen. Sie wollen eine Universität, eine bessere Krankenversorgung, sie wollen Arbeit. Vieles davon bekamen sie nicht, trotz des königlichen Master-Plans. Deshalb die wochenlangen Proteste.
Regierung und Palast reagierten zwiespältig: Der Protest wurde unter massivem Polizeieinsatz und zahlreichen Verhaftungen eingedämmt. Einer der Führer der Protestbewegung aus dem Norden Marokkos wurde in diesem Sommer zu 20 Jahren Haft verurteilt. König Mohammed VI. feuerte etliche Minister und Spitzenbeamte, weil sie seiner Ansicht nach ihren Job nicht gemacht haben.
Viele junge Leute fragen sich, warum ihr Protest niedergeschlagen wurde. Warum Demonstranten teilweise hart bestraft werden, obwohl eine Untersuchung des Rechnungshofes zeigt, dass sie inhaltlich in den meisten Punkten völlig recht haben?
In den sozialen Netzwerken werden solche Fragen häufig, heftig und hart formuliert. Dort wird auch nach der Rolle und der Verantwortung des Königs gefragt. Mustapha Sehimi, der Jurist und Historiker, beobachtet all das. Sein Urteil über den Ruf des Königs nach 20 Jahren Regentschaft lautet:
"Er bleibt populär. Beachten Sie meine Wortwahl: Er bleibt populär – das bedeutet: Er war beliebt, es gab da Verluste, aber bleibt populär."

Kritik am König? Heutzutage möglich!

Sehimi formuliert auch sehr klar, wie sich Marokkos Lage in den 20 Jahren unter Mohammed VI. entwickelt hat: "Die Probleme sind extrem kompliziert nach diesen 20 Jahren Regentschaft. Im Vergleich zum Beginn sind sie angewachsen, komplexer geworden. Und die Regierenden schaffen es nicht, sich dieser Lage zu stellen."
Menschen stehen hinter einem Transparent, ein Mann hält ein Foto von König Mohammed VI in den Händen.
Mitglieder muslimischer Verbände in Marokko demonstrieren auf einer Kundgebung gegen religiösen Extremismus und Terrorismus.© imago / Pacific Press Agency
"Die Regierenden" – das ist eine interessante Formulierung. Denn neben der Regierung selbst ist es auch der König, der für die wichtigen, grundlegenden Entscheidungen verantwortlich ist. Aber das würde niemand in Königreich öffentlich so formulieren. Kritik am König – damit wäre eine rote Linie überschritten. Diese rote Linie kreuzt Mustapha Sehimi, ein prominenter Chronist der politischen Entwicklung in Marokko, nicht.
Er schreibt Kolumnen und Artikel, er tritt als Analytiker im Fernsehen auf, er ist ein gefragter Experte im Radio. Zu den Fortschritten, die während der 20-jährigen Regentschaft von Mohammed VI. erzielt wurden, zählt Sehimi den gewachsenen Spielraum für die Medien. Für eine freiere Meinungsäußerung. "Dass wir so schreiben und reden können", sagt er, "wäre vor 30 Jahren undenkbar gewesen."
Auf die Frage, was er sich von der Thronrede des Königs in diesem Jahr erwartet, antwortet Sehimi: "Es gibt ein Marokko der Jahre 2030 oder 2035 – das muss definiert werden."
Nichts zuletzt deshalb werden sie morgen beim Thronfest wieder rufen: "Gott gebe unserem Herrn ein langes Leben."
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