"Mittlerweile ist die Türkei ja auch selber betroffen"

Nail Alkan im Gespräch mit Nana Brink · 15.06.2011
Der türkische Politikwissenschaftler Nail Alkan erwartet nach den Wahlen in seinem Land ein stärkeres Auftreten der Türkei bei den internationalen Bemühungen um ein Ende des Konflikts in Syrien. Seit März habe die Türkei die Entwicklung abgewartet, sagte Alkan.
Nana Brink: Die Verfolgung von Regimegegnern in Syrien geht weiter: Nach der blutigen Niederschlagung der Proteste in der Stadt Dschsir al Schughur sind die syrischen Truppen weiter gegen die Rebellen im Nordosten des Landes vorgerückt. Und während sich Präsident Assad gegenüber allen internationalen Appellen taub stellt, sind nach türkischen Angaben mehr als 8000 Menschen aus Syrien in die Türkei geflohen und sie fliehen weiter. Bislang sind die Grenzen offen, überhaupt ist die Haltung der Türkei von entscheidender Bedeutung, gerade auch im Hinblick auf eine mögliche UN-Resolution. Und am Telefon ist jetzt der türkische Politikwissenschaftler Professor Nail Alkan von der Gazi-Universität in Ankara. Einen schönen guten Tag, Herr Alkan!

Nail Alkan: Guten Tag!

Brink: Bislang hat ja die Türkei treu zu Syrien gehalten, kürzlich hat aber der wiedergewählte türkische Ministerpräsident Erdogan Syrien ungewohnt scharf kritisiert, er sprach von Gräueltaten der syrischen Armee. Rückt die Türkei von Syrien ab?

Alkan: Die Türkei hatte erst mal natürlich das Problem, dass sie innenpolitisch das Wahljahr hatte und mittlerweile ist natürlich die Wahl abgeschlossen, sodass die Türkei sich jetzt glaube ich auch in der Außenpolitik wieder stärker aktiv einsetzen wird. Die Türkei hat ein bisschen seit März eigentlich abgewartet, sie hat eigentlich auch Syrien vorgeschlagen, dass Syrien Reformen einführen soll. Staatspräsident Gül und (Anm. d. Red.: schwer verständlich) Ministerpräsident Erdogan haben das öfter Herrn Assad vorgeschlagen. Aber man hat eher gesagt, dass es ein inneres Problem sei, sodass sich die Türkei hätte nicht reinmischen dürfen, aber mittlerweile ist die Türkei ja selber auch betroffen, das heißt also, immer mehr Flüchtlinge, immer mehr Regimegegner fliehen ja jetzt auch in die Türkei, und mittlerweile haben wir in der Türkei an die, wie Sie schon sagten, 8000 Personen, die in die Türkei geflüchtet sind, sodass die Türkei ja jetzt auch leider Gottes mit involviert ist in diesem Problem. Das heißt, die Türkei darf sich und kann sich auch nicht mehr ganz zurückhalten, weil das Problem ist jetzt mittlerweile auf türkischem Boden.

Brink: Welche Rolle, pardon, soll denn die Türkei dann spielen in diesem Konflikt? Was kann sie ausrichten?

Alkan: Ich meine, die Türkei hat versucht, gute nachbarschaftliche Beziehungen mit allen Nachbarn aufzubauen. Die Türkei versucht natürlich, zu vermitteln zwischen USA und zwischen Europäischer Union und Syrien, aber zurzeit ist das glaube ich nicht unbedingt sehr einfach, weil sich die syrische Regierung querstellt, weil die syrische Regierung eigentlich die Türkei als Vermittlerstaat nicht akzeptiert.

Brink: Sie haben es erwähnt, ich auch: Tausende Syrer fliehen in die Türkei, es ist nicht abzusehen, dass dies auch aufhört. Welche Rolle spielt denn das Flüchtlingsproblem auch? Musste es so weit kommen? Die Grenzen sind ja bislang noch offen.

Alkan: Die Grenzen sind noch weit offen, der Ministerpräsident Erdogan hat sich auch geäußert, dass die Grenzen offen bleiben werden. Die Europäische Union hat sich zu Wort gemeldet, dass sie der Türkei auch, wenn es benötigt wird, helfen wird, finanziell auch. Ich meine, natürlich hätte es so weit nicht kommen brauchen, sollen, aber leider Gottes ist es halt der Fall, dass Syrien ein großes Problem zurzeit hat, und ich meine, wir haben in Syrien den Präsidenten, der Alevite ist, und der größte Teil der Syrier sind Sunniten, sodass wir da ein Glaubensproblem haben. Natürlich ist auch die Regierung von Erdogan mit den Oppositionellen, weil wir in der Türkei ja auch eher eine sunnitische Regierung haben, einen sunnitischen Glauben eher haben, sodass halt die Türkei ... vielleicht auch deshalb die syrische Regierung mit Herrn Erdogan nicht einverstanden ist und ihn auch als Vermittler nicht unbedingt ganz akzeptiert.

Brink: Aber das ist ja ein Problem, was es schon länger gibt oder eine Tatsache, die schon länger bekannt ist. Aber erst jetzt hat sich ja die Position der Türkei geändert – auch vor dem Hintergrund des Flüchtlingsproblems?

Alkan: Das, und ich meine, wir müssen auch bedenken, dass es auch in Syrien viele Türken gibt. Bis 1918 hat ja Syrien noch zum Osmanischen Reich gehört, und seit 1918 hat es sich getrennt, und wie gesagt, die Grenzen, die zwischen Syrien und der Türkei gezogen wurden damals, haben es mit sich gebracht, dass viele Türken auf einmal zu Syrern wurden, dass viele Türken auf einmal in Syrien leben mussten.

Brink: Wie erklären Sie sich, dass die Internationale Gemeinschaft so zurückhaltend reagiert, ganz anders als in Libyen?

Alkan: Ich glaube, die Internationale Gemeinschaft wehrt noch ein bisschen ab, ich meine, es wird ja jetzt mittlerweile über einen Resolutionsentwurf der UN diskutiert, Frankreich, England, Deutschland und Portugal haben so einen Entwurf vorgeschlagen. Aber wir wissen auch, dass sich China und Russland quergestellt haben, sie werden wohl dieser Resolution nicht zustimmen. Das wird wohl auch der Grund sein, warum man noch ein bisschen wartet, denn ich meine, wenn man in der UN ein Veto hat, wird der Resolutionsentwurf nicht durchkommen. Die Menschenrechtsverletzungen werden kritisiert, Vorgehen gegen Regimekritiker wird kritisiert in Syrien, Gewalt gegen Zivilisten werden kritisiert. Ich glaube, auch Russland und China sollten so langsam einsehen, dass seit März 1300 Menschen gestorben sind, getötet wurden, 10.000 Menschen festgenommen wurden. Also ich glaube, der humanitäre Aspekt sollte jetzt endlich mal wichtiger sein als der politische Aspekt in Syrien.

Brink: Wo steht dann die Türkei? Wird sie eine Resolution gegen Syrien unterstützen?

Alkan: Also ich glaube, die Türkei wird eine Resolution unterstützen, weil die Türkei das Problem jetzt zurzeit ja auch selber im Lande hat mit den 5000 bis 10.000 Flüchtlingen, weil die Türkei ja auch vor allen Dingen auf den humanitären Aspekt setzt, weil viele türkische Syrer in Syrien leben, das heißt also, die Türkei muss bedacht sein, diese Menschen zu retten, dass diese Menschen nicht getötet werden.

Brink: Wie lange kann Präsident Assad Ihrer Einschätzung nach diesem internationalen Druck noch standhalten?

Alkan: Ich glaube, nicht mehr allzu lange, denn ich meine, bevor die Menschen in die Türkei geflohen sind, war es eher ein inneres Problem von Syrien, mittlerweile ist es ja ein internationales Problem geworden. Ich glaube, so langsam wird sich Herr Assad auch eingestehen müssen, dass bestimmte Reformen durchgeführt werden, wobei wir natürlich aufpassen müssen: Es geht ja nicht nur darum, dass Herr Assad zurücktritt, es geht auch darum, dass das Militär zurücktreten muss, dass vielleicht demokratischere Spielregeln in Syrien herrschen müssen. Ein systematischer Wandel muss vollzogen werden in Syrien, ein politischer Wandel muss vollzogen werden in Syrien.

Brink: Sehen Sie die zukünftigen politischen Kräfte, wer könnten die sein?

Alkan: Ja, es ist interessant, dass es in Syrien keine bekannten Gesichter gibt, die im Namen der Revolution sprechen, also das heißt, eine politische Opposition ist zwar in Syrien vorhanden, aber es gibt halt keine Personen, wo man halt sagen könnte, das wäre eine Person, die halt das Land führen wird. Aber ich glaube, wenn man Intellektuelle, Schriftsteller und Journalisten jetzt endlich mal freilassen würde in Syrien, wird auch Syrien glaube ich ein bisschen demokratischer werden. Diese gesamten Revolutionen in Nordafrika und im Nahen Osten haben einen Dominoeffekt mit sich gezogen, sodass es auch wohl bei Syrien nicht Halt machen wird.

Brink: Der türkische Politikwissenschaftler Professor Nail Alkan.
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