Mit kaum zu erschütterndem Glauben

Rezensiert von Joachim Jauer · 01.03.2009
Von 1982 an lud die evangelische Kirche in der DDR zu Friedensandachten ein und entwickelte sich zum Hort der Opposition. In Leipzig wurde die Nikolaikirche dafür der zentrale Ort, und Pfarrer Christian Führer ein wichtiger "Schutzherr". Führer schildert in "Und wir sind dabei gewesen" die selbst erlebten Ereignisse, die zum Mauerfall führten: nicht immer gut strukturiert, aber authentisch.
Im Bonner Haus der Geschichte ist ein Schild zu besichtigen, wie es an jeder Ortseinfahrt steht, schwarze Schrift auf gelbem Grund: "Leipzig, Heldenstadt der DDR." Das Pappschild erinnert an die Montagsdemonstrationen im Herbst 1989, die das SED-Regime ins Wanken brachten. In den Monaten bis zum Jahrestag des Mauerfalls am 9. November werden sich viele zu Wort melden und auf ihren Anteil an der friedlichen Revolution verweisen.

Der Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche, Christian Führer, hat das jetzt getan und er tat es zu Recht. Denn ohne Führers Montagsgebete seit 1982 hätte es keine Montagsdemonstration in Leipzig gegeben, vielleicht eine Donnerstagsdemo in Dresden. In seiner Autobiografie "Und wir sind dabei gewesen" erinnert der Pfarrerssohn aus Sachsen an das Leben eines jungen Christen in der DDR. Als der junge Pionier Christian zur Teilnahme an der atheistischen Jugendweihe genötigt wurde, setzte er sich gegen den kommunistischen Lehrer durch, ohne dass das Folgen gehabt hätte. Er schreibt:

"Mir wurde die weltanschauliche Bedeutung bewusst, die hinter der Idee der Pioniere stand. Entschlossen ging ich zu meinem Klassenlehrer und sagte: 'Ich lege alle meine Ämter nieder.' Fürwahr eine eigenartige Ausdrucksweise für einen Sechstklässler. Damit trat ich aus der Pionierorganisation aus."

Ausgestattet mit einem offenbar kaum zu erschütternden Glauben schildert Führer, wie er bereits als Schüler und später als Student der Theologie selbstbewusst die Auseinandersetzung mit der kirchenfeindlichen Ideologie der SED führte - und irgendwie immer wieder bestand. Häufig beruft er sich in seinem einfach erzählten Lebensbild auf Texte der Bibel.

Nach seiner ersten Pfarrstelle in einer dörflichen Gemeinde wurde er, der sich dreimal bitten ließ, im Oktober 1980 Pfarrer von St. Nikolai, der 122. seit der Reformation, wie er betont. Anfangs taten sie in der Nikolaikirche Dienst zu dritt. In den Jahren nach der Wende wurde bekannt, dass Pfarrer Nummer drei in der Kirche gepredigt, aber bei der Staatssicherheit regelmäßig gesungen hatte.

Führers Erzählweise ist flüssig zu lesen, aber nicht immer strukturiert. In seinen Erinnerungen überlagern sich häufig Ereignisse verschiedener Jahre.

1980 hatte der Evangelische Kirchenbund in der DDR eine sogenannte Friedensdekade beschlossen. Hier sah Pfarrer Führer, gerade an die Nikolaikirche berufen, eine erste große Chance, seinen Protest gegen die Hochrüstung in West und Ost zu formulieren. Zur gleichen Zeit hefteten sich junge Leute das Abzeichen "Schwerter zu Pflugscharen" an die Jacke, angelehnt an die Friedensvision der Bibel:
"Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Kein Volk wird gegen das andere das Schwert erheben, und sie werden fortan nicht mehr lernen, Krieg zu führen."

Dieses Abzeichen, das bis heute in St. Nikolai zu sehen ist, ärgerte die SED. Denn es zeigte listig einen Muskelmann, der sein Schwert krumm schlug. Das Bild aber hatte der sowjetische Bildhauer Jewgeni Wutschetitsch für die Vereinten Nationen in New York geschaffen.

Außerdem hatte die Partei den "Frieden" in ihrer Propaganda "abonniert". Friedensgebete, Protest gegen die Militarisierung des Alltags mit einem sowjetischen Vorbild und dann noch Verkündung von Gewaltlosigkeit, das betrachtete die SED als Konkurrenz und Provokation.

"Speziell für uns im Osten hieß das: Gegen die Militarisierung des Denkens in der schulischen Erziehung der DDR. Im Wehrkundeunterricht war das Militante des Systems allgegenwärtig. Die Gesellschaft für Sport und Technik war im Grunde eine paramilitärische Organisation, welche die Schüler der elften Klassen in so genannte Lager für Zivilverteidigung schickte."

Von 1982 an lud die evangelische Kirche in der DDR zu Friedensandachten ein. In Leipzig wurde die Nikolaikirche dafür der zentrale Ort. Wer in die Kirche kam, erlebte - anders als im realsozialistischen Alltag - einen Frei-Raum.

"Hier ist ein Ort der Freiheit. Hier bist du der Mensch, der du bist. Hier unterbricht dich keiner. Hier hören dir alle zu. Jeder einzelne kommt zu Wort."

Führer brachte an der Nikolaikirche das Schild "Offen für alle" an, ein Ärgernis für die Genossen, die die Kirche lieber geschlossen als offen sahen.

Verdienstvoll sind Führers Schilderungen der Auseinandersetzung zwischen Ausreisewilligen und Basisgruppen. Die einen sahen keinen Ausweg, als die DDR zu verlassen, die anderen hofften und planten Reformen des Sozialismus. Der Pfarrer gründete einen Gesprächskreis "Hoffnung für Ausreisewillige", der den verzweifelten Menschen ein Forum bot. Auch deshalb wurde Christian Führer ständig von den Behörden vorgeladen, doch blieb es bei Drohungen gegen seine Arbeit und seine Person. Dass er ein "Operativer Vorgang" der Staatssicherheit war, verstand sich im SED-Staat von selbst. Er hatte den Stasi-Decknamen "Igel", wohl wegen seines Bürstenhaarschnitts und weil er auch sonst Stacheln zeigte. Es gab "agents provocateurs" der Stasi, die versuchten, in der Kirche Krawall anzuzetteln.

Lange Zeit ließ Führer Berichte der Westkorrespondenten nicht zu. Als ARD und ZDF dann 1989 Bilder von der Nikolaikirche zeigen konnten, wusste die DDR-Bevölkerung "flächendeckend" Bescheid, schreibt er aber voller Anerkennung. Beklemmend seine Schilderung vom Aufmarsch der bewaffneten Einheiten, der wahllosen Festnahme von Teilnehmern der Montagsgebete im Herbst 1989, die schließlich zu den machtvollen, friedlichen Montagsdemonstrationen führten.

"Und wir sind dabei gewesen . . ." In seiner Darstellung konzentriert sich der Autor auf Ereignisse, bei denen er dabei gewesen ist. So sucht der Leser vergebens eine angemessene Würdigung der bedeutenden Vorarbeit von Papst Johannes Paul II. in Polen, von der kämpferischen Solidarnosc, von Ungarn und seinen mutigen Reformern, ohne die der Exodus der Zehntausenden über Budapest, Warschau und Prag wohl nicht möglich gewesen wäre.

Erst die Flucht und Honeckers zynischer Satz "Wir weinen ihnen keine Tränen nach" hat die verzweifelten Menschen massenhaft und überall auch in die Kirchen fliehen lassen. Führers Werk trägt den Untertitel: "Die Revolution, die aus der Kirche kam". Ein Blick vom Turm der Nikolaikirche zu den Mitstreitern in vielen anderen DDR-Kirchen, in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei hätte dem Buch gut getan.

Christian Führer: Und wir sind dabei gewesen. Die Revolution, die aus der Kirche kam
Ullstein-Verlag, Berlin 2009
Christian Führer: "Und wir sind dabei gewesen"
Christian Führer: "Und wir sind dabei gewesen"© Ullstein Verlag