Mit Kunst Tabus aufbrechen

Von Gerd Brendel · 07.11.2006
Straßenkinder, Ehrenmorde, Familienflucht-Geschichten von einem Ende des osmanischen Reichs zum anderen: Die türkische Künstlerin Selda Asal sucht sich für ihre Installationen und Projekte garantiert immer die schwierigsten Themen aus. Gerd Brendel hat sie in ihrer Zimmergalerie in Istanbuls Party-Viertel getroffen.
Mitten in Istanbuls Ausgehbezirk Beyoglu, gleich hinter der U-Bahn Station Tünel zwischen Bars und Clubs geben drei hell erleuchtete Fenster den Blick auf eine Hochparterre- Wohnung frei. Die Wände sind vollgeklebt mit Zeitungsausschnitten und Bildern.

"Hier sieht's aus wie in einer dreidimensionalen Zeitung: die Wände, die Decke, die Fenster - alles ist voller Text und Bilder."

Und mitten drin Selda Asal, Künstlerin, Ausstellungsmacherin und Wohnungseigentümerin. Mit großer Brille in Sweatshirt und Jeans sitzt vor sie ihrem Laptop in der Wohnung und sieht so aus, als hätte sie seit Tagen kein einziges Mal von ihrem Monitor aufgeschaut. Sie zündet sich eine Zigarette an, kritzelt etwas auf ihre Handflächen und erklärt ihr Reich:

"Das ist der erste Ausstellungsraum in der Türkei, der von den Künstlern selbst geleitet wird."

Und Seldas Erfindung. Als sie sich vor 15 Jahren zum ersten Mal in die Gegend verlief, gab es hier noch keine einzige Bar:

"Hier wohnten Dealer und Prostituierte. In dem Haus hier wohnte eine Puffmutter, mit ihren alten Kolleginnen. Und ich dachte mir: warum sind die hier, und wir nicht."

Selda vertraute auf ihren Instinkt und kaufte Wohnungen zu Schleuderpreisen. Mittlerweile hat sie alle vermietet, außer ihrem Atelier und dem "apartment-project" im Erdgeschoss im ehemaligen Altersheim für Prostituierte.

"Das ist der erste Ausstellungsraum in der Türkei, der von den Künstlern selbst geleitet wird."

Genau, und das mit Erfolg: Zur letzten Vernissage kamen tausend Leute. Ob es am Thema lag?

"All about lies- Alles über Lügen"

Ein typisch türkisches Thema findet Selda:

"Immer wenn ich im Ausland ausstelle, werde ich nach der Türkei gefragt, nach meiner Meinung zu den Armeniern, zu den Kurden, zu Fundamentalismus."

Fragen, auf die es in der Türkei eine Menge verlogene Antworten gibt oder gar keine.

"Es gibt immer noch Tabuthemen, wo es ungeheuer schwierig ist , da öffentlich Partei zu ergreifen, ohne Schwierigkeiten zu bekommen."

erklärt der Publizist und Seldas Beinahe-Nachbar Ömer Erzerem.

"Ein tabuisiertes Thema ist zum Beispiel eine Föderation oder ein Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes. Das ist zum Beispiel ein Tabuthema oder eine Debatte über die Ereignisse von 1915. War das ein Völkermord an den Armeniern oder was ist da passiert?"

Selda und die anderen 60 Künstler, Schriftsteller, Maler, Filmemacher vom Apartment-Project beantworten die Frage nicht, aber sie führen die einfachen Antworten nach dem Schema: "Die eigene Nation hat immer Recht" ad absurdum. An der Wand lehnt ein verwelkter Friedhofskranz für den "verdienstvollen Premierminister Erdogan" Auf einem Bildschirm lässt ein griechischer Filmemacher die angeblich türkischen Bewohner eines Dorfes in Griechenland ihre Geschichte erzählen - in der einzigen Sprache, die sie fließend beherrschen: einem Roma-Dialekt. Aber für eine eigene Identität als Roma ist weder in der offiziellen Geschichte Griechenlands noch der Türkei Platz.

Was es heißt, zwischen die Mahlräder der Geschichte zu geraten, haben auch die Azals erfahren. Seldas Familie stammt aus dem Balkan:

"Meine Großeltern kommen vom Balkan. Sie waren osmanische Türken. Im Rahmen des so genannten Bevölkerungsaustauschs nach dem Ersten Weltkrieg wurden sie nach Izmir umgesiedelt. In ihrer Familie kam der ganze Balkan vor: Albanier, Bosnier, Slawen."

Genauso wie Demokratie und Menschenrechte. Als Künstler in der Türkei kommt man um die Geschichte nicht herum, sagt Selda:

"Man sollte sich verantwortlich für die eigene Vergangenheit fühlen, und die Dinge tun, die der Staat und seine Politiker unterlässt."

Zum Beispiel die Geschichte des eigenen Viertels recherchieren.

"Die Gegend war hier sehr bürgerlich. Hier wohnten Griechen und Juden, bis nach den Ausschreitungen vom 6. und 7. September 1955 gegen die nicht-islamische Bevölkerung viele auswanderten. Die Stadtverwaltung verfolgte eine versteckte Vertreibungsstrategie: Sie sorgte dafür dass sich hier Prostitution ansiedelte und schmutzige Geschäfte abliefen. Ich weiß das, weil ich die Geschichte zu dem Gebäude recherchiert habe."

Am Wochenende über fünfzig Jahre später herrscht in den Lokalen links und rechts vom Apartment-Projekt Hochbetrieb. Ein befreundeter Fotograf schaut vorbei. Er hat ein Geschenk für Selda dabei: Eine Aufnahme mit einem der alten Bürgerpaläste:

"Meine Ideen machen mein Zimmer hell."

Hat er auf die Rückseite geschrieben.

"Du, Selda, hast mit Deinen Ideen schon eine Welt hell gemacht."

Wie fühlt man sich als Leuchtfeuer der politischen Kunstszene in Istanbul? Selda schüttelt ärgerlich die langen Haare - eindeutig. Die Frage nach der Bedeutung sollen andere beantworten, jetzt ist der Szene-Leuchtturm hungrig. Alle wichtigen Termine hat sie sich auf die Hand notiert.

Die Verabredung mit dem Journalisten aus Deutschland, die Vitamintabletten, und die eine Podiumsdiskussion nächste Woche, nur nicht, dass Rafik seit einer Stunde einen Tisch frei hält. Aber das macht nichts. Bei Rafik um die Ecke finden Selda und ihre Clique immer einen Platz und bekommen alles für die Hälfte - seit Rafik seine Tische in Seldas Vorgärtchen stellen kann. Gut, dass auf Rafiks Wort mehr Verlass ist als auf Politiker-Antworten.