Mitreißend und farbig

Rezensiert von Martin Tschechne |
Ein riesiges Gebiet von der heutigen Türkei bis nach Indien, die arabischen Staaten, Iran, Irak und Afghanistan: Der Autor beschreibt die islamische Welt als unbekannte Mitte. Es gelingt ihm, den Leser in diese wenig vertraute Welt hineinzulocken.
"Mitte" ist ein relativer Begriff. Mitte setzt Nachbarschaft voraus und auch den Wunsch, mit denen "außen" in Kontakt zu treten. Auf Europa trifft das – historisch gesehen – nur bedingt zu, viel weniger noch auf China, das gern so genannte "Reich der Mitte". Über Jahrhunderte, ja Jahrtausende hinweg waren beide Ursprungsorte der großen Weltkulturen auf sich selbst bezogen: geografisch eher am Rand gelegen, vor allem aber nur eingeschränkt bereit dazu, Kontakte aufzunehmen und sich in der Interaktion mit näheren oder ferneren Nachbarn selbst zu definieren und weiter zu entwickeln. Unsere Weltsicht ist bis heute eurozentristisch.

Ganz anders die Mitte, die Tamim Ansary in seinem Entwurf einer "Globalgeschichte aus islamischer Sicht" vorstellt: Sie liegt tatsächlich in der Mitte zwischen den Epizentren der Weltgeschichte, zwischen China und dem Mittelmeerraum – der Kontakt zu den Nachbarn ist also vorgegeben, ob es um Eroberung und Unterwerfung geht, um Handel und Geschäft oder einfach um den Wunsch, etwas vom Leben der anderen zu erfahren, ihre Kultur zu erkunden und, wer weiß, vielleicht etwas davon zu lernen.

Mittendrin. Und doch, so Ansarys erste These, ist das riesige Gebiet von der heutigen Türkei bis nach Indien, die arabischen Staaten, der Iran, der Irak, Afghanistan – doch ist es eine "unbekannte Mitte". Selbst der Autor war verblüfft, als er auf die Landkarte blickte:

"Rein von der Fläche her betrachtet, ist die islamische Welt größer als Europa und die Vereinigten Staaten zusammengenommen. In früheren Zeiten bildete dieser Raum eine politische Einheit, und das Bewusstsein dieser Einheit und Einzigartigkeit ist unter vielen Muslimen bis heute lebendig. Wenn ich mir die Landkarte ansehe, dann frage ich mich noch immer, wie irgendjemand am Vorabend des 11. September 2001 daran zweifeln konnte, dass der Islam in der Weltgeschichte eine bedeutende Rolle spielt."

Ansarys zweite These also: Genau da liegt der Fehler. Wir kennen diese Weltregion und ihre Geschichte zu wenig, wir achten sie zu gering, und vor allem: Wir nutzen nicht die Chancen, die sich aus Kenntnis und Achtung ergeben könnten. Immerhin stand die Wiege der Menschheit in Mesopotamien, und immerhin waren es die spezifischen Verhältnisse dort, die erstmals das Bedürfnis nach Planung aufkommen ließen, nach Kommunikation über den eigenen Gesichtskreis und die eigene Zeit hinaus, das Bedürfnis nach wirtschaftlichem Denken, einem funktionierenden Postwesen, nach Diplomatie und Politik.

Es gilt also, erstens, fundamentale Lücken auszugleichen, und zweitens, den Leser in diese ihm zu wenig vertraute Welt hineinzulocken. Ihn zu verblüffen, zu faszinieren, ihn neugierig zu machen und dabei gut zu unterhalten. Ansary erweist sich da als Idealbesetzung.

Geboren wurde er 1948 in Afghanistan, seine Mutter war finnisch-jüdischer Herkunft; er selbst ist gläubiger Moslem und lebt – in San Francisco. Arbeitet dort als Herausgeber eines Schulbuchverlages und weiß also sehr genau, dass Lesen nur dann bildet, wenn es Freude macht. Und wirklich: Ansary erzählt mitreißend und farbig, voller Details und Pointen. Von dem Mann beispielsweise, der als Zeuge für einen Hadith, ein Wort des Propheten Mohammed, nicht mehr in Frage kam, weil er sein Pferd geschlagen hatte. Oder von Sultan Mahmud, der schlau genug war, die klugen Köpfe seines Reiches um sich zu versammeln, etwa den Dichter Firdausi, dann aber einen sehr menschlichen Fehler machte:

"In seiner Verstiegenheit bot Mahmud dem Dichter ein Goldstück für jedes Reimpaar des fertigen Gedichts. Er war nicht schlecht erstaunt, als Firdausi ihm schließlich das längste Gedicht präsentierte, das je ein einzelner Mann geschrieben hatte: ‚Das Buch der Könige’ bestand aus mehr als 60.000 Reimpaaren. ‚Habe ich Gold gesagt?’ fragte der Sultan stirnrunzelnd. ‚Ich habe Silber gemeint. Ein Silberstück für jedes Reimpaar.’"

Bitte eintreten also in eine Welt von immer wieder verblüffendem Reichtum. Eine Welt von tiefer Gläubigkeit und hohem moralischen Anspruch. Ansary schildert Zeiten üppigster Blüte in Wirtschaft und Kultur – und tiefen Zweifel an der eigenen Identität, schildert rohe Gewalt – und Machtlosigkeit gegenüber der Erosion des Glaubens und nagender Dekadenz.

Und trotzdem: Die Dimension des Nicht-Verstehens ist monumental. Es gibt eine Stelle in dieser so freudig anderen "Globalgeschichte", da scheint auch den offenen und optimistischen Ansary die Zuversicht zu verlassen. Die Stelle liegt am Ende des Buches, der Leser ist in der Gegenwart angekommen. Die Attentate vom 11. September sind geschehen, in Afghanistan stehen westliche Soldaten und fundamentalistische Taliban einander unversöhnlich gegenüber – da schreibt der Autor:

"Eine Seite klagt an: ‚Ihr seid dekadent!’ Und die andere erwidert: ‚Wir sind frei." Diese beiden Positionen widersprechen einander nicht, sie gehen schlicht aneinander vorbei. Jede Seite erkennt die andere lediglich als Figur ihrer eigenen Erzählung."

Eine Entmutigung? Vielleicht ja. Vor allem aber eine ehrliche Bilanz. Und genau da liegt die Chance, die dieses so famos erzählte Buch bietet: Unsere eigene Geschichte wird mal an den Rand gerückt und allenfalls von außen betrachtet. Und die Fremde gibt sich zu erkennen als ebenso dicht gewoben, von Niederlagen gebeutelt und Triumphen bestrahlt, ebenso menschlich und ebenso ausweglos. Ist das vielleicht keine Basis für Gemeinsamkeit?

Tamim Ansary: Die unbekannte Mitte der Welt. Globalgeschichte aus islamischer Sicht
Campus Verlag, Frankfurt 2010
Cover: Tamim Ansary: "Die unbekannte Mitte der Welt. Globalgeschichte aus islamischer Sicht"
Cover: "Tamim Ansary: Die unbekannte Mitte der Welt. Globalgeschichte aus islamischer Sicht"© Campus Verlag