Moderne Hexenjagden in Togo

Kinder als Sündenböcke für alles

22:29 Minuten
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Zwei Mädchen im Kinderschutzzentrum in Togo © Laura Salm Reifferscheidt
Von Laura Salm-Reifferscheidt · 12.06.2018
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Mit übersinnlichen Kräften sollen sie Menschen krank machen oder die Ernte verderben: Hexen. Im westafrikanischen Togo werden nicht nur Erwachsene der Hexerei bezichtigt - auch Kinder werden Opfer von Hexenjagden und Lynchjustiz.
"Ich wurde in Titigbé geboren. Ich habe meine Kindheit dort verbracht, mit meinen Freunden gespielt. Mein Bruder war auch da und mein Vater. Mein Vater ist dann gestorben. Aber er hat vorher zu mir gesagt, ich soll nach seinem Tod bei meinem Bruder bleiben."
Matina ist ein schlanker Junge mit großen, sanften Augen und eckigem Kinn. Der 19-Jährige sitzt vor einem kleinen Haus, das einsam zwischen trockenen Feldern und der asphaltierten Straße liegt. Als vor sechs Jahren sein Vater starb und sein älterer Halbbruder nun der Mann im Haus war, endete für Matina seine unbeschwerte Kindheit.

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"Mein Bruder hat mich bedroht, er hat mich immerzu bedroht. Wir wohnten mit seiner Mutter, also meiner Stiefmutter. Wenn es etwas zu arbeiten gab, musste ich das machen. Eines Tages hatte er dann einen Unfall und brach seinen Fuß. Er kam heim und sagte, dass ich ihm das angetan hätte."

Mit 13 Jahren als "Hexe" diffamiert

Matinas Halbbruder bezichtigt den damals 13-Jährigen der Hexerei. Mit seinen übersinnlichen Kräften soll der Junge dafür gesorgt haben, dass sein Bruder einen Unfall mit dem Motorrad hatte.
"Er sagte zu mir, jedes Mal wenn er schlafe, erscheine ich in seinen Träumen, um ihn zu töten."
Der Glaube an Hexerei ist in Togo, so wie in den meisten afrikanischen Ländern, weit verbreitet - in allen Gesellschaftsschichten, Religionen und Ethnien.
Man sagt, dass Hexen ihre Kräfte durch einen Fluch bekommen oder dass Mütter sie an ihre Kinder weitergeben. Hexen sollen sich nachts in Tiere verwandeln, oft in Eulen oder Schlangen. Sie greifen dann ihre Opfer an, verfolgen sie in ihren Träumen.
Matina ist heute behindert. Er wurde als Hexe diffamiert und schwer misshandelt.
Matina ist heute behindert. Er wurde als Hexe diffamiert und schwer misshandelt.© Laura Salm Reifferscheidt
"Mein Bruder beschimpfte mich. Fragte mich: 'Willst du das Leben oder den Tod?' Ich sagte, ich will leben. Weil er wegen seines gebrochenen Fußes Schmerzen hatte, sollte auch ich leiden."
Er will ein Geständnis von Matina erzwingen. Der Halbbruder schnürt seine Hände und Füße an einen langen Stock – wie ein Jäger sein erlegtes Wild. Er lässt Matina in der prallen Sonne liegen, schlägt auf ihn ein und reibt ihm Chili in die Augen. Am vierten Tag schleppt er Matina schließlich in den Wald, löst die Fesseln und befiehlt ihm, loszulaufen. Doch Matina kann nicht mehr aufstehen. Sein Bruder lässt ihn hilflos und verwundet zurück. Als ein Fremder ihn schließlich findet und in ein Krankenhaus bringt, müssen die Ärzte Matinas rechte Hand, einige Finger an der linken und einen Teil seines Fußes amputieren.

Zuflucht im Kinderschutzzentrum

"Als Matina geheilt war, war er so traumatisiert, dass er niemanden sehen wollte. Wir überlegten, was er arbeiten könnte. Damals sagte er, er sei zu nichts mehr nutze. Warum solle er also weiterleben."
Alidou ist Sozialarbeiter. Er arbeitet für Creuset Togo, eine lokale Organisation, die sich um die Rechte und Belange von Kindern kümmert. Auch um die von Matina.
Fast fünf Monate war Matina im Krankenhaus. Die Organisation bezahlte die Arztrechnungen und nahm den Teenager vorübergehend im Kinderschutzzentrum auf. Das Zentrum, das "Kandyaa" oder "Beschützer" in der lokalen Kabiyé-Sprache heißt, liegt in einem ruhigen Viertel von Sokodé, einer staubigen Stadt im Norden Togos. Hier finden Kinder Zuflucht, die Opfer von Gewalt und Menschenhandel geworden sind - oder der Hexerei bezichtigt werden.
"Wenn die Kinder hier im Zentrum ankommen, hören wir erstmal zu. Sie werden psychologisch betreut. Es gibt Kinder, die vergewaltigt wurden. Bei Anzeichen dafür werden die Mädchen gynäkologisch untersucht und wir versuchen den oder die Täter zu finden. Manchmal erstatten wir Anzeige gegen die Eltern."
So schnell wie möglich soll es für die Kinder wieder einen geregelten Tagesablauf und Beschäftigung geben.
Spielen und Lernen im Kinderschutzzentrum.
Spielen und Lernen im Kinderschutzzentrum.© Laura Salm-Reifferscheidt
"Die Zeit hier soll nicht verschwendet sein. Wir bieten auch Aktivitäten wie Stricken, Weben, Schmuckherstellung, Alphabetisierung, Gärtnern und Hasenzucht an. So können sich die Kinder ein wenig stabilisieren. Wenn sie dann stabiler sind, organisieren wir ihnen einen Platz in einer Schule hier in der Nähe. So können sie ihre Ausbildung fortsetzen, bis wir wissen, was mit ihnen geschieht."

Es kann jeden treffen - meist aber Frauen und Kinder

Unter den rund 540 Kindern, die seit der Eröffnung des Zentrums im August 2012 registriert wurden, waren 350 der Hexerei bezichtigt. In Togo treffen die Hexerei-Anschuldigungen meist Frauen und Kinder. Aber auch psychisch Kranke, Außenseiter oder besonders Erfolgreiche kann es treffen. Sie werden als Sündenböcke für Schlangenbisse, Krankheiten, Trunksucht, Unfälle, plötzliche Todesfälle, Alpträume, auch für Ernteausfälle und anderes Unheil herangezogen.
Estelle, 30 Jahre alt und Psychologin bei Creuset Togo, hat Folgendes beobachtet:
"Kinder werden oft wegen ihres Verhaltens der Hexerei bezichtigt. Gerade in der Pubertät benehmen sie sich in den Augen der Eltern inakzeptabel, weil sie sich auflehnen. Die Eltern behaupten dann, es seien Hexen."
"Wird ein Erwachsener der Hexerei bezichtigt, dann merken die Kinder, dass andere vor ihm Angst haben. Und so kann es passieren, dass ein Kind, das wenig beachtet wird, von sich selbst sagt, es sei eine Hexe. Weil es weiß, dass die anderen Kinder dann Angst vor ihm haben."
Estelle sieht es nicht als ihre Aufgabe, den Menschen den Glauben an die Hexerei auszureden.
"Was Hexerei angeht: Wir sind in Afrika, das kann also existieren oder nicht. Aber wenn ein Kind der Hexerei bezichtigt wurde, heißt das nicht, dass man es misshandeln darf. Das ist das Problem."

Reintegration in die Familie ist das Ziel

Die Kinder im Zentrum haben gerade zu Mittag gegessen. Die einen lesen den Jüngeren etwas vor, sie hüpfen ausgelassen auf einem Trampolin herum oder spielen Fußball. Die Jungen und Mädchen wirken fröhlich und unbeschwert. Zur Zeit leben rund 30 von ihnen im Alter zwischen sechs und 17 Jahren im Zentrum. Die einen bleiben hier nur ein paar Wochen oder Monate, bis ihre Eltern oder andere Verwandte gefunden sind, die bereit sind die Kinder wieder aufzunehmen. Aber gerade bei so genannten Hexenkindern ist die Reintegration in die Familie oft schwierig. Zu groß sind die Vorurteile.
"Hexen fressen nachts Menschen auf. Sie töten sie und essen sie in der Dunkelheit."
Marcellin ist eines jener Kinder, die im Zentrum Schutz gefunden haben. Der 11-Jährige glaubt genau zu wissen, was Hexen treiben. Zu oft hat er es schon gehört. Denn er selbst wurde von seinem Großvater der Hexerei bezichtigt, nachdem dieser zu hinken anfing und die Hühner und Ziegen im Haus nach und nach einfach starben. Wenn Marcellin mit seiner kleinen Stimme von seiner Mutter erzählt, spielt er nervös mit einem Stück Papier in seinen Händen.
"Wenn ich sie anrufe, damit sie mich holt, weigert sie sich. Ihr Mann sagt, er will mich nicht sehen. Ich weiß nicht, warum. Wenn ich jetzt versuche, sie anzurufen, hebt sie das Telefon nicht mehr ab. Ich weiß nicht, warum."

Dubiose "Heiler" machen Geschäfte

Auch Rabi wurde der Hexerei bezichtigt. Die schüchterne 13-Jährige hat eine bleibende Narbe davongetragen:
"Es war meine Großmutter. Sie hat mir auf den Kopf geschlagen und wollte mich in den Busch bringen, um mich dort zu töten. Doch dann hat ihr jemand gesagt, sie soll mich zu einem Heiler im Norden bringen."
Selbst ernannter Heiler Kidiba mit Fetischfigur.
Selbst ernannter Heiler Kidiba mit Fetischfigur.© Laura Salm Reifferscheidt
Rabi blieb eineinhalb Jahre bei dem Heiler, musste auf seinen Feldern arbeiten, Kräuter und Wurzeln für seine Mittel und Tinkturen sammeln. Creuset Togo konnte sie schließlich mit Hilfe eines richterlichen Beschlusses in Obhut nehmen, erinnert sich Alidou, der Leiter des Kinderschutzzentrums. Traditionelle Heiler, aber auch Voodoo-Priester und Pastoren von Pfingstkirchen nutzen oft den Aberglauben der Familien aus, um sich finanziell zu bereichern. Mit dem Boom der Pfingstbewegung in Afrika seit den 1980er Jahren haben vor allem die Anschuldigungen gegen Kinder zugenommen. Die selbsternannten Propheten und Pastoren dieser Kirchen behaupten Hexen identifizieren und erlösen zu können.

Missbrauch und Ausbeutung statt Hilfe

"Hier findet man überall solche Heiler, sie machen alle dasselbe. Auch in den Prayer Camps machen sie dasselbe. Sie beuten die Kinder aus. Sie schicken sie auf die Felder und lassen sie für sich arbeiten. Die Kinder bekommen nichts dafür. Es gibt auch Fälle von Vergewaltigungen. Manche Mädchen werden während ihrer Zeit bei einem Heiler schwanger. Man weiß aber nicht, wer der Täter ist, weil die Mädchen einen Sack über den Kopf bekommen und dann vergewaltigt werden."
Wenn Kinder über Monate oder Jahre bei einem Heiler leben, setzt sich Creuset dafür ein, dass sie zur Schule geschickt werden. Die Organisation trägt die Kosten dafür, erklärt Moise. Auch er arbeitet für Creuset Togo. Etwa zwei Stunden nördlich von Sokodé, nahe der Grenze zu Benin, macht sich der Sozialarbeiter gerade auf den Weg zu einem Heiler. Moise hat eine ruhige besonnene Art. Wenn er redet, wählt er seine Worte vorsichtig.
"Wir besuchen jetzt einen Scharlatan, der so genannte Hexenkinder bei sich hat. Die Kinder leben da und er beutet sie aus – für die Hausarbeit, sie müssen Wasser holen, alle Arbeiten am Haus verrichten. In der Regenzeit machen sie die Feldarbeit. Dann behandelt er sie, um die bösen Geister zu verjagen, manchmal mit Gewalt. Sie müssen Mittel einnehmen, die giftig sind und krank machen. Wenn sie nicht zugeben wollen, dass sie Hexen sind, dann peitscht er sie aus, bis sie die 'Wahrheit' sagen."
Dieses Mädchen lebt schon seit Jahren bei "Heiler" Kidiba.
Dieses Mädchen lebt schon seit Jahren bei "Heiler" Kidiba.© Laura Salm Reifferscheidt
Das Anwesen des Heilers Kidiba liegt abgeschiedenen inmitten von trockenen Feldern und Steppengras: drei kleine Rundhütten mit Strohdach und zwei größere Hütten aus Beton gedeckt mit Wellblech. Ziegen grasen, Hühner picken Körner vom Boden. Kidiba lehnt an der Wand einer Hütte. Seine Hände ruhen auf seinem runden Bauch. Das T-Shirt spannt. Auf seinem Kopf sitzt eine weiße Baseball-Kappe. Er hat eine Alkoholfahne.
"Ich behandle Kinder, die der Hexerei bezichtigt werden, und andere Kranke. Ich habe noch ein anderes Haus. Dort behandle ich die anderen Kranken. Die Hexenkinder bleiben hier. Wenn ich sie zusammen mit den anderen unterbringen würde, und einer würde dort sterben, dann würde man die Hexenkinder für den Tod verantwortlich machen."

Eltern verschwinden, Kinder bleiben beim "Heiler"

Seit seiner Jugend arbeite er als Heiler, erzählt Kidiba. Die spirituellen Fähigkeiten dazu habe er von seinem Vater bekommen. Vor kurzem noch hatte er 29 Kinder in seiner Obhut. Bis auf fünf hat er aber alle als geheilt entlassen. Normalerweise dauert die Behandlung ein Jahr und kostet 120.000 Westafrikanische Francs, also mehr als 180 Euro. Dazu müssen die Eltern noch eine Schale Reis, ein Perlhuhn und Palmöl an den Heiler überreichen. Dies sind Opfergaben, um den Göttern für die Heilung zu danken, sagt Kidiba und zeigt auf einen umgedrehten Tontopf vor seinem Haus. Es ist eine Fetisch-Figur, die irdische Behausung einer Gottheit.
Der Heiler Kidiba deutet auf einen Jungen und ein Mädchen, die im Eingang einer der Hütten hocken. Die beiden leben schon drei bzw. sechs Jahren bei ihm.
"Niemand zahlt für diese Kinder. Ich lasse aber auch die gehen, für die die Eltern nicht zahlen können. Diese beiden sind nur so lange hier, weil die Eltern nicht kommen."

Psychosen sind als Krankheit unbekannt

Der Junge heißt Yao.
"Mein Vater hat gesagt, ich sei ein Hexer und hat mich hierher gebracht. Ich habe mich komisch verhalten, bin herum gelaufen und habe mit mir selbst geredet."
Auch soll er den Teufel gesehen haben. Psychosen, Depressionen oder Epilepsie – solche Krankheitsbilder kennen viele Familien nicht. Also fragen sie Heiler und Priester um Rat und lassen ihre Angehörigen exorzieren. Alternativen dazu gibt es kaum: Für die mehr als sieben Millionen Einwohner im ganzen Land gibt es keine Handvoll Psychiater, kaum psychologisch geschultes Personal und nur eine einzige staatliche Psychiatrie.
Beim Abschied erklärt Moise dem Heiler, dass er bald wiederkommt, um zu kontrollieren, ob die Kinder wirklich zur Schule gehen. Doch Kidiba hat andere Prioritäten.
"Wenn ich Geld hätte, könnte ich einen Zaun bauen, damit die Kinder hier bleiben. Sie sind schon weggelaufen und so könnte man die Tür zumachen."
Warum er glaube, dass die Kinder weglaufen? "Weil sie psychische Probleme haben, der Teufel verändert sie", erklärt der Heiler. "Wenn ein Zaun da wäre, dann könnten sie nicht mehr weglaufen." Moise verabschiedet sich mit den Worten:
"Wir von Creuset Togo sind nicht hergekommen, um einen Zaun zu bauen, sondern um zu sehen, ob die Kinder Hilfe brauchen."
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