Mit Entsetzen Scherz getrieben

Von Ulrich Fischer · 09.07.2009
So politisch war Jan Fabre wohl noch nie. Der belgische Allroundkünstler - Choreograph und Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner - greift mit "Orgie de la tolérance" ("Orgie der Duldsamkeit") die Gleichgültigkeit von uns, seinen Zeitgenossen an.
Gleich in der ersten Szene liefern sich fünf Darsteller/Sänger/TänzerInnen einen wilden Masturbationswettbewerb: Wer zuerst fertig ist, bekommt Punkte. Fünf wie englische Landedelleute in Jagdkleidung auftretende Figuren, Vertreter der herrschenden Ideologie, feuern die Masturbatoren an, bedrohen sie, zeigen Gewehr und Peitsche: Leistung muss sein!

Die Konsumgesellschaft ist ein zweiter Gegenstand der Kritik: Schwangere setzen sich auf riesige Einkaufskörbe und beginnen zu gebären: Konsumgüter. Zum dominierenden Symbol wird der Phallus, er kommt in verschiedensten Materialen vor, auch in Gummiform, und kann als Nase getragen werden. Das erigierte Kunstglied in Mehl getaucht zeigt, wie Jan Fabre und seine Compagnie sich lustig machen über die Kokainschnupfer.

Blasphemisches darf nicht fehlen bei Fabre - Christus muss das Kreuz ablegen und ein Profildesigner kleidet den Erlöser neu ein - mit Sonnenbrille fürs Konsumzeitalter. Jesus ist cool! Am schwersten erträglich ist vielleicht eine Szene, in der sich ein Herr, dessen Sinne vom Abschreiten aller Reizhorizonte so stumpf geworden sind, dass er, um einen Kick zu bekommen, sich den Lauf seines Gewehrs ins Gesäß schiebt.

Die Provokationen stießen beim Publikum im ausverkauften Innenhof des Lycée St. Joseph auf Begeisterung - anstatt dass Fabre wegen seiner saftigen Provokationen aus der Stadt gejagt wurde, bekam er Riesenapplaus. Die repressive Toleranz, die Fabre bekämpft, kommt ihm zu Gute. Er wird seine Orgie, eine Collage, gegen die die Walpurgisnacht wie ein harmloser Betriebsausflug wirkt, auf bedeutenden Festivals in aller Welt zeigen. Er ist Bestandteil des Zirkus‘, den er angreift. Und dennoch ist das gattungsübergreifende Werk nicht wirkungslos. Es hält uns den Spiegel vor und warnt vor einer Toleranz, die den Feinden der Freiheit alle Freiheiten einräumt - Rassisten, Nazis, Perversen. Eines muss man trotz aller Fragwürdigkeit von Fabres Provokationen einräumen: seine Lust ist alles andere als affirmativ.