Mobilisierung für die Probleme der Roma

Moderation: Susanne Führer · 12.10.2010
Eine "Sensibilisierung aller Akteure für die Problematik der Roma-Gemeinschaft in Rumänien" fasst Rudolf Niessler das Ziel der EU-Konferenz zusammen. 50 Prozent der Roma lebten unter der extremen Armutsgrenze und hätten keine Papiere.
Susanne Führer: Zehn bis zwölf Millionen Roma gibt es in Europa, sie bilden damit die größte ethnische Minderheit in der EU. Ein großer Teil der Roma lebt am Rande der Gesellschaft, in wirtschaftlicher Armut und sozial ausgegrenzt. Die Europäische Union hat sich vorgenommen, die Lage der Roma zu verbessern, und ein Baustein auf diesem Weg ist eine Konferenz der EU, die heute in Bukarest stattfindet. Einer der Teilnehmer ist Rudolf Niessler von der Europäischen Kommission. Er ist Direktor für Politikkoordination in der Generaldirektion Regionalpolitik – was für ein langer Titel. Guten Tag nach Bukarest, Herr Niessler!

Rudolf Niessler: Einen schönen guten Tag wünsche ich Ihnen!

Führer: Sie haben ja diese Konferenz geplant, bevor der französische Präsident Sarkozy mit der Ausweisung der Roma aus Frankreich international Schlagzeilen gemacht hat. Ist die Politik Frankreichs jetzt eigentlich heute Thema bei Ihnen auf der Konferenz?

Niessler: Die Politik Frankreichs hat sicherlich dieser Konferenz eines beschert, nämlich ein massiv gewachsenes Interesse. Es sind hier Vertreter von fast allen Mitgliedsländern präsent durch ihre Botschafter, neben den hochrangigen Vertretern von Rumänien und den beiden EU-Kommissaren, die hier auch bei der Konferenz sprechen.

Führer: Was ist denn das Ziel der heutigen Konferenz in Bukarest, Herr Niessler?

Niessler: Das Ziel der Konferenz hier in Bukarest ist Sensibilisierung aller Akteure für die Problematik der Roma-Gemeinschaft in Rumänien hier ganz konkret und vor allen Dingen die Mobilisierung von Unterstützung für die Probleme der Roma. Und hier geht es ganz konkret darum, was können die europäischen Finanzinstrumente dazu beitragen.

Führer: Das heißt, es geht um die Verteilung von EU-Geldern, um den Einsatz der Gelder?

Niessler: Wenn wir uns anschauen, für Rumänien ganz konkret gibt es ja doch beachtliche Budgetmittel für die Periode 2007 bis 2013, insgesamt fast 20 Milliarden Euro, davon vier Milliarden für den europäischen Sozialfonds, neun Milliarden für den europäischen Regionalfonds. Und innerhalb dieser Programmierung, dieser Mittel, gab es auch Maßnahmen, die man festgeschrieben hat für benachteiligte Bevölkerungsgruppen. Was wir aber festgestellt haben – und das bereits seit Ende letzten Jahres – ist, dass die Umsetzung dieser Maßnahmen durch konkrete Projekte nur äußerst schleppend vorangeht. Das heißt, es ist im Prinzip so gut wie kein Geld an diese Projekte geflossen. Es gab Probleme, auch sozusagen Projekte zu identifizieren und konkret zu genehmigen. Das heißt, wir sind in einem Stadium, wo wirklich Eile angebracht wird, dass die Behörden hier vor Ort mal sozusagen, wie Sie in Deutschland sagen, einen Zahn zulegen und hier wirklich die Umsetzung der bereits geplanten Maßnahmen vorantreiben.

Führer: Rudolf Niessler von der Europäischen Kommission im Deutschlandradio Kultur. In Bukarest findet heute eine EU-Konferenz zur Integration der Roma statt. Herr Niessler, wenn ich Sie gerade richtig verstanden habe, dann hat Rumänien diese vielen Milliarden, die Sie Rumänien – also Sie jetzt nicht persönlich, aber die EU – Rumänien gegeben hat, auch zur besseren Integration der Roma nicht dafür eingesetzt, sondern die sind irgendwo versickert. Das haben Sie gerade so ein bisschen freundlich formuliert, aber das ist doch eigentlich ein Skandal, oder?

Niessler: So kann man das nicht sagen natürlich, weil die Milliarden sind noch nicht versickert, aber die Ansprüche, die Rumänien hat auf dieses Geld aus dem EU-Budget, müssen innerhalb bestimmter Fristen eingelöst werden. Und hier sehen wir das Problem, dass aufgrund des sehr schleppenden Fortschritts bei der Umsetzung der programmierten Maßnahmen die Gefahr besteht, dass Rumänien diese Gelder sich nicht abholen wird für konkrete Projekte. Das heißt aber auf keinen Fall, dass man sagen kann, diese Milliarden versickern anders wohin.

Führer: Die sind nur gar nicht abgerufen worden.

Niessler: Die sind nicht abgerufen worden, und wenn sie nicht abgerufen werden, würde das heißen, dass sie dann aufgrund unserer Spielregeln in den EU-Haushalt zurückfließen und an die Länder, die also Beiträge in den EU-Haushalt leisten, zurückfließen. Aber Sie haben natürlich recht, das ist nicht im Sinn der Sache.

Führer: Herr Niessler, wenn jetzt die umstrittene französische Politik nicht gewesen wäre – Sie haben es vorhin auch angedeutet –, dann wäre jetzt möglicherweise das Interesse nicht so groß, aber das Problem ist ja da. Kann es sein – Rumänien, sagen Sie, ist heute das Thema auf der Konferenz in Bukarest, Rumänien ist ja wie Bulgarien erst 2007 der EU beigetreten –, dass man vielleicht vorher in den Beitrittsverhandlungen das Problem unterschätzt hat, dass man das gar nicht richtig gesehen hat?

Niessler: Ich glaube, das Problem wurde ziemlich fundamental unterschätzt. Wenn Sie sich die Tatsache vor Augen halten, dass wir im offiziellen Zensus für Rumänien 500.000 Roma-Bevölkerung ausgewiesen haben, aber wir in der Tat wahrscheinlich, nach inoffiziellen Schätzungen, 2,5 Millionen Roma in Rumänien haben, viele dieser Leute, das heißt, das ist das Wachstum dahinter, haben wahrscheinlich keine Papiere, viele sind nicht registriert, das heißt, wir haben dann viele Kinder von diesen Familien, die wahrscheinlich nicht in die Schule gehen, die mit einem Bildungsdefizit quasi ins Leben gehen, das sie für den Rest ihres Lebens immens benachteiligt. Und wir haben unterschätzt die Größenordnung. Seit dem Fall des Kommunismus hat sich die Roma-Bevölkerung aufgrund viel höherer Geburtenraten wesentlich stärker entwickelt und vermehrt als die andere Bevölkerung. Und die Roma-Bevölkerung – zur Zeit des Kommunismus hatte jeder seinen Job, seit dem Umbruch und seit der Umstrukturierung der Wirtschaft sind viele dieser total unqualifizierten Jobs weggefallen. Jetzt haben wir die Leute auf quasi dem grauen Arbeitsmarkt, viele leben in Armut. Für Rumänien sagen die Erhebungen, dass Dreiviertel der Roma-Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt, 50 Prozent unter der extremen Armutsgrenze. Wir haben das Problem, dass die Arbeitslosigkeit geschätzt wird auch zwischen 50, 90 Prozent unter diesen Gruppen, und wie gesagt, vor allen Dingen, die Zeitbombe ist besonders dort, wo es darum geht, die jungen Leute zu unterstützen, einen normalen Weg ins Leben zu finden.

Führer: Jetzt haben Sie aber gerade ausgeführt, Herr Niessler, dass bisher zumindest die rumänische Regierung, der rumänische Staat diese EU-Mittel, die zur Verfügung stünden, nicht abruft. Hat denn die EU-Kommission irgendeine Handhabe, außer zu versuchen, Überzeugungsarbeit zu leisten, irgendeine Handhabe, die rumänische Regierung dazu zu zwingen?

Niessler: Unsere Handhabe ist natürlich in erster Linie, die Überzeugungsarbeit zu leisten, dass es im Interesse der rumänischen Regierung sein müsste, hier etwas für diese Bevölkerungsgruppe zu machen, weil die demografische Bombe, die hier tickt, sagt uns ganz klar: Wenn hier nichts passiert, dann haben sie in 20 Jahren ein massives Problem, dass sie einen großen Anteil der Bevölkerung, die sich aus diesem Segment der Roma rekrutieren, außerhalb des Arbeitsmarktes haben und sie wahrscheinlich nicht mehr in ein normales Berufs- und soziales Leben eingliedern können.

Führer: Sie argumentieren also mit dem Eigeninteresse, aber es bleibt, meine ich, jetzt auf der Ebene der Argumentation.

Niessler: Es bleibt nicht auf der Ebene der Argumentation. Was wir versuchen, den Vertretern hier auch wirklich massiv nahezulegen, ist, die eigene Kapazität zu stärken, um Projekte zu entwickeln, mehr mit den Beteiligten selbst zu arbeiten, nachdem wir glauben – also wahrscheinlich der Schlüssel der Problemlösung liegt wahrscheinlich bei einer Einbeziehung dieser Gruppen, und über Ausnutzung der technischen Hilfe auch wirklich sozusagen kompetente Institutionen zu schaffen, die in der Lage sind, Ausschreibungen zu machen, Projekte zu begutachten, die ganzen technischen Arbeiten, die notwendig sind, wenn sie erfolgreiche Entwicklungsarbeit machen wollen. In diesem Punkt sind die Rumänen sehr, sehr schwach aufgestellt.

Führer: Herr Niessler, eine Frage noch: Hat es das eigentlich schon mal gegeben, dass die EU eine ganz bestimmte Bevölkerungsgruppe gezielt unterstützt?

Niessler: Mit einem Programm dieser Größenordnung ja. Was wir sozusagen haben seit dem Beitritt der neuen Mitgliedsländer, ist natürlich eine Dimension dieses Problems, wie wir es vorher nicht kannten. Von den wahrscheinlich zwölf Millionen Roma, die es gibt, sind wahrscheinlich an die zehn Millionen in den neuen Mitgliedsländern. Das heißt, das Problem ist ein viel größeres. Was wir auch versuchen bei dieser Gelegenheit, und das kann vielleicht helfen, ist, die Länder, die an sich sehr gute Arbeit geleistet haben, wie Spanien, aber auch, ich glaube, dass man Frankreich hier durchaus nennen kann, ja, Frankreich hat kleinere Gemeinschaften, aber in Frankreich ist es an sich nicht so schlecht gelungen, soziale Integration zu fördern und zu stärken –, dass man diese Länder in dieses gemeinsame Unterfangen jetzt einbindet, hier den Rumänen quasi Entwicklungshilfe anzubieten. Vor allen Dingen über gute Praxis, die man versuchen wird, hier auch den Rumänen zu erklären und mit der Hoffnung, das dann hier in einem wirklich größeren Stil dann auch wirklich umgesetzt werden kann.

Führer: Rudolf Niessler von der Generaldirektion Regionalpolitik der Europäischen Kommission.
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