Mitten im Gemetzel

Rezensiert von Maike Albath · 08.05.2006
Schützengräben, Schießscharten, Feldflaschen mit Cognac, Drahtverhaue, ein zähes Hin und Her zwischen Angriff und Verteidigung, unendlich viel Dreck und jeden Tag Verwundete und Tote: So sieht der Erste Weltkrieg an der italienisch-österreichischen Front um 1916 aus.
Wir landen mitten im Gemetzel. Emilio Lussu, 1890 in Sardinien geboren, Student der Jurisprudenz, überzeugter Sozialist und Offizier, liefert mit seinem 1937 erschienenen, erstmals auf Deutsch vorliegendem Buch "Ein Jahr auf der Hochebene" einen bewegenden Erfahrungsbericht.

Es handelt sich um eine Mischung aus Tagebuch, Roman und autobiographischem Zeugnis, verfasst in einer unprätentiösen Sprache und grundiert von einem kargen Realismus, der die Grausamkeit des Krieges und die Sinnlosigkeit zahlreicher militärischer Aktionen umso deutlicher vor Augen führt. Ort des Geschehens ist die Hochebene von Asiago in Venetien, wo zwischen 1916 und 1917 elf Schlachten gegen Österreich-Ungarn mit furchtbaren Verlusten auf beiden Seiten ausgefochten wurden. 1918 trug Italien den Sieg davon. Dass dies gelang, hatte das militärisch extrem schlecht ausgerüstete Land vor allem seinen Soldaten zu verdanken - über 600.000 Tote kostete la Grande Guerra Italien, was sich tief in das kulturelle Gedächtnis eingrub.

In dreißig pointierten Kapiteln schildert Lussu den zermürbenden Alltag an der Front. Lakonisch und ohne jeden Voyerismus nimmt sein alter ego die Kampfhandlungen in den Blick: Wir begegnen einem ewig betrunkenen Major, der ohne Alkohol kein Gefecht bestehen kann, wir lernen die Männer seiner Kompanie kennen, die sich mit einer Mischung aus Schicksalsergebenheit und Mut den Befehlen fügen, wir kreuzen die Wege des besessenen Generals Leone, der seinen Wagemut mit einem Angriff unter Beweis stellt, bei dem er Hunderte seiner Männer dem Kugelhagel der Österreicher preisgibt. Mit wenigen Strichen verleiht Lussu seinen Protagonisten Prägnanz:

"Der General lächelte nicht. Ich glaube, dass es ihm gar nicht möglich war zu lächeln. Er trug den Stahlhelm, der Riemen war eng um das Kinn geschnallt, so dass das Gesicht aussah, wie aus Erz gegossen. Der Mund war unsichtbar. Wäre nicht der Schnurrbart da gewesen, hätte man meinen können, er habe keine Lippen. Die Augen hart und grau, immer aufgerissen wie die Augen räuberischer Nachtvögel."

Vor allem der Zynismus der Befehlshaber kommt immer wieder zum Ausdruck: um seine Macht unter Beweis zu stellen, zwingt General Leone einen Korporal, auf einen Steinhaufen oberhalb des Schützengrabens zu klettern. Als der Soldat von einem Geschoss der feindlichen Seite getroffen wird, nennt ihn der General einen Helden und schenkt dem schwer verwundeten Mann eine Silberlira.

Kaum gewinnen die Kameraden des Erzählers an Konturen - wie sein Studienfreund Mastini, mit dem er über Homer diskutiert, wie der beliebte Offizier Santini oder wie der Offizier Avvelini, der letzte Überlebende aus Lussus alter Truppe, dem er am Sterbebett den Brief seiner Verlobten vorliest - sind sie oft auch schon tot. Ohne sich an dem Grauen des Krieges zu laben, entwickelt "Ein Jahr auf der Hochebene" einen starken Sog: Emilio Lussu versteht es, die Bedingungen des Tötens zu vermitteln.

In einer besonders bestechenden Episode schildert der Schriftsteller, wie er gemeinsam mit einem Kameraden zu einem neuen Abschnitt vordringt, von dem aus der Blick auf die Schützengräben der Österreicher frei gegeben ist. Sie beobachten, wie die gegnerischen Soldaten Kaffee trinken, sich Zigaretten anzünden und mit Verpflegung versorgt werden. Die Erkenntnis, dass sich auf der anderen Seite dasselbe Leben abspielt wie diesseits der Frontlinie, macht das Töten plötzlich unmöglich: Die Österreicher sind keine Feinde mehr, sondern Menschen. Als dem Erzähler ein Offizier ins Visier gerät und ihm seine soldatische Pflicht bewusst wird, kann er nicht abdrücken.

"Die Gewissheit, dass sein Leben von meinem Willen abhing, ließ mich zögern. Es stand ein Mensch vor mir. Ein Mensch! Ich sah deutlich seine Augen und jeden Zug seines Gesichts. Der Morgen wurde heller, und hinter den Berggipfeln kündigte sich die aufgehende Sonne an. Auf einen Menschen schießen, so, auf ein paar Schritte… wie auf ein Wildschwein?"

Obwohl Lussu zu Beginn von der Notwendigkeit des Krieges überzeugt war, in der Befreiung von Triest und Trient die Vollendung der nationalen Einheit sah, der mythischen "Brigata Sassari" vorstand, sich als geschickter Taktiker im Kampf erwies und als hoch dekorierter Offizier aus dem Krieg hervor ging, wandelt er sich zu einem Antimilitaristen. Und genau dieser Wandel ist in "Ein Jahr auf der Hochebene" eingeschrieben.

Emilio Lussu, der nach dem Ersten Weltkrieg zu einem der profiliertesten Köpfe der sardischen Politik wurde, tritt uns in seinen Büchern als erzählender Historiograph entgegen. Der Jurist wurde unter Mussolini in die Verbannung auf die Insel Lipari geschickt, gelangte in einer spektakulären Fluchtaktion nach Frankreich und begründete die Widerstandsbewegung "Giustizia e Libertà", kämpfte ab 1943 in der resistenza und wurde Minister der ersten Nachkriegsregierung unter Feruccio Parri. "Ein Jahr auf der Hochebene" hat nie die Breitenwirkung von Hemingways "A farewell to the arms" (1929) oder Erich Maria Remarques "Im Westen nichts Neues" (1929) erzielt, es ist ästhetisch weniger ausgereift als Ford Madox Fords "Der Mann, der aufrecht blieb" (1926) - und doch ist es in seiner Kargheit eines der wichtigsten italienischen Bücher über den Ersten Weltkrieg.


Emilio Lussu, Ein Jahr auf der Hochebene
Aus dem Italienischen von Claus Gatterer.
Folio Verlag, Wien 2006, 238 Seiten