Mit intellektueller Eigenständigkeit gegen gedankliche Tabus

13.10.2006
Aus Anlass des 100. Geburtstags von Hannah Arendt erscheint ein Auszug ihrer Briefe an Karl Jaspers, den alten Lehrer, als Hörbuch. Was dabei fasziniert, ist die Kraft, mit der die US-amerikanische deutsche Jüdin darauf besteht, kritisch über historische wie sozial-psychologische Zusammenhänge zu reden, die Anfang der 60er Jahre politisch nicht opportun waren. Auf eindrucksvolle Weise gelesen werden die Briefe von der Regisseurin Margarethe von Trotta.
"Genf, den 16. Oktober 1956. Lieber Verehrtester. Was ich mir wirklich wünsche, wäre, einmal noch so zu sein, wie Sie meinen, dass ich bin."

Hannah Arendt an Karl Jaspers. Wenn der alte Lehrer und herausragende Vertreter der Existenzphilosophie einmal bemerkte, dass Verantwortung immer konkret sei, einen Namen, eine Adresse, eine Hausnummer hätte, dann kann seine 23 Jahre jüngere ehemalige Schülerin wohl als jemand gelten, die diese Verantwortungsethik nicht nur Ernst nahm, sondern sie auch lebte.

"Ich habe immer gern gelebt, aber so gerne, dass es immer weiter dauern sollte, wieder auch nicht. Mir war der Tod immer ein angenehmer Genosse. Ohne Melancholie. Krankheit wäre mir sehr unangenehm, lästig oder schlimmer. Was ich gern hätte, wäre ein anständiges Mittel zum eventuellen Selbstmord. Ich hätte es gern in der Hand. Du siehst, ich komme ins Schwatzen."

In diesem Brief geht es nicht um eine eitle Geste; es geht Hannah Arendt um die Selbständigkeit des Handelns wie es Denkens auch angesichts des Todes. - Diese Haltung kommt uns Hörern sehr nahe in der rund zwei Stunden langen Lesung. Was nicht nur an der gedanklichen Kraft der Briefe liegt, sondern auch an der Vorleserin: Margarethe von Trotta.

Der Regisseurin – früher bei Fassbinder oder Schlöndorff auch Schau-spielerin – hört man gern zu. Aber man spürt natürlich vor allem die geistige Affinität zu Hannah Arendt; früher, bei den Arbeiten zu ihrem "Rosa-Luxemburg"-Film, schreibt Margarethe von Trotta im Booklet zum Hörbuch, habe sie die Revolutionärin als wichtigste Frau und Denkerin des 20. Jahrhunderts empfunden; doch jetzt sei sie sicher, dass Hannah Arendt für uns heute die Wichtigere sei. Viele ihrer Gedanken würden jetzt erst verstanden und aufgegriffen. Arendts Theorie des Tota-litarismus´ oder der berühmte Konflikt um ihr bekanntestes Werk, den Bericht über den Jerusalemer Eichmann-Prozess.

"”New York, den 4. Oktober 1960. Ich will zum Eichmann-Prozess nach Israel. Und der New Yorker, eine sehr bekannte Zeit-schrift hier, hat sich bereit erklärt, mich zu schicken.""

1961 verfolgte Hannah Arendt drei Monate lang den Prozess und löste mit ihrem Buch "Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen" eine heftige Kontroverse aus, die auch im Zentrum dieses Hörbuches steht. Es war nicht allein der Begriff von der "Banalität des Bösen" angesichts eines führenden Bürokraten des Holocaust, für den Hannah Arendt kritisiert und beschimpft wurde; es war vor allem auch die Problematik der Kooperation jüdischer Funktionäre in den Zeiten der so genannten "Endlösung". Dies war Thema im Eichmann-Prozess. Somit war es auch Thema in Hannah Arendts Bericht. Ihr Fazit:

"Ich habe, ohne es zu wissen, an das jüdische Stück unbewältigter Vergangenheit gerührt. Es sitzen überall noch und vor allem in Israel ehemalige Judenrätler in hohen und höchsten Positionen."

Man mag als Nichtjude und als so genannter "Nachgeborener" die Situation Anfang der 60er Jahre in Israel, den USA und Deutschland nicht selbst erlebt haben, was aber auf faszinierende Weise bei diesen Briefen deutlich wird, das ist die Kraft, mit der die US-amerikanische deutsche Jüdin darauf besteht, offen und kritisch über historische wie sozialpsychologische Zusammenhänge zu reden, die Anfang der 60er Jahre politisch nicht opportun waren und - ich vermute - auch heute nicht opportun wä-ren.

In der Anfeindung, die die Jüdin Hanna Arendt von jüdischer Seite nach ihrem Prozessbericht erfuhr, steckt eine Menge Aktualität, die grundsätzlicher Natur ist: Was ist ein gedankliches Tabu, was darf gesagt werden, was darf dabei noch begründet werden, ohne dass reflexartig das Damoklesschwert der political correctness oder wie immer man die Tabuschwelle bezeichnet, auf den Sprecher niedersaust? Hannah Arendt - in einem ihrer Briefe an Karl Jaspers:

"Es ist ganz lehrreich zu sehen, was man mit Meinungsmanipulation erreichen kann. Und wie viele Menschen intellektuell oft auf hohem Niveau manipulierbar sind."

Nein, verbogen hat sie sich nicht, trotz Anfeindung und Ausgrenzung, unter der Hanna Arendet durchaus gelitten hat, wie man in den Briefen an Jaspers und einen langen, sehr kritischen Brief an Gershom Scholem hören kann. Wenn es um die Verarbeitung der jüdischen Geschichte geht oder um die McCarthy-Ära:

"Mir scheint, es ist nicht mehr möglich – wie vor wenigen Jahren – so vorbehaltlos für Amerika einzutreten. Wie wir es beide getan haben. Das heißt natürlich nicht, dass man in das europäische Konzert des Antiamerikanismus ein-stimmen dürfte. Aber die Gefahren sind klar. Wenn Mc-Carthy 1956 nicht Präsident wird, gibt es wieder eine gute Chance. Was aber hier möglich ist, sieht man jetzt."

Man hört hier natürlich deutlich, dass Margarethe von Trotta, die gerade ein Filmprojekt über Hannah Arendt vorbereitet, ein tiefes Verständnis und eine große Sympathie für die Gradlinigkeit und die unbedingte intellektuelle Eigenständigkeit dieser Frau hat. Es soll doch helfen – auch wenn man auf dem Hörbuchmarkt einiges zu hören bekommt, was vom Gegenteil zeugt -, es soll doch helfen, Texte zu verstehen, wenn man sie vorträgt.

Hannah Arendt, schreibt Margarethe von Trotta im Booklet zur Lesung, sei aktueller denn je, weil sie sich immer "nur an ihre eigene Anschauung und Erkenntnis" hielt und nicht – wie so viele andere - an eine Ideologie. Das ist in der Tat eine Haltung von großer Aktualität oder besser gesagt: von großer auch zeitgemäßer Notwendigkeit. Auch wenn die Ideologie heute nicht eine politische zu sein scheint, sondern sich – vermeintlich wertfrei - als Konsumismus gebärdet.

Rezensiert von Hartwig Tegeler


Hannah Arendt: "Ich will verstehen"
Lesung (Briefauswahl in Auszügen) mit Margarethe von Trotta
2 CDs mit Booklet (8 Seiten), Hoffmann und Campe Verlag, Gesamtlaufzeit 112 Minuten, 19,95 Euro