Mit Musik in die Wirklichkeit eingreifen

Von Albrecht Dümling · 06.09.2012
Als Komponist der DDR-Hymne wurde Hanns Eisler im Osten verehrt, im Westen verachtet. Dass er auch anderes geschaffen hat, dass er zu den besten Schülern Arnold Schönbergs gehörte und zu den engsten Mitarbeitern Bertolt Brechts, wurde lange übersehen.
Mit brüchiger Stimme, freundlich und fast zärtlich sang Hanns Eisler jenes Lied, das er 1950 als Gegenentwurf zur deutschen Nationalhymne komponiert hatte. Der Anmaßung eines "Deutschland, Deutschland über alles" im ursprünglichen "Deutschlandlied" setzte der Text von Bertolt Brecht Bescheidenheit, Anmut und Verstand entgegen. Nach dem Ende des Hitler-Staates waren Eisler und Brecht aus dem amerikanischen Exil nach Deutschland zurückgekehrt, um dort beim Wiederaufbau mitzuhelfen.

Der 1898 in Leipzig geborene Hanns Eisler war in Wien aufgewachsen, wo er bei Arnold Schönberg Komposition studierte. Obwohl er zu dessen begabtesten Schülern gehörte, missfiel ihm, dass der Lehrer sein Werk von der Wirklichkeit abschottete. Eisler wollte keine eigene elitäre Kunstwelt schaffen, sondern sich mit dem Alltagsleben auseinandersetzen. Für ihnen gehörten Musik und Politik zusammen.

"Als ich drauf kam, dass die Politik sich so für die Musik interessiert, habe ich mich als Musiker für die Politik interessiert. Ich habe das nur umgedreht. Denn es ist ja ganz töricht zu glauben, dass der Musiker nichts mit Politik hat. Selbst wenn er das glaubt, dann muss ich ihm sagen, aber die Politik hat ja viel mit der Musik zu tun.Umgekehrt ist richtig."

In Berlin, wohin Eisler 1925 übergesiedelt war, fand er Kontakt zur damals sehr aktiven Arbeiterkultur. Um ein breites Publikum zu erreichen, vereinfachte er seine musikalische Sprache. Er griff Jazzrhythmen, Arbeiterlieder und Agitprop-Elemente auf und verband sie mit dem Formdenken der Schönberg-Schule. Aus dieser Synthese entstand ein neuer Ton voll Vitalität und Intelligenz, der aufhorchen ließ.

Die Nationalsozialisten zerschlugen die blühende Arbeiterkultur der Weimarer Republik. Vergeblich erhoffte sich Eisler von der Widerstandsbewegung den Sturz des Hitler-Regimes. In Hollywood hielt er sich mit Filmmusikarbeiten über Wasser, bevor er 1948 nach Europa zurückkehrte. In der DDR wurde er als Arbeiterliedkomponist und Schöpfer der Nationalhymne gefeiert, während seine anspruchsvolleren Werke lange unaufgeführt blieben. Entsetzt erfuhr Eisler von den Stalin’schen Verbrechen, denen auch enge Freunde zum Opfer gefallen waren. In seiner letzten Komposition, den "Ernsten Gesängen" für Bariton und Streichorchester, setzte er sich mit diesem Thema auseinander und fragte, wann endlich ein Leben ohne Angst möglich sei.

Als der Dramaturg Hans Bunge den Komponisten am 14. August 1962 interviewte, hatte dieser seine "Ernsten Gesänge" gerade fertiggestellt. Er bewertete sie als kritische Lebensbilanz:

"Wer die Zukunft haben will, muss die Vergangenheit bewältigen. Er muss sich reinigen von der Vergangenheit, um klar und sauber in die Zukunft zu blicken."

Drei Wochen nach diesem Interview starb Hanns Eisler am 6. September 1962 an den Folgen eines Herzinfarkts. Er wurde auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beigesetzt, gleich neben dem Grab seines Freundes Bertolt Brecht.

Es sollte noch Jahre dauern, bis die gesamte Breite des Schaffens von Hanns Eisler in seiner überraschenden Vielfalt entdeckt wurde. Inzwischen wird er als einer der originellsten und produktivsten Komponisten des 20. Jahrhunderts geschätzt. Als nach der deutschen Wiedervereinigung Wolf Biermann vorschlug, Eislers Lied "Anmut sparet nicht noch Mühe" zur neuen Nationalhymne zu machen, griffen prominente Fürsprecher diesen Vorschlag auf. Fast wäre es dazu gekommen.