Mit Revolver und Reclamheft

Von Stefan Keim · 02.09.2010
Regisseur Nurkan Erpulat, Jahrgang 1974, bringt einen schalldichten Klassenraum auf die Bühne. Hier zwingt die Lehrerin mit der Pistole in der Hand, ihre Schüler Schillers "Kabale und Liebe" zu spielen.
Eine redet, keiner hört zu. Lehrerin Sonia rattert Daten und Fakten über Friedrich Schiller herunter, während die Schüler reden, streiten, telefonieren. Und manchmal schlagen sie aufeinander ein. Als einem der Jugendlichen eine Pistole aus dem Rucksack fällt, greift Sonia zu. Endlich kann sie sich Gehör verschaffen. Mit der Waffe in der einen Hand und Reclamheften in der anderen zwingt sie die Schüler, Schiller zu spielen.

Nicht einfach nur die Texte runter zu rattern, sondern richtig zu spielen. Fast alle haben Migrationshintergrund, Sonia übt gnadenlos die Aussprache, treibt ihnen den Akzent aus. Und plötzlich geschehen Wunder, die Schüler verschmelzen mit den Rollen, können die Texte auswendig, verstehen, dass "Kabale und Liebe" mit Ehrenmorden zu tun hat und die "Räuber" von der Wut der Ausgegrenzten handeln. Aber hält diese Begeisterung für die deutsche Klassik an, wenn die Lehrerin mal die Waffe weg legt?

Der 1974 in Ankara geborene Regisseur Nurkan Erpulat hat einen französischen Fernsehfilm bearbeitet, der auf Festivals und nach seiner Ausstrahlung auf arte große Resonanz bekam. "La Journée de la Jupe" spielt in einer Brennpunktschule in einem Pariser Vorort und ist ein klassischer Entführungsthriller mit anrückender Polizei und psychologisch genau gezeichneten Charakteren.

Erpulat und Dramaturg Jens Hillje konzentrieren den für die Ruhrtriennale und das Ballhaus Naunynstraße in Berlin entstandenen Text auf den Klassenraum. Er ist schalldicht, deshalb hört draußen niemand die Schüsse und Schreie. Doch sonst spielt Realismus in der Aufführung keine Rolle. Gleich zu Beginn ziehen sich die Jugendlichen um, verwandeln sich in die Schüler, die dann später Schiller spielen. Theater auf dem Theater auf dem Theater, die Ebenen sind mehrfach gebrochen. Der Anfang besteht aus ausgestellten Klischeegesten.

Auch die Profischauspielerin Sesede Terziyan kleidet sich um, zieht sich die Rolle der Lehrerin an. Mit großer Kraft und wenigen Zwischentönen jagt sie hysterisch und wild um sich schießend die Schüler ins Theaterspiel. Vom Schillerkiller wandelt sie sich zur Sarazinette, beschimpft pauschal den Islam als Unterdrückungsreligion, geißelt die Unwilligkeit der Jugendlichen, sich zu integrieren und etwas Sinnvolles aus ihrem Leben zu machen.

Doch das alles bekommt weder Gefährlichkeit noch Spannung. Weil keine psychologisch nachvollziehbaren Charaktere auf der Bühne stehen, sondern Abbilder, Zitate, Chiffren. Die Aufführung erzählt nicht von Menschen, sondern spielt Möglichkeiten und Modelle durch. Die vielen Wendungen am Ende – jeder hat mal die Waffe in der Hand – wirken nur noch absurd und unmotiviert. Auch die Enthüllung, dass Lehrerin Sonia eine überassimilierte Türkin ist, kommt da wenig schockierend. Dabei liegt darin die Chance, von einer mehrfach gebrochenen Persönlichkeit zu erzählen.

Nurkan Erpulat gibt der Aufführung noch einen weiteren surrealen Rahmen. Über der silbrig glänzenden Spielfläche hängt ein Konzertflügel, der gelegentlich von selbst spielt. Dann stellen sich die Schüler brav auf und singen deutsche Volkslieder in romantischen Tonsätzen, Texte über die Heimat.

Unterhaltsam und anregend ist "Verrücktes Blut" ohne Frage. Aber es fehlt der Mut, an Schmerzpunkte zu gehen, weil alles nur ein Spiel ist. Oder fast alles, denn als die Lehrerin eine Schülerin zwingen will, ihr Kopftuch abzunehmen, bekommt die Aufführung große Intensität. Weil die junge Nora Rim Abdel-Maksoud völlig authentisch in ihre Rolle einsteigt und ihr Kopftuch verteidigt als ginge es um ihr ganzes Sein, ihre Identität.

Zum Thema:

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