Modelle zur Coronaprognose

Eine Gleichung mit vielen Unbekannten

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Illustration eines Geschäftmanns, der die Weltkugel unter dem Arm hält. Auf der Welt ist die eins und null in unendlicher Abfolge zu sehen.
Auf Sicht fahren: angesichts vieler unbekannter Parameter sind Prognosen in der Coronakrise schwierig. © imago / stop images / Ralf Hiemisch
Von Sven Kästner · 02.04.2020
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Allen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus liegen letztlich mathematische Modelle zugrunde: Etwa wie viele Menschen sich infizieren werden und wie viele sterben. Doch wie aussagekräftig sind solche Modelle bei einem neuen Erreger, über den man nur wenig weiß?
André Karch ist Mediziner, aber auch ein Mann der Zahlen. Der Professor für klinische Epidemiologie an der Universität Münster versucht gemeinsam mit Kollegen in ganz Deutschland, die Coronakrise zu berechnen: Wie viele Menschen infizieren sich mit dem Virus? Wie schnell breitet sich die Pandemie in Deutschland aus? Fragen, die Epidemiologen in mathematische Modelle übersetzen. Bei erforschten Krankheiten funktioniert das gut, doch die Ausbreitung des neuen Coronaerregers ist eine Gleichung mit vielen Unbekannten.
"Wir sind aktuell in einer Situation, wo viele der Parameter, die notwendig sind, um Aussagen über die weitere Infektionsausbreitung treffen zu können, tatsächlich mit einer relevanten Unsicherheit behaftet sind", räumt Karch ein.
Wie viele Menschen ein Infizierter ansteckt, ist eine der großen Fragen. Diese so genannte Basisreproduktionszahl versuchen Wissenschaftler weltweit zu bestimmen. Noch gibt es nur Schätzungen. Danach überträgt ein Infizierter das Virus rechnerisch betrachtet auf 2,5 bis 3,5 Gesunde. Oft passiert das unbemerkt, weil sich die Krankheitssymptome erst Tage nach der Ansteckung zeigen. Deshalb wirken sich die derzeitigen Einschränkungen des öffentlichen Lebens verzögert auf die Infektionszahlen aus. Das beeinflusst auch die mathematischen Modelle, sagt Epidemiologe Karch.
"Wenn wir zum Beispiel davon ausgehen, dass die theoretische maximale Reproduktionszahl sich irgendwo zwischen 2,5 und 3,5 befindet, dann ist davon auszugehen, dass wenn jetzt aktuell, sagen wir mal, 80 Prozent aller Kontakte eingeschränkt sind, sich das zumindest um einen ungefähr um 80 Prozent herum liegenden Wert verringern könnte."

Was wir von den Erfahrungen aus Asien lernen können

In der aktuellen Pandemie hat Deutschland den Vorteil, aus den Erfahrungen in Asien lernen zu können. Dort trat das neue Coronavirus Ende vergangenen Jahres zum ersten Mal auf. Welche Lehren das genau sind, interessiert Stefan Flasche, Mathematiker an der London School of Hygiene and Tropical Medicine:
"Wir haben von China und aus Südkorea schlussfolgern können, dass wir mit extremen Maßnahmen zur Kontaktvermeidung im Prinzip zumindest die größere Verbreitung des Coronavirus eindämmen können. Zumindest für die Zeit, in der diese Maßnahmen gegenwärtig sind."
"Flatten the curve" – was seit drei Wochen als Hashtag in den sozialen Medien kursiert und worauf die Ausgangsbeschränkungen hierzulande zielen, ist in China zunächst gelungen: Die Kurve für die Zahl der Infizierten steigt seit Mitte Februar nur noch leicht an. Mittlerweile haben die Behörden dort das rigide Kontaktverbot gelockert. Das birgt die Gefahr, dass sich das Virus wieder schneller ausbreitet. Unter anderem wegen Menschen, die den Krankheitserreger unentdeckt in sich tragen:
"Die Schätzungen sind im Bereich 40, 50 Prozent aller Infizierten, dass die keine Symptome zeigen." Daran schließt sich gleich eine weitere Frage an: "Wenn man keine Symptome zeigt, heißt das, dass man trotzdem genauso ansteckend ist?" Flasche räumt ein: "Diese Frage können wir bisher noch nicht wirklich befriedigend beantworten."

Die "Diamond Princess" als epidemiologisches Testgelände

Neue Erkenntnisse in einer anderen Frage bot die "Diamond Princess": Das Kreuzfahrtschiff lag im Februar zwei Wochen lang unter Corona-Quarantäne an der japanischen Küste. Was für die 3700 Passagiere und Crewmitglieder eine Tragödie war, bedeutete für die Forscher Laborbedingungen. Die Londoner Wissenschaftler analysierten die Infektionen auf dem Schiff: 705 Menschen steckten sich an, sechs starben.
"Das Wesentliche, was wir von diesem Kreuzfahrtschiff gelernt haben, ist, dass das Coronavirus tatsächlich eine hohe Sterblichkeitsrate nach sich zieht", sagt Mathematiker Flasche. "Wir haben gefunden, dass ungefähr 0,5 Prozent aller Infizierten einer normalen Deutschland-ähnlichen Bevölkerung versterben, jedenfalls in diesem Kreuzfahrtschiff-Setting."
Doch auch dieses Ergebnis ist keine allgemeingültige Erkenntnis. Schwedische Wissenschaftler haben ermittelt, dass sich das Virus auf dem Schiff vier Mal schneller ausbreitete als in den am schwersten betroffenen Gebieten Chinas.
Trotz aller Unsicherheiten: Mathematische Modelle zum Verlauf und zu Todesfällen sind wichtig für die Planung. Etwa bei der Frage, wie viele Patienten ins Krankenhaus müssen. Epidemiologe Karch ist mit seinen Prognosen jedenfalls vorsichtig:
"Basierend auf der Evidenz, die man aus den unterschiedlichen Ländern sieht, und den Einschränkungen, die man in der Datenlage der berichteten Fälle in verschiedenen Ländern sieht, würde man davon ausgehen, dass der Anteil der schweren Fälle an den zumindest symptomatischen Fällen sich irgendwo zwischen einem und sechs Prozent befindet", sagt er. "Das wären dann die Patienten, die am Ende des Tages intensivpflichtig und vielleicht sogar beatmungspflichtig werden würden."

Die Tödlichkeit von Epidemien wird anfangs immer unterschätzt

Zwischen einem und sechs Prozent – das ist eine große Bandbreite. Genaueres geben die Modellierungen jedoch wegen der unsicheren Datenlage nicht her. Was die Wissenschaftler aber fürchten: Die Letalität, also die Sterblichkeit, wird sich in Deutschland kaum von der in vielen anderen Ländern unterscheiden – je weiter sich das Coronavirus hierzulande ausbreitet.
"Man sieht ja auch, dass sich die Zahl auch in Deutschland in den letzten Tagen dem einen Prozent annähert", sagt Karsch. "Das ist ein bekanntes Problem, dass die Letalität am Beginn von epidemischen Prozessen erst mal unterschätzt wird. Weil das eben Zeit braucht, bis aus einem Fall ein schwerer Fall und ein Todesfall wird."
Aber auch die Prognose zu den Todesopfern hängt von bisher unklaren Faktoren ab. Wird das Gesundheitssystem überlastet, können zum Beispiel weniger Menschen mit Intensivmedizin gerettet werden. Epidemiologen füttern ihre Rechenmodelle ständig mit den neuesten Daten. Das verändert die Prognosen immer wieder – und ist in der öffentlichen Diskussion schwer zu vermitteln: Die Gleichungen und Vorhersagen sind mathematisch schlüssig und exakt – aber die Wissenschaftler müssen mit vielen Unbekannten rechnen.
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