Mit der Zeitmaschine zu Oscar Wilde

Rezension von Jörg Magenau · 27.07.2006
Der amerikanische Science-Fiction-Autor Ray Bradbury ist mit dem Roman "Fahrenheit 451" bekannt geworden. Auch in seinem Erzählungsband lässt er die Figuren in die Vergangenheit reisen - mal durch eine Zeitspalte unter der Treppe, mal über stillgelegte Landstraßen. Eine der Figuren schickt er sogar zu seinen literarischen Vorbildern Wilde, Melville und Poe.
Ray Bradbury ist ein Autor von unverwüstlicher Kreativität. Mehr als 500 Kurzgeschichten, Erzählungen, Theaterstücke und Romane hat er geschrieben. Berühmt wurde er vor mehr als 50 Jahren mit dem Roman "Fahrenheit 451". Seither gilt er vor allem als Science Fiction- und Fantasy-Autor.

Sein jüngster Erzählungs-Band "Schneller als das Auge" belegt, dass das nur bedingt richtig ist. Kaum eine der 21 Geschichten, die in den späten 90er Jahren entstanden sind und nun erstmals auf deutsch vorliegen, handelt von technologischen Errungenschaften oder zukünftigen Welten. Wenn Zukunft vorkommt, dann ist es eine Zukunft von gestern.

Da gibt es zum Beispiel im 19. Jahrhundert einen Erfinder des Fahrrades, der von der Nachbarschaft in seinem amerikanischen Dorf für verrückt gehalten und verjagt wird. Eine andere Geschichte spielt in der Zukunft des Jahres 1999. Sozialisten, Demokraten, Libertäre, Abtreibungsbefürworter und andere Verdächtige werden verfolgt. Ein älteres Paar, das in einem abgelegenen Haus in New England lebt, versteckt eine verfolgte junge Frau im Verschlag unter der Treppe. Das Kabuff diente schon 1680, zur Zeit der Hexenverfolgung, als Versteck. Jetzt ist es eine Zeitschleuse, durch die die Verfolgte in der Vergangenheit verschwindet. Doch ob sie da sicherer ist?

Mit Science Fiction bekannt geworden, lässt Bradbury auch in seinem neuen Erzählungsband die Figuren durch Raum und Zeit reisen. Mal durch eine Kammer unter Treppe, mal über 20 Jahre stillgelegte Landstraßen.

Bradbury ist ein Meister der ersten Sätze. Seine Anfänge nehmen sofort gefangen. Häufig liegen die Protagonisten nachts im Bett und werden durch seltsame Geräusche wach. Mal ist ein Kratzen und Klopfen und Hämmern unter den Dielen. Mal ist es das Weinen einer geisterhaften Frau auf dem Rasen im Garten. Oder ein alter Mann wacht "mitten in der Nacht auf, weil er fremde Finger an seinem Hals spürt". Da ist es die eigene Frau, die ihn umzubringen versucht. Geträumtes und Reales gehen nahtlos ineinander über. Bradbury lässt nur einen schmalen Grat zwischen der sogenannten Wirklichkeit und Magischem stehen.

Oft ist es auch nur ein kleiner Spalt im Alltag, der ihn auf die Spur einer Geschichte bringt. In "Die andere Landstraße" macht eine Familie einen Ausflug und gerät vom vielbefahrenen Highway auf die alte Landstraße, die seit 20 Jahren unbenutzt ist. Sie kommen in ein Dorf, das seither von der Welt abgeschnitten ist und nur noch von ein paar alten Leuten bewohnt wird. Ob sie dort günstig ein Haus erwerben und sich im Abseits ansiedeln sollten? Am Ende kehren sie zurück in die Hektik des Großstadtlebens. Der Ausgang zu einem möglichen anderen Leben und zu einer anderen Zeit, der sich kurz geöffnet hat, ist wieder verschlossen.

Alles, was Bradbury erlebt, kann ihm zum Anlass einer Geschichte werden. Wenn er Vögel im Baum singen hört, dann denkt er darüber nach, was wäre, wenn sie richtig durchkomponierte Stücke singen würden. Das ist eine der schönsten Geschichten in diesem Band.

Im Nachwort gibt er darüber Auskunft, wie er morgens im Bett von Einfällen bestürmt werde, an den Schreibtisch stürze, um nichts zu verlieren, atemlos in die Tasten hämmere, und zwei Stunden später sei die Geschichte fertig. Das mag eine Selbststilisierung sein, doch daran, dass er ein schneller und wenig skrupulöser Schreiber ist, kann es keinen Zweifel geben. Man merkt es auch daran, dass das Niveau der Geschichten schwankt. Manche sind vielleicht etwas zu flott aufgeschrieben.

Ein zentrales Motiv des neuen Erzählungsbandes ist die Literatur selbst – als eigene, bewohnbare Welt. Bradbury huldigt seinen Vorbildern. In "Sterbesakramente" schickt er einen Zeitreisenden in der Zeitmaschine an die Sterbelager von Edgar Alan Poe, Herman Mellville und Oscar Wilde, angetrieben von der quälenden Vorstellung, dass diese Giganten "in der Überzeugung starben, sie kämen unbekannt und ungelesen unter die Erde." Deshalb bringt der Zeitreisende ihnen ihre gedruckten Werke aus der Zukunft mit, damit sie ihren Nachruhm ahnen können.

"Noch nie bin ich auf einen anderen Schriftsteller eifersüchtig gewesen", sagt Bradbury. "Immer nur wollte ich schreiben und träumen wie sie." In einer anderen Geschichte kehrt ein alter Offizier in die Bibliothek zurück, die er in seiner Kindheit wie ein Süchtiger besuchte, und begegnet dort noch einmal all den literarischen Helden von damals. In "Fahrenheit 451" hat Bradbury eine Gesellschaft beschrieben, die Bücher und Leser als unkontrollierbare Feinde bekämpft und vernichtet. In "Schneller als das Auge" huldigt er der Literatur und der Kraft der Phantasie. Da schließt sich ein Kreis. Ein Werk rundet sich.

Ray Bradbury: Schneller als das Auge. Erzählungen.
Aus dem Amerikanischen von Hans-Christian Oeser.
Diogenes Verlag
Zürich 2006
320 Seiten
19,90 Euro