Mit Striptease-Predigten zum rechten Glauben

Martin Dreyer im Gespräch mit Ralf Bei der Kellen · 25.02.2012
Vor 20 Jahren hat Martin Dreyer in Hamburg die Jugendbewegung Jesus-Freaks gegründet. In seiner Autobiografie erzählt er von seinen vielen aufsehenerregenden Aktionen. Wenn Jesus heute leben würde, wäre er "garantiert in den Medien zugange", meint Dreyer.
Ralf Bei der Kellen: Der heute 46-jährige Martin Dreyer hat in seinem Leben viele Höhen und Tiefen erlebt. Als er 18 Jahre alt war, kam ihm der Sinn seines Leben abhanden – alle Partys waren gefeiert, alle Drogen ausprobiert. Während eines Gottesdienstes in der Hamburger St.-Petri-Kirche, zu dem ihn seine Eltern und Geschwister mitnahmen, fand er eines Tages plötzlich und unerwartet zu Gott. Um seinen neu gefundenen Glauben weiterzugeben, gründete er 1992 die Jesus-Freaks, eine christliche Jugendbewegung. Drei Jahre später wurde Dreyer in der evangelikal-charismatischen Anskar-Kirche zum Pastor ordiniert. Bald kamen jeden Freitag circa 800 Besucher in den Gottesdienst der Freaks auf St. Pauli. Bis 1998 leitete Dreyer die Freaks als Pastor und erster Vorsitzender.

Das Medieninteresse an dieser ungewöhnlichen Glaubensgemeinschaft war groß. Ebenfalls groß war dann das Interesse am Rückfall Dreyers in die Drogensucht. 2005 machte er dann wieder von sich Reden – mit der Veröffentlichung der "Volxbibel", für die er das Wort Gottes in eine jugendliche Sprache übersetzt hatte. Jetzt hat Dreyer eine Autobiografie vorgelegt. Der Titel: "Jesus-Freak. Leben zwischen Kiez, Koks und Kirche". Herr Dreyer, handelt es sich bei ihrem Buch auch um eine Art "Lebensbeichte"?

Martin Dreyer: Lebensbeichte, das Wort wäre jetzt nicht so aus meinem Mund gekommen. Nein, ich würde nicht sagen, dass es eine Beichte ist in dem Sinne. Mir ging es eher darum, Leuten zu sagen erst mal, mit diesem Gott zu leben, das geht wirklich, das ist superspannend und superaufregend – darum geht es ja im Großteil des Buches –, aber dann auch, man kann fallen, man auf die Fresse fallen, man kann richtig im Dreck wieder landen, auch als Christ, aber es gibt auch immer einen Weg da raus. Es gibt eine Möglichkeit, dass Gott einen da rausholt, und es muss nie zu Ende sein, egal, wo man ist mit seinem Leben.

Bei der Kellen: In Ihrem Buch enthüllen Sie ja wirklich viele Details, zum Beispiel diese Geschichte, die Sie erzählen, dass Sie im Offenen Kanal Hamburg diese Sendung haben, und Sie denken darüber nach, wie kann ich die Leute jetzt während meiner Predigt hier bei der Stange halten. Und dann fangen Sie an, sich auszuziehen, bis auf die Unterhose, und predigen immer weiter. Warum ist öffentliche Aufmerksamkeit so wichtig für Sie?

Dreyer: Also ich glaube einfach, dass man, wenn man Christ ist, mit Jesus lebt, dann hat man irgendwie auch was zu sagen, man hat irgendwie eine Botschaft. Man hat diesen Gott irgendwie entdeckt und will, dass ganz viele Leute diese Entdeckung auch machen. Ich finde, dass es nichts ist, was man nur so im Privaten, im Geheimen nur für sich so alleine machen soll. Natürlich ist es teilweise privat, aber auf der anderen Seite drängt es mich schon dazu, das Leuten zu erzählen, das bekannt zu machen.

Und ich glaube, Jesus, wenn der heute als Mensch hier auf der Welt wäre, er wäre garantiert in den Medien zugange. Er würde die Medien benutzen, weil die Medien heutzutage einfach die lauteste Stimme in der ganzen Welt haben. Und wenn man Menschen erreichen will, dann würde man das auf jeden Fall über die Medien tun.

Bei der Kellen: Und dafür eben auch solche Aktionen in Kauf nehmen quasi?

Dreyer: Ja, mit dieser Striptease-Predigt, das war einfach die Idee, dass ich festgestellt habe, dass ganz viele Leute ja irgendwie nur durch die Kanäle zappen, und dann hab ich mir überlegt, wie kann man das hinkriegen, dass mal jemand auch im Offenen Kanal hängen bleibt. Und da hab ich dann gedacht, okay, probier doch einfach mal ein Striptease und zieh dich irgendwie aus. Nun hatte ich nicht so den Alabasterkörper, aber hab's dann einfach gemacht, und es hat wirklich funktioniert. Wir haben so hohe Einschaltquoten gehabt wie noch nie zuvor, und in der Predigt ging es letztendlich darum, dass man sich auch blamieren kann. Wenn man eine Sicherheit in Jesus gefunden hat, dann wird es nicht mehr ganz so wichtig, was andere Menschen über einen denken, und das habe ich damit dann auch demonstriert, indem ich mich da ausgezogen habe.

Bei der Kellen: Sie schreiben in Ihrem Buch auch, dass Ihre Familie eigentlich immer sehr religiös, sehr christlich, sehr fromm gewesen ist. Wenn das nicht so gewesen wäre, wären Sie trotzdem Jesus-Freak geworden?

Dreyer: Das ist eine Frage, die kann man schwer beantworten. In meiner ersten Zeit, wo ich mich von meinem Elternhaus abgegrenzt habe und dann so als Vorstadtpunk in Hamburg rumgelaufen bin, da würde ich schon sagen, das war eigentlich auch schon ein Ausdruck nach einer Suche, nach irgendwie mehr als das, was ich zu Hause erlebt hab. Ich wusste, dass dieses spießige Leben, was meine Eltern gelebt haben, da hatte ich keinen Bock drauf, das wollte ich auf keinen Fall, und ich dachte, es muss irgendwie noch was geben, wofür es sich lohnt, was einen erfüllt, was Sinn macht, was auch Spaß macht. Und diese Suche nach diesem Leben in der Punkszene, wo auch immer, hat letztendlich dann in Gott das erste Mal eine Antwort gefunden, als ich so 19 war.

Bei der Kellen: Finde ich sehr interessant, weil die Punkszene und auch diese Kiezszene in Hamburg – eben auch Stichwort St. Pauli ist ja was, was man von außen immer so als sehr weltlich wahrnimmt –, und dass da jetzt plötzlich der christliche Glaube reinkommt und auch so sich so eine große Gruppe zusammenfindet, das ist was, was mir nicht so richtig klar werden will, wie das geklappt hat.

Dreyer: Na, das war halt so: Als die Jesus-Freaks angefangen haben und diese Medienwelle über uns geschwappt ist und wir immer größer wurden, immer größer wurden und auch immer mehr Aufmerksamkeit auf uns lag, da haben wir so ein Selbstbewusstsein entwickelt und haben irgendwie gedacht, Mensch, wo würde Jesus denn jetzt heute in Hamburg sein. Er wäre garantiert nicht in der Mönckebergstraße oder irgendwie in einer der Hauptkirchen, sondern er wäre garantiert aus St. Pauli und er würde alle Prostituierten beim Vornamen kennen und würde die Junkies am Hauptbahnhof jeden Tag umarmen.

Und deswegen haben wir gedacht, Mensch, Jesus-Freaks, das muss auch da sein, wir müssen aus St. Pauli sein. Und dann haben wir uns da halt umgeguckt und nach Räumen Ausschau gehalten und sind dann letztendlich ja fündig geworden und haben viele, viele Jahre dann auf St. Pauli mitten auf der Reeperbahn unser Zentrum gehabt.

Bei der Kellen: Haben sich die Jesus-Freaks am Anfang eigentlich auch so als notwendige Erneuerung einer in ihren Strukturen ja doch sehr veralteten Kirche begriffen, die eben die Jugendlichen nicht mehr erreichen kann?

Dreyer: Wir hatten eigentlich nie so die Kirche im Fokus. Wir hatten eigentlich eher so die Szenen im Fokus und auch uns selbst. Also wir spürten, dass wir in den etablierten Landeskirchen, aber auch Freikirchen uns nicht so frei bewegen können und auch nicht so beten können, nicht so mit Gott leben können, wie wir das eigentlich wollten. Wir haben das ja versucht. Wir waren dann in so einer Freikirche, und dann hat der Pastor gesagt, ihr dürft ihr aber nicht drin rauchen, und wenn, dann müsst ihr vorher auch mal den Platz fegen. Und wir wollten einfach, dass die bei uns im Gottesdienst auch rauchen dürfen, dass es zumindest eine Raucherecke gibt und dass man auch Alkohol bei uns im Gottesdienst trinken darf, dass die Leute so kommen können, wie sie sind, dreckig, verschwitzt, stinkig, sich da auf den Boden packen können, das war uns unheimlich wichtig.

Und deswegen haben wir so um diese Idee herum, um diese Vision herum dann die Jesus-Freaks gebaut. Also es war nie so eine Antiaussage oder eine Antibewegung, wir wollen jetzt anders sein als die katholische Kirche oder so, das hat sich nicht so bei uns in den Köpfen abgestellt. Wir wollten einfach etwas anders machen, auch andere Menschen erreichen und das aber trotzdem halt mit diesem Jesuston.

Bei der Kellen: Die "Volxbibel" war dann ja ein schon richtiger Verkaufsschlager. Können Sie mal was zu den Zahlen sagen, wie sieht es aktuell aus?

Dreyer: Die "Volxbibel" ist wirklich total abgegangen. Wir waren – ich weiß nicht genau wann, nach vier oder fünf Wochen waren in der säkularen Bestsellerliste auf Platz 19, also Taschenbuch-/Sachbuch-Bestsellerliste, und auf der christlichen Bestsellerliste waren wir viele Wochen auf Platz eins und haben jetzt insgesamt mit dem Alten Testament die 200.000er-Marke überschritten. Und das ist für einen christlichen Verlag schon so ein Harry-Potter-Standard, das ist schon richtig, richtig viel.

Bei der Kellen: Sie haben ja selber auch eine ganze Zeit lang in einem Jugendzentrum gearbeitet in Köln und haben auch sonst viel Jugendarbeit gemacht. Gab es denn eigentlich auch mal Reaktionen von muslimischen Jugendlichen, die dann ja genau wie alle anderen in so Jugendzentren vertreten sind, auf die "Volxbibel"?

Dreyer: Ja klar, gab's auf jeden Fall. Gerade in dem Jugendzentrum, wo ich gearbeitet habe, waren sehr viele Türken, und die sind ja alle muslimisch mehr oder minder aufgewachsen. Also ich war überrascht, dass gerade von denen eher positive Reaktionen gekommen sind. Denn ich hab mir dann auch überlegt, wenn man so was mit dem Koran machen würde, dann hätte man wahrscheinlich ein großes Problem. Aber die waren eher so drauf, dass sie schon interessiert waren an Gott und auch am Glauben und auch am christlichen Glauben, aber eine normale Bibel nie und nimmer gelesen hätten – also auch nicht Luther, sowieso, aber auch die modernen Übersetzungen wie "Die Hoffnung für alle" oder so. Ich hab das probiert. Der Text interessiert sie nicht, die Sprache interessiert sie nicht, und sie würden es auch einfach nicht verstehen.

Und bei der Übertragung und Übersetzung von der "Volxbibel" habe ich in meinem Team immer so einen imaginären Mehmet gehabt – so haben wir den genannt –, und wir haben uns immer gefragt, würde Mehmet das verstehen, wie würde Mehmet diesen Satz finden, würde Mehmet dieses Bild nachvollziehen können. Und so haben wir im Grunde auch immer in diese Richtung von Mehmet übersetzt, also besonders beim Alten Testament. Und der hat's auch gelesen, er hat auch Texte gelesen, und wenn er was gut fand, dann hatte ich das Gefühl, okay, wir haben auf jeden Fall irgendwas richtig gemacht.

Bei der Kellen: Also den gab es wirklich, den Mehmet?

Dreyer: Den Mehmet gab es wirklich, ja.

Bei der Kellen: Also es gab dann ja relativ extreme Reaktionen auf die "Volxbibel", interessanterweise ja auch genau eigentlich aus der Ecke, aus der Sie ja auch mal ursprünglich herkamen, nämlich eben gerade aus dieser charismatisch-evangelikalen Ecke. Warum war das so?

Dreyer: Na, also die Kritik kam nicht aus der charismatisch-evangelikalen Ecke, die kam eher besonders aus den Brüdergemeinden und aus so einer fundamentalistischen, charismatischen, pfingstlerischen Ecke, und in beiden war ich ja eigentlich nie zu Hause. Und die Kritik war, dass man befürchtet hat, ich würde das Wort Gottes durch den Schmutz ziehen, durch den Dreck ziehen, besonders weil wir halt auch Fäkalausdrücke in der "Volxbibel" drin haben, wobei ich dann ganz oft im direkten Gespräch immer wieder feststellen musste mit den Kritikern, dass kaum jemand die "Volxbibel" wirklich gelesen hat. Das ging immer so, ja, ich hab gehört und jemand hat erzählt und da hat mal ein Pastor in der Predigt das und das erzählt, aber wirklich drin gelesen haben die wenigsten.

Und man kann zu der Kritik, also gerade mit den Fäkalausdrücken, eigentlich auch ganz sachlich Argumente bringen, die diese negative Kritik eigentlich entkräftet. Das wissen die wenigsten Leute. Also die Kritiker wussten es nicht, dass zum Beispiel auch in Philipper III 8 Paulus im Original einen Fäkalausdruck benutzt, er sagt nämlich – und so hat Luther das auch übersetzt: Ich achte alles andere als Dreck oder Kot oder Scheiße im Gegensatz zu dem, was ich in Christus gefunden habe. Dieses Wort Kot, Scybalon, heißt eigentlich Scheiße oder Kot, also ist im Grunde ein Fäkalausdruck.

Bei der Kellen: Und dann gibt es noch diese schöne Stelle, wo Sie das Salz der Erde mit einem Kühlschrank übersetzt haben.

Dreyer: Ja, das hat auch sehr zu Diskussionen geführt, aber der Gedanke dahinter ist, dass diese Wirkung von Salz damals zu Jesu Zeiten nicht die Hauptwirkung hatte, wie wir das heute denken. Wir benutzen Salz, weil die Suppe mal ein bisschen schmackhafter sein soll, aber Salz war zu Jesu Zeiten vor allen Dingen Konservierungsmittel. Und diese Wirkung wollten wir mit dem Kühlschrank einfach mal ein bisschen herausstreichen, dass Jesus damit sagen wollte, dass die Christen auch dafür da sind, diese Welt zu erhalten.

Damit haben wir allerdings schon diesen Salzeffekt, dass sich Salz auch ausbreitet und dass, wenn man Salz in die Suppe tut, dass es sich auswirkt. Der ist da so ein bisschen dran verloren gegangen, und darum haben wir dann in einer späteren Fassung – die "Volxbibel" wird ja immer wieder revidiert – haben wir jetzt, glaube ich, aktuell drin stehen beides, also sowohl den Kühlschrank als auch das Salz.

Bei der Kellen: Sie schreiben jetzt in dem neuen Buch, dass selbst Papst Benedikt Stellung zur "Volxbibel" bezogen habe und deren Einsatz für missionarische Zwecke unter Jugendlichen befürworte. Da frage ich mich, was war das für Sie für ein Gefühl, also von dem doch eher konservativen Oberhaupt der katholischen Kirche für etwas so Progressives gelobt zu werden?

Dreyer: Ja, ich hab mich richtig gefreut. Ich war auch verwundert. Ich hatte ihm halt eine "Volxbibel" geschickt und hätte nicht damit gerechnet, dass ich eine Antwort bekomme. Und in diesem Brief schreibt mir sein Sekretär, dass der Papst die "Volxbibel", ja, drin gelesen hat, sich damit auseinandergesetzt hat und dass er erkennt, dass es für missionarische Zwecke gedacht ist, und das findet er gut. Aber im zweiten Teil des Briefes muss er sich ja auch natürlich doch davon abgrenzen, und schreibt dann, dass für die katholische Kirche es aber nicht infrage kommt, dass so eine Bibel im Gottesdienst vorgelesen wird, weil – dann zitiert er so ein Vatikanisches Konzil, Dei Verbum von 1800-Schießmichtot, keine Ahnung.

Und sagt dann halt, dass für die katholische Kirche die "Volxbibel" also im Gottesdienst nicht zu gebrauchen ist. Aber dafür war sie auch nie gedacht. Insofern hab ich das schon als eine positive Reaktion gewertet. Und interessanterweise, ich lese diesen Brief ganz oft in meinen Lesungen vor, und das ist immer ein Highlight. Der Papst, man kann ihn toll finden, man kann ihn nicht mögen, er ist ja nun wirklich auch ziemlich konservativ in seinen Meinungen, aber er hat doch in Deutschland eine ziemlich hohe Akzeptanz. Wenn ich dann erzähle, dass ich dem Papst einen Brief geschrieben habe und er mir geantwortet hat, gibt es immer ein großes Raunen in den Kirchen, alle finden das ganz interessant und spannend.

Bei der Kellen: Einmal Jesus-Freak, immer Jesus-Freak?

Dreyer: Ja, glaube ich, einmal Jesus-Freak, immer Jesus-Freak. Also ich werde auch mit 80 und 90, denke ich, irgendwie immer noch in meinem Denken jemand sein, der ein bisschen verrückt ist, ein bisschen anders denkt, anders machen will, anders drauf ist als andere Leute. Ich glaube schon, dass ich irgendwie immer ein Freak sein werde. Freaksein heißt ja nicht unbedingt, einen Ohrring tragen und schwarze Klamotten und Boots oder so, sondern das ist ja eher eine Herzenseinstellung, und die kann man, glaube ich, nicht so schnell ablegen. Ich werde sie nicht so schnell ablegen, selbst wenn ich mal fünf Kinder habe und irgendwann bei der Deutschen Bank hinterm Tresen arbeiten werde – was ich nicht tun werde, denn ich bin ja kein Banker. Ich bin ja nur Diplompädagoge und Pastor und Schriftsteller.

Bei der Kellen: Vielen Dank, Martin Dreyer, für das Gespräch!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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