Mittelalterliche Geschichte

08.12.2009
"Millennium" ist ein Buch über mittelalterliche Geschichte. Autor Tom Holland rollt darin Konkurrenzen, Kabalen und Kriege auf.
Das erste Jahrtausend der neuen Religion, die von Jerusalem aus via Rom in die antike terra kam und heute weltweit unsere Zeitrechnung dominiert, war eine Art Schmiede, in der sich Christentum und Christenheit erfunden, geformt, Bahn gebrochen haben: Als Weltmacht, deren Kraft wie Anspruch sich speist aus der Angst vor dem Weltuntergang.

Das ist der Ausgangspunkt der narrativen "Pilgerreise" des jungen britischen Historikers Tom Holland, und das ist auch der eigentliche Titel seines neuen Buchs: "The End of the World and the Forging of Christendom". Das Wort forging enthält alle genannten Bedeutungen von formen bis fälschen, auch Waffenschmieden darf man assoziieren. Das sollte man wissen. Um "Europa" nämlich geht es ihm nicht.

Das erste Millennium zwischen dem Jahr 33, in dem der Religionsgründer den Märtyrertod starb, und dem Jahr 1099, in dem seine Kreuzzugskrieger Jerusalem "zurückeroberten", war überschwemmt von "Blut, Schweiß und Tränen". Es ging von Anfang an um das, was später als Investiturstreit in die Geschichte eingegangen ist: die Frage, "was des Kaisers" und "was Gottes" sei. Oder, wie wir heute sagen: um die Richtlinienkompetenz in Sachen Weltherrschaft. Darunter taten's beide nie, weder der jeweilige Papst als Stellvertreter Gottes noch der jeweilige römische Kaiser.

Das ist Hollands - nicht eben taufrische - zentrale These, deshalb findet er die ersten tausend Jahre ebenso "faszinierend" wie "unterschätzt". Also rollt er auf gut 500 Seiten Konkurrenzen, Kabalen und Kriege auf: im "Neuen Jerusalem" Rom - "Cäsarensitz" und "Stuhl Petri" -, im "Neuen Rom" Konstantinopel, bei Ottonen, Karolingern, Capetingern, Normannen, in Lateran und Abteien, bei Vertretern der nächsten neuen Religion, sarazenischen Jünger-Kriegern Mohammeds und Kalifen, die mit Spanien dem damals äußersten Westen zu unchristlicher kultureller Blüte verhalfen. Getrickst, gehetzt, gemetzelt wird untereinander wie gegen gemeinsame Feinde.

Das alles ist lebendig geschildert, oft in saloppem, geschickt eingedeutschtem new millennium speak mit leicht spöttischem britischen tongue-in-cheek-Unterton. Auch das "Volk", das "kleine Mönchlein" treten auf, und häufig sitzt man lesend in zugigen Burgen und Trossen, sogar mitten im Kopf, Herz, sogar in der Adrenalinpumpe irgendeines Herrschers im 7. oder 9. Jahrhundert.

Holland verfährt nach der bewährten BBC-Doku-Fiction-Methode: Fakten "barrierefrei" formulieren und mit Spielszenen anreichern. Seine lockere Gedankenprosa ist allerdings nicht immer gefeit gegen rassistisches Missverständnis. "Mohammed", heißt es an einer Stelle, und man ist nicht sicher, wer genau das jetzt denkt, "war in Wahrheit (...) der Gründer des kranken, sich wie eine Seuche ausbreitenden Aberglaubens der Sarazenen."

Holland hat aber noch eine zweite These, sie eröffnet das Buch. Am 28. Januar 1077 trat Papst Gregor VII., indem er Kaiser Heinrich IV. im Büßerhemd aus der Kälte vor dem Burgtor zu Canossa und vom Bann erlöste, die Revolution los, der wir das Abendland samt säkularem Staatsverständnis verdanken. Er kam zwar bald darauf selbst weg - durch Heinrich -, weshalb britische Historiker der These Absagen ganz ohne tongue-in-cheek erteilen. Nicht-Fachleute könnte sie dennoch zu aktuellen Gedankenspielen anregen: Wie und wann ist im Islam ein Abschied vom Gottesstaat denkbar, welche Stellvertreter seines Gottes könnten endlich Breschen für seine Säkularisierung schlagen?

Spannende Fragen, ohne Überheblichkeit zu stellen: Unser "christlicher Westen" war - das zu schildern, ist Hollands große Stärke - bis weit ins Mannesalter selbst ein extrem fundamentalisches, bellizistisches Balg.

Besprochen von Pieke Biermann

Tom Holland: Millennium. Die Geburt Europas aus dem Mittelalter
aus dem Englischen von Susanne Held
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2009, 518 Seiten, 29,90 Euro