Miteinander und voneinander lernen

Von Ita Niehaus · 31.08.2013
In die Drei-Religionen-Schule gehen Kinder jüdischen, christlichen und muslimischen Glaubens. Im Alltag zeigt sich: Es ist nicht immer einfach ist, die Bedürfnisse aller zu berücksichtigen. Trotzdem kommt das bundesweit einzigartige Konzept bei Schülern, Eltern und Lehrern gut an.
Freitagmorgen in der Drei-Religionen-Schule mitten in Osnabrück. Hell und freundlich ist das Klassenzimmer. Auf den Tischen liegen Schulbücher, Hefte und Etuis mit Buntstiften. An den Wänden hängen neben der Tafel ein paar selbst gestaltete bunte Poster mit Fotos von Lebensmitteln. "So essen Muslime, Christen und Juden" - steht da drauf.

Zena:"Das mag Mama. Im Boot liegen und lesen. Sie liest eine Gruselgeschichte."

Auf dem Stundenplan: Gruppenarbeit. Schulleiterin Birgit Jöring, eine schlanke, engagierte junge Frau in Jeans und Bluse, übt mit Zena. Genauso wie andere Erstklässler, lernt auch Zena lesen, schreiben und rechnen. Was der siebenjährigen Muslima besonders gut gefällt?

Zena: "Das Malen und die Pause und dass Lia auch ist auf der Schule und das wir bei Religion immer so viel basteln."

Am gleichen Tisch sitzen Rachel und Ayleen.

Rachel: "Ich helfe Ayleen. Hier ist so ein Pfeil und dann muss man gucken, ob noch so ein anderes Wort in den Wort versteckt ist..."

Ganz konzentriert beugt sich Ayleen über ihr Schulbuch.

Ayleen: "Ich bin Christin, und sie ist Jüdin. Dann hat sie eine andere Religion einfach. Ich weiß gerade nicht alles, was ihre Religion ist, aber ich weiß was von meiner Religion. Ich habe ein Zeichen, das Kreuz."

Alltag in der Drei-Religionen-Schule. Seit fast einem Jahr machen Juden, Christen und Muslime gemeinsam Schule. Das interreligiöse Experiment wurde aus der Not heraus geboren. Zu wenige Kinder meldeten sich an der katholischen Johannisschule an. Sie wird in einigen Jahren schließen müssen. Bis dahin teilen sich die Johannisschule und die Drei-Religionen-Schule das Gebäude. Die Drei-Religionen-Schule ist ein Angebot für Eltern, die besonderen Wert auf die religiöse Erziehung legen, sagt Birgit Jöring:

"Das größte Ziel ist, dass wir den Kindern Toleranz mitgeben möchten. Unabhängig davon, welcher Religion, welcher Herkunft mein Mitschüler ist. Das zweite Ziel ist auch die Offenheit und die Neugierde."

Toleranz, Offenheit und Neugier fördern - das kann und muss natürlich auch eine staatliche Schule. Auch werden inzwischen an immer mehr Grundschulen muslimische Kinder in ihrem Glauben unterrichtet. Die Drei-Religionen-Schule ist jedoch in freier Trägerschaft und ist daher nicht zu weltanschaulicher Neutralität verpflichtet. Das heißt, die Kinder erleben die eigene und die fremde Religion auch außerhalb des Religionsunterrichts im Schulalltag. Das fängt schon bei den Lehrern an. Mit zum Team gehören die muslimische Religionslehrerin Annett Abdel-Rahman und der jüdische Religionslehrer Sebastian Hobrack.

Annett Abdel-Rahman: "Wir sind beide auch als solche erkennbar, also mit Kippa und Kopftuch, für die Kinder ganz normal. Und wir sind nicht nur in unserer Funktion dort als Religionslehrer, sondern als Mensch und Lehrer. Wir schimpfen genauso, wir sind am Spielplatz die Aufsicht und wir haben noch anderen Unterricht. Das heißt, wir werden als ganz normale Menschen wahrgenommen, was in anderen Schulen erst mal nicht so ist.""

Sebastian Hobrack: "Wir haben eine Zielsetzung, die meiner Meinung nach die Schule einzigartig macht. Wir denken, dass Religion nicht verbannt gehört aus dem öffentlichen Raum. Sondern wir wollen diesen Raum schaffen, künstlich schaffen in der Schule, um zu üben, wie man mit dem heißen Eisen Religion im öffentlichen Raum umgeht. Weil wir denken, dass die Religion viel Fruchtbringendes zur Gesellschaft beizutragen hat."

"Hier kommt man wirklich zusammen"
Einmal in der Woche gibt Sebastian Hobrack seinen beiden Schülern jüdischen Religionsunterricht. Rachel und Irakli lesen einen Text aus der Thora, der hebräischen Bibel. Im ersten Schuljahr haben sie das Alphabet gelernt. Auf Deutsch und Hebräisch.

Horback: "Auf der einen Seite haben sie es besonders gut. Es ist ein Privileg, den Lehrer so für sich allein zu haben. Auf der anderen Seite denke ich, dass niemand so intensiv arbeiten muss wie die beiden. Sie schlagen sich wacker."

Horback: "Judentum lernen, heißt Thora lernen. Traditionelles Lernen."

Auch wenn sich die Jungen und Mädchen im Unterricht regelmäßig über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede ihres Glaubens austauschen, der Religionsunterricht wird getrennt angeboten. Ganz bewusst. Die Kinder sollen erst einmal ihre eigenen religiösen Wurzeln kennenlernen. Das findet auch Judith Vogel, die Mutter von Rachel, gut:

"Wir leben sowieso in einer christlichen Umwelt. Da bekommt sie schon genug mit. Auch die muslimische Gemeinschaft ist natürlich deutlich größer als die jüdische Gemeinschaft. Von daher ist es mir wichtig, dass meine Tochter in ihrer eigenen Tradition gestärkt wird. Und es kommt hinzu, zumindest für uns als kleine Minderheit, dass ich schon an anderen Schulen Befürchtungen hätte, dass meine Tochter da möglicherweise allein wäre. Dass sie von anderen Kindern anders behandelt werden würde, als das hier der Fall ist."

Nicole Ebner hat zwei Kinder. Ihre Tochter Ayleen geht zur "Drei-Religionen-Schule," ihr älterer Sohn war auf einer anderen Grundschule in Osnabrück.

"Wo er in der Grundschule war, da konnte man schon sehen, auch wenn man ausländische Familien hatte, man ist doch in Gruppen geblieben. Es ist schon ein bisschen mehr das Getrenntsein. Und das ist jetzt komplett anders. Jetzt kommt man hier wirklich zusammen, man verabredet sich tatsächlich auch. Man geht auch noch einen Schritt weiter."

Doch die trialogische Grundschule ist auch umstritten. Es gab im Vorfeld Debatten im Osnabrücker Stadtrat. Auch Lehrer der Johannisschule standen dem Konzept ablehnend gegenüber. Integration werde an jeder öffentlichen Schule auch geleistet, so die Kritik unter anderem. Inzwischen haben sich die Wogen geglättet. Johannisschule und Drei-Religionen-Schule arbeiten zusammen unter einem Dach, teilen sich nun auch das Lehrerzimmer. Nach wie vor wird jedoch darüber diskutiert, ob so eine Schule überhaupt Sinn macht. Die Schulleiterin Birgit Jöring:

"Ich denke, man kann Integration auf ganz vielen Wegen erreichen, und ich spreche das auch überhaupt keiner Schule ab und würde auch nicht behaupten, dass wir da einen Königsweg gefunden haben. Aber ich denke schon, unsere Schule wird dadurch besonders, dass die Kinder das Gefühl haben, dass ihre eigene Religion einen ganz besonderen Stellenwert hat."

Eine Grundschülerin geht über den Schulhof der "Drei-Religionen-Schule" in Osnabrück
Eine Grundschülerin geht über den Schulhof der "Drei-Religionen-Schule" in Osnabrück© picture alliance / dpa / Friso Gentsch
Gegenseitige Rücksicht lernen
Der evangelisch-lutherische Kirchenkreis Osnabrück ist nicht mit im Boot. Im Beirat, in dem alle drei Religionen vertreten sind, sitzt Pastor Günther Baum von der reformierten Gemeinde. Er vertritt die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen.
Baum: "Die Debatte, ob evangelische Kirche so etwas von vornherein ausschließt mitzumachen, hat vielleicht auch den Hintergrund, dass die evangelische Kirche gesagt hat, wir wollen eigentlich unsere Kräfte als Christen, christliche Lehrer, Pfarrer einsetzen in öffentlichen Schulen und nicht den Rückzug in private Schulen. Wollen das nur, wenn es Experimente sind, die etwas ganz Besonderes sind. Und unter diesen Vorzeichen ist die Drei-Religionen-Schule ein Experiment, wo evangelische Kirche ganz gut mitmachen kann."

Mittagspause. Schüler und Lehrer essen immer gemeinsam. Dieses Mal hat die Köchin Eintopf zubereitet. Garantiert "halal und kosher style". Also nach muslimischen und jüdischen Speisevorschriften. Das heißt zum Beispiel, milchige und fleischige Speisen werden getrennt, Schweinefleisch ist ganz gestrichen. "Halal" und "Kosher" - für die Kinder ist das inzwischen normal. Wenn Ayleen Ebner Freundinnen nach Hause einlädt, überprüft sie vorher sicherheitshalber schon mal ihre Mutter.

Nicole Ebner: "Nach dem Motto, was habe ich denn eingekauft. Keine Gummibärchen, weil da könnte Gelatine drin sein. Also sie überprüft mich, weil ihr das wohl offensichtlich auch klar ist, dass sie schon mehr Ahnung hat als ich selber. Das ist auch ein interessantes Phänomen. Ne Freundin kommt, und die soll sich hier wohlfühlen. Und das von seinem siebenjährigen Mädchen - das finde ich schon toll."

Annett Abdel-Rahman : "Ich glaube, die Kinder haben gelernt, auf einander Rücksicht zu nehmen. Als gegeben hinzunehmen, dass jemand anders ist. Und das finde ich auch ganz wichtig, dass es nicht darum geht bei uns, zu vermitteln, wir sind alle gleich. Weil wir sind nicht alle gleich, jeder Mensch ist eigen und individuell. Sondern zu vermitteln, so verschieden wie wir sind, ist das eigentlich ganz wertvoll für uns. Weil jeder hat seine Facetten, die ihm auch nützen, und es ist nicht schlimm, wenn jemand anders ist."

Das gemeinsame Weihnachtsfest – eine Herausforderung
Abschlusstreffen der Projektwoche des zweiten Halbjahres. Rachel, Zena, Irakli, Ayleen und die anderen Kinder stehen im Kreis und zeigen ihren Eltern, was sie über die verschiedenen Gotteshäuser erfahren haben. Die Erstklässler haben kleine Kirchen, Moscheen und Synagogen gebaut. Und sie haben als Gastgeber einander die verschiedenen Gotteshäuser selbst vorgestellt. Zena hat ihren Mitschülerinnen und Mitschülern die Ibrahim-Al-Khalil Moschee gezeigt.

"Also der Imam, der ruft dann immer den Gebetsruf ins Mikrofon. Und der Mihrab zeigt immer in die Richtung nach Mekka."

Interreligiöses Lernen besteht aus vielen kleinen Schritten. Auf den ersten Blick sind sie oft ganz unspektakulär. Und vieles, was zunächst alltäglich erscheint, ist es auf einmal doch nicht mehr. Welche Weihnachtslieder zum Beispiel können Juden, Christen und Muslime gemeinsam singen?

Annett Abdel-Rahman: "Wir sagen zwar schon, dass wir uns alle in der abrahamitischen Tradition befinden, aber das Bild von Gott ist nicht hundertprozentig das Gleiche. Es gibt viele religiöse Weihnachtslieder, wo man von Gott und Jesus spricht oder Jesus als Gottes Sohn. Das wäre für muslimische Kinder kein Lied, das ihrer Lebensauffassung entspricht, und für jüdische Kinder auch nicht."

Annett Abdel-Rahman und ihre Kollegen machten sich auf die Suche.

"Wenn man nur über Gott singt, beispielsweise, dann kann man das machen. Und da sind wir jetzt noch dabei, einen Liederkanon zusammenzustellen."

Es steckt viel Zeit und Arbeit in dem Projekt. Bereits ein Jahr vor Schulbeginn diskutierten die Lehrer mit den Mitgliedern des Beirats über das Konzept. Sie fanden gemeinsam Wege, wie etwa die Feste der drei Religionen im Schulalltag integriert werden können. Und stehen dann im Praxistest doch immer wieder vor neuen Herausforderungen. Winfried Verburg vom Bistum Osnabrück:

"Zum Beispiel die Frage, wie kann es gelingen, dass wir uns nicht nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zurückziehen? Konkret in der Vorbereitung auf Weihnachten, auf Advent. Kann ich das in der Klassengemeinschaft feiern, ohne den jüdischen und islamischen Kindern zu nahezutreten? Wenn ich Morgenrituale habe am Adventskranz und auch Geschichten vorlese, sollen die dann rausgehen? Das wollten wir eigentlich nicht. Diese Grenzziehung, das ist eine permanente Herausforderung. Das ist anstrengend, aber auch hochspannend und ertragreich."

An ihre Grenzen sind sie noch nicht gestoßen beim Ausloten von Kompromissen. Auch in diesem Fall nicht. Obwohl die Juden ungefähr zur gleichen Zeit Chanukka feierten. Ein Fest, das an die Wiedereinweihung des Zweiten Tempels in Jerusalem erinnert.

Winfried Verburg: "Morgens wurde auch – das Judentum hat ja abends die Kerze entzündet – aber in der Schule eben morgens, den Adventskranz gab es selbstverständlich und den Chanukkaleuchter, auch die Kerze entzündet ohne das Segensgebet, das einer Christin nicht zusteht. Aber es wurde erzählt, was machen Juden dabei."

Annett Abdel-Rahman: "Und wir haben dann ein Fenster im Klassenraum, wenn ich mich richtig erinnere, mit einem Chanukka Ständer verziert, und ein Fenster mit einem Weihnachtsbild - so dass wir im Grunde allen beiden gerecht werden konnten und nicht der Schwerpunkt nur auf einem Fest lag."

Winfried Verburg: "Der Respekt vor der fremden Religion ist sicherlich ausgeprägter, als wir es uns nach einem ersten Schuljahr erwartet hätten."

Die Kinder sind da manchmal schon ein Stück weiter als ihre Eltern. Rua Kwairah, die Mutter von Zena, macht sich dafür stark, dass sich Eltern künftig öfter treffen und austauschen.

"Die Eltern sind nicht alle sensibilisiert, was dieses Thema angeht. Und es kommt manchmal schon vor, dass ein Kommentar kommt über die andere Religion: Ah, das ist typisch so und so. Und das wünscht man sich in dem Moment eigentlich nicht hier. Nirgendwo sowieso, aber insbesondere hier passt das überhaupt nicht."

Annett Abdel-Rahman: "Wir hatten auch die spannende Situation, dass bei den Juden auch die israelische Fahne mit auf dem Tisch stand. Und das war für muslimische Eltern sicherlich auch nicht so einfach, da es zum Beispiel auch Eltern gab, die beide mit dem Palästina-Konflikt in Berührung gekommen sind. Auf der jüdischen und der islamischen Seite. Und die das dann als Anlass genommen haben, miteinander zu reden."

Freitagmittag. Nach und nach kommen die Mütter und auch einige Väter, um ihre Kinder abzuholen. Inwieweit die Schule tatsächlich Dialogkompetenz und religiöse Identität stärken kann, ist noch offen. Das Bistum plant eine Studie in den nächsten Jahren. Sicher ist: Das Konzept kommt an. 40 Erstklässler wurden im August in zwei Klassen eingeschult. Nicole Ebner wünscht sich vor allem eines: Dass ein Signal ausgeht von der Drei-Religionen-Schule in Osnabrück.

"Nicht nur für Schulen, sondern für die Menschen im Allgemeinen. Dass wir wirklich in einem Zeitalter leben, in dem man umdenken sollte, was Kriege auch betrifft. Wenn man das auf Dauer so leben würde, wie wir das jetzt erleben, dass wir dann auch wirklich, ja, vielleicht einen Stein für die Zukunft setzen."
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