Mit erhobenem Stinkefinger

21.09.2009
Ryan Knighton ist ein literarisches Talent, das es auf lückenlos unterhaltsame Weise schafft, die Welt der Blinden zu erhellen und den Sehenden Lebenshilfe zu bieten.
"Ich werde oft gefragt, was ich am Blindsein am meisten hasse. Blind zu sein, wäre eine gute Antwort."

Unsere Wahrnehmung wird normalerweise zu 85 Prozent von dem gesteuert, was unsere Augen sehen. Wie sich aber ein Blinder fühlt und die Welt wahrnimmt, das hat der Kanadier Ryan Knighton, Jahrgang 1972, am eigenen Leibe erfahren.

Als Jugendlicher wuchs Knighton in dem Bewusstsein auf, hundertprozentig sehen zu können. Er fiel nur durch seltsame Autounfälle auf; einmal versuchte er zum Beispiel sein Auto in einem kleinen Flüsschen zu parken. An seinem 18. Geburtstag erhielt er die Diagnose Retinosis pigmentaria, eine angeborene Genmutation, bei der sich die Netzhaut nach und nach selbst zerstört. Knighton beschloss, den Prozess seiner vollständigen Erblindung, die einige Jahre dauerte, zu dokumentieren, heraus kam die Autobiografie "Augenzeuge", die auch verfilmt werden soll.

Drei Dinge zeichnen dieses Buch aus: Erstens, es sensibilisiert die sehenden Leser für die Kostbarkeit und Verletzlichkeit des eigenes Lebens und dessen derer, die behindert sind; zweitens hinterfragt es die Maßstäbe unserer Lebensphilosophie der Moderne, und drittens, es tut das mit bestem britischen Galgenhumor.

Der Autor wird zunächst zum bewussten Anti-Helden "dieser beschissenen Behinderung" - mit erhobenem Stinkefinger ignoriert er das zunehmende Erblinden und schließt sich stattdessen der örtlichen Punk-Szene an, wo es vollkommen egal ist, wie jemand aussieht und wo das Tanzen aus gegenseitigem Anrempeln besteht. Knighton betont ausdrücklich, dass er ohne diese Zeit in der Punk-Szene in Depressionen erstickt wäre.

Für Situationskomik bietet das Leben eines Dreiviertelblinden reichlich Stoff; eine Zeit lang hat Knighton eine Freundin, die annähernd taub ist. Die Ansage auf dem Anrufbeantworter lautet: "Hallo, wahrscheinlich sind wir gerade zu Hause, aber Jane hat wieder einmal das Klingeln nicht gehört, und ich kann den Apparat nicht finden. Nach dem Piepston könnt Ihr eine Nachricht hinterlassen oder rumkommen und mit suchen helfen."

Oder Knighton beschreibt ein chaotisches Ferienlager für Behinderte, wo der Pillen-Konsum höher ist als "auf einer guten Techno-Party". Sehr schön auch der One-Night-Stand-Date mit einer Frau, wo Knighton die Hausnummer nicht findet - kein Wunder, dass der Stoff verfilmt wird.

Knightons Anti-Haltung kippt und der Ton wird ernster, als er beginnt, einen Blindenstock zu benutzen. Aus der Beschreibung der Welt wird eine Beschreibung der Innensicht des Autors. Am Ende sitzt er blind bei Ikea, die Welt des "Ikealismus" ist mittlerweile schwarz, und es geht ihm im wahrsten Sinne des Wortes am Allerwertesten vorbei, ob er auf einem Designer-Sofa oder auf einem Sperrmüllsofa sitzt, bei Ikea oder in Platons Höhle.

Ryan Knighton ist ein literarisches Talent, das es auf lückenlos unterhaltsame Weise schafft, die Welt der Blinden zu erhellen und den Sehenden Lebenshilfe zu bieten. "Augenzeuge - Die Geschichte meiner Erblindung" ist ein Buch mit sehr viel Charme, ein liebenswertes Buch.

Und noch ein Tipp in Sachen blind: Im Oktober erscheint die Autobiografie des Hamburgers Saliya Kahawatte, der u.a. als quasi blinder Oberkellner im Hamburger Nobel-Hotel Atlantik gearbeitet hat: "Mein Blind Date mit dem Leben" (Eichborn Verlag).

Besprochen von Lutz Bunk

Ryan Knighton: Augenzeuge - Die Geschichte meiner Erblindung
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Hucky Meier
Rowohlt Verlag 2009
304 Seiten, 19.90 Euro