Modelle des Organischen

07.12.2006
In ihren Essays beschreibt die amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt Begegnungen mit Künstlern, Filmstars und Büchern. Allen gemein ist die eine Vorstellung von Dualität, von zwei Hälften, die sich gegenseitig bedingen und die Idee des Organischen. Mit einer melancholischen Beiläufigkeit erzählt sie subtilste Details.
In einem ihrer Essays berichtet Siri Hustvedt von der Begegnung mit einem Giganten. Gerard Depardieu - auf den die Bezeichnung "französischer Schauspieler" insofern nicht zutrifft, als sie seinen Rang als Nationalikone des französischen Kinos nicht erfasst -, der Künstler, Motorradfahrer und Winzer Depardieu hatte erfahren, dass sich der nicht ganz unbekannte amerikanische Schriftsteller Paul Auster in Paris aufhielt und wollte ihn kennen lernen. Als Treffpunkt wurde eine Hotelbar vereinbart.

Depardieu stürmt herein. Die Hotelbediensteten inklusive des Hoteldirektors erstarren. Der Fürst ist da, Depardieu höchstpersönlich im Haus! Vor Aufregung nur mit Mühe die Fasson bewahrend, nähert sich der Maitre d`Hotel dem Tisch, an dem Depardieu, ein Ami, eine schöne Blondine und noch zwei unbekannte Begleiter sitzen. Und er begeht einen furchtbaren Fauxpas. Er fragt Depardieu, was er trinken möge, "Depardieu bestellte beiläufig ein Glas Rotwein." Die anderen am Tisch fragt er nicht. Paul Auster und seine Frau, die amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt, bleiben auf dem Trockenen sitzen. "Er hatte uns vergessen".

Die Szene ist natürlich wundervoll, weil ihre Anekdote die Hierarchie transatlantischer Kulturprominenz persifliert. Interessant aber wird sie erst dann, wenn man weiß und bedenkt, von wem und wie sie erzählt wurde. Dass Siri Hustvedt mit gelassener Ironie hier Situationen verspiegelt, die sie selbst im Schatten eines in Amerika gefeierten Stars, ihres Gatten Paul Austers, erlebt haben mag, in Zeiten, da sich ihr literarischer Rang noch nicht herumgesprochen hatte, ist das eine. Das andere aber ist die Balance ihrer Beobachtung: Unter Hustvedts Blick rückt eine Nebenfigur des Geschehens, der servierende Hoteldirektor, als Gegenfigur zum Giganten Depardieu ins Zentrum. Erst aus dem Kontrast, aus der Spannung zwischen dem ungehemmt agierenden, Aufmerksamkeit gewohnten Schauspieler und dem vor Hemmung bis ins Mark verunsicherten Maitre ergibt sich das Erzählmotiv des Vorfalls.

Quantitativ ist er nicht mehr als eine Randanekdote von Siri Hustvedts Essays, die jetzt unter dem Titel "Being a man" im Deutschen herauskommen. (Vorausgegangen ist der Auswahl, die von der amerikanischen Originalausgabe abweicht, der vor sechs Jahren erschienene Band "Nicht hier nicht dort").

Qualitativ aber ist die Parisanekdote bedeutsam. Denn gleichgültig, worüber Hustvedt essayistisch schreibt, ob über ihre norwegisch-amerikanische Herkunft, über phantasierte Androgynität, über Provinz- und Großstadtwelten, oder das weibliche Doppelleben einer Schriftstellerin, die tagsüber versunken, bebrillt und mit gebeugtem Rücken durchs Haus schlurft, um dieses abends aufgerichtet und elegant bekleidet zu verlassen - es gibt ein Thema, das alle diese Sujets verbindet: Ambiguität. Und es gibt einen Fluchtpunkt, auf den Siri Hustvedts Essays allesamt zustreben: Die weltfreundliche Idee des Organischen. Die Idee der zwei Hälften, die an Leben gewinnen, was sie an Ausschließlichkeit verlieren.

Man ist mit diesen Essays sehr schnell befreundet. Und ebenso schnell von ihnen überzeugt. Denn die Dualität, von der sie sprechen, betrifft ihr literarisches Wesen selbst. Sie sind erzählerisch zerstreut. Und analytisch zupackend. Sie verhehlen nicht die Kulisse akademischer Theorie und den Beistand einer Handbibliothek, in der die Werke der Linguistik, der Psychoanalyse und der französischen Strukturalisten vertreten sein dürften, zumal die Bücher Jacques Lacans, die man, als die heute 50-jährige Mrs. Hustvedt in New York studierte, einfach verehren und lesen musste, (wiewohl letzteres, wie die Autorin dankenswerterweise einräumt, so einfach auch wieder nicht war).

Und Hustvedts Essays sind zugleich vollkommen persönlich. Verfasst in der ersten Person Singular. Eingenäht in die Chronik laufender Lebens-, Alltags- und Leseerfahrung. Wir sehen eine aufgeklärte, engagierte, politisch hellwache amerikanische Bürgerin vor uns, die sich in dem Text "9/11, ein Jahr danach" beunruhigt zeigt über den medial-euphemistischen Umgang mit der Tragödie, über die Einebnung des Traumas in der angewöhnten Traumarhetorik. Und wir sehen, gelegentlich, eine Somnambule vor uns, die seit Kindheit an mit den Begabungsmerkmalen eines übersensitiven Gemüts lebt .

Ihre Texte aber sind vor allem eins: Modelle des Organischen. Gefäße, die Platz bieten für politische Statements und subtilste Eindrücke. Für Giganten wie Gerard Depardieu, Henry James, Charles Dickens und für kleine Leute auf den Straßen New Yorks.

Auch bei Essays ist der Ton, in den der Autor seinen Text kleidet, ausschlaggebend für dessen Auftritt, nicht weniger als in Romanen und Erzählungen. Jahre nach der Lektüre eines Essays hat man womöglich die Einzelheiten seiner Abhandlung längst vergessen, aber seinen akustischen Charakter noch deutlich im Ohr. Der essayistische Ton Siri Hustvedts ist nicht ganz einfach zu bestimmen, denn in ihm vermischen sich zwei Stimmen. Die Stimme einer leicht melancholischen Beiläufigkeit und die Stimme bejahender Bestimmtheit. Der Ton der Balance aber, der daraus entsteht, wird im Ohr bleiben.

Rezensiert von Ursula März

Siri Hustvedt: "Being a man"
Essays
Übersetzt von Uli Aumüller
Rowohlt. 2006, 190 Seiten