Mit der Schnecke zurück ins Leben

04.01.2013
Die Biologin und Journalistin Elisabeth Tova Bailey ist schwer krank und an ihr Bett gefesselt. Als eine Freundin ihr eine Blume mit einer Schnecke daran mitbringt, taucht sie in eine Welt der Langsamkeit und schreibt ein betörendes Buch, in dem man auch noch viel über die klebrigen Tiere erfährt.
Mit 34 Jahren wird die amerikanische Biologin und Journalistin Elisabeth Tova Bailey krank. Ein gefährlicher Virus ungewisser Herkunft zerstört ihr vegetatives Nervensystem und bringt sie mehrfach an den Rand des Todes. Über eine lange Zeit ist sie so geschwächt, dass sie sich im Bett kaum von einer Seite auf die andere drehen kann. Eines Tage bringt ihr eine Freundin ein am Waldrand ausgegrabenes Ackerveilchen. Auf dem Wege hat sie noch eine Schnecke aufgelesen und sie unter die Blätter der Pflanze gesetzt.

Und so beginnt eine wundersame Zeit, von der dieses erstaunliche kleine Buch voll kluger Freude und Lebenserkenntnis erzählt. Es ist die Geschichte von der fast bewegungslosen Frau und dem langsamen, winzigen Tier an ihrer Seite.

Beide sind sie herausgelöst aus ihrem normalen Habitat und werden zu Lebensgefährten - im wahrsten Sinne des Wortes. Denn es ist die Schnecke, die Bailey im Leben hält. Diese kleine weiche Molluske in ihrem kunstvoll schönen Gehäuse, die die Kranke über Wochen und Monate beobachtet. Die Betrachtung der Schnecke wird zu einer Art Meditation. Ihre oft so panischen Gedanken werden ruhiger, passen sich dem fließenden Gleiten des Tieres an. Der Pulsschlag normalisiert sich.

Nach wenigen Tagen entdeckt Bailey eines Morgens ein kleines quadratisches Loch in einem Briefumschlag auf ihrem Nachttisch. Offenbar ist ihre Schnecke auf einem ihrer nächtlichen Ausflüge aus dem Topf gekrochen und hat sich am Papier gütlich getan. Nach dem dritten Papiermahl legt sie der Schnecke welke Blütenblätter hin – und siehe da, sie werden genüsslich verzehrt. Bald kann sie die nachtaktive Schnecke geruhsam essen hören. Ein tröstlich gleichmäßiges Geräusch. Die Kranke fühlt sich nicht länger allein in ihrem schlaflosen Dunkel.

Bailey lässt sich Bücher über Schnecken schicken. Aus allen Jahrhunderten. Von Naturwissenschaftlern, Biologen und auch Dichtern. Denn Charles Darwin, Emily Dickinson, Patricia Highsmith oder Edward O. Wilson, um nur wenige Namen zu nennen, haben alle über Schnecken geschrieben. Spannende Schneckenfakten, gruselige Schneckenfantasien und zärtliche Schneckengedichte hat Bailey ausgegraben. Man erfährt mehr über Schnecken und ihren Schleim, ihr bemerkenswertes Liebesleben und ihre über 2000 Zähne als man je glaubte wissen zu wollen und folgt Bailey doch gebannt auf all ihren Schneckenwegen. Wobei übrigens auch der eigene Blick auf die klebrigen Tiere ein ganz anderer wird.

Mit feiner Klarköpfigkeit beschreibt sie, wie ihr Interesse an der Schnecke nachlässt, als es ihr ein wenig besser geht, sie sich aufrichten und aus dem Fenster schauen kann und damit neue Abwechslungen in ihr Leben kommen. Vogelgeräusche, Wolkenformationen, Blütenstände.

Gänzlich ohne angestrengt schürfenden Tiefsinn, erzählt uns Bailey, was wir an Leben verpassen, wenn wir uns in den verwirrenden Ablenkungen des modernen Alltags verlieren. An welcher Innigkeit wir in der ewigen Eile achtlos vorbeigehen könnten. Ein betörendes Buch übers Innehalten und über die Schönheit achtsamen Wahrnehmens.

Besprochen von Gabriele von Arnim

Elisabeth Tova Bailey: "Das Geräusch einer Schnecke beim Essen"
Aus dem Englischen von Kathrin Razum
Nagel & Kimche Zürich 2012
172 Seiten, 16,90 Euro