Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Mit Coburg hab ich Politik gemacht Eine Stadt als Experimentierkammer des Dritten Reiches Von Brigitte Baetz Produktion: Dlf 2019 Erstsendung: Freitag, 08. Februar 2019, 20:10 Uhr Regie: Hüseyin Michael Cirpici Autorin: Brigitte Baetz Zitator: Glenn Goltz Sprecher: Bruno Winzen Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Zitator: Der Name Coburg ist mehr als der Name irgendeiner anderen deutschen Stadt... Autorin: Reichskanzler Adolf Hitler, 1935 Zitator: ...er ist mit einem epochalen Ereignis des Kampfes der Frühzeit der nationalsozialistischen Bewegung verbunden. In diese Stadt sind wir mit einer Methodik, die wir später noch oft anwandten, zum ersten Mal gekommen und haben uns zum ersten Mal in dieser Stadt durchgesetzt. O 1 "Im Gleichschritt, marsch! Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen..." (Darüber:) Sprecher/Sprecherin: Mit Coburg hab ich Politik gemacht. Eine Stadt als Experimentierkammer des Dritten Reiches. Feature von Brigitte Baetz. Sprecher/Sprecherin: Prolog Autorin: Es gibt diese Ereignisse im Leben: Zufälle, die wir für bedeutend halten, weil sie ein Fenster öffnen zum Verständnis der eigenen Geschichte. Wie an diesem Wochenende im Mai: im Fernsehen eine Dokumentation mit Originalaufnahmen von Razzien bei Sozialdemokraten und Kommunisten kurz nach der NS-Machtergreifung. Die Tochter, die gerade für die Schule einen Aufsatz über das Dritte Reich schreibt, fragt nach ihrem Urgroßvater. Der war nicht im Widerstand, aber hat als Sozialdemokrat seine Arbeit verloren beim Herzog von Coburg - so die Familienüberlieferung, über Details wurde nie geredet, dieses Schweigen nie hinterfragt. Er selbst ist im Krieg geblieben, es gibt nicht einmal ein Grab. In der Nacht ein Blick ins E-Mail-Postfach: Mein Cousin aus Coburg hat geschrieben. Er hat auf dem Dachboden ein Bild gefunden. Es ist das erste überhaupt, das ich von meinem Großvater sehe: eine Szene unterm Weihnachtsbaum. Es muss Heiligabend 1930 sein. Otto beobachtet die Bescherung seiner Söhne. Bei ihm erkenne ich sofort die typische Handhaltung meines Vaters, der hier auf dem Bild noch ein Kleinkind ist, fast noch ein Baby. Es treibt mir die Tränen in die Augen. Atmo 1Tippgeräusche (darüber) Autorin: Am nächsten Morgen die erste Internetrecherche, um der Tochter ein wenig mehr antworten zu können: "Coburg im Dritten Reich". Eine Suchanfrage, die, so stellt sich schnell heraus, im Kern falsch gestellt ist. Denn Coburg war die erste deutsche nationalsozialistische Stadt, und das Jahre bevor Hitler die Reichskanzlei in Berlin erobert. Es müsste eigentlich heißen: "Coburg als Wegbereiterin des Dritten Reiches". Und ich, die studierte Historikerin, aufgewachsen zwar nicht in Coburg, aber in Franken, weiß davon nichts. Atmo 2 Zuggeräusche Autorin: Ich mache mich auf nach Coburg, jahrzehntelang im bundesrepublikanischen Bewusstsein nicht nur geographisch ab vom Weg gelegen an der so genannten Zonengrenze im Norden Bayerns. Andere Städte mit NS-Vergangenheit haben in großem Stil Aufarbeitung betrieben und damit in gewisser Weise sogar Werbung für sich gemacht. Nürnberg - die Stadt der Reichsparteitage, München - die Hauptstadt der Bewegung, - aber Coburg - Fehlanzeige. In der Informationsbroschüre des Coburger Tourismus-Büros findet sich eine Zeittafel zur Stadtgeschichte von 1056 bis heute. Erstaunlich. Während eines Zeitraums von gut 15 Jahren klafft eine Lücke. Sprecher: 1920 Nach einem Volksentscheid 1919 schließt sich der Freistaat Coburg an den Freistaat Bayern an 1924 Letzter Umbau der Veste unter Herzog Carl Eduard nach Plänen von Bodo Ebhardt 1929 Eröffnung des Rosengartens 1954 Carl Eduard, Coburgs letzter regierender Herzog, stirbt am 6. März. O 2 Sandner Es ist fast nicht zu glauben, aber leider wahr (...) da ist ja auch überhaupt nichts passiert hier. (lacht) Autorin: Harald Sandner ist Informatiker, aber seine Leidenschaft gehört der Geschichtsforschung. 1929 wurde in Coburg nicht nur der Rosengarten eröffnet. 1929 erreichte die NSDAP erstmals die Mehrheit im Rathaus einer deutschen Stadt. Harald Sandner hat unter anderem eine Chronik Coburgs verfasst und eine Biographie von "Hitlers Herzog", wie er ihn nennt: Carl-Eduard von Sachsen-Coburg-Gotha. Der Enkel Queen Victorias und der Gefreite aus Braunau - eine folgenschwere Verbindung, die den frühen Siegeszug der Nazis in der beschaulichen Residenzstadt in Oberfranken beförderte. Musik 1 (darüber) Autorin: Herzog Carl-Eduard, als Prinz in England geboren, und mit nur 14 Jahren auf den Coburger Thron gehoben, hatte sich unter der Obhut seines Vetters, Kaiser Wilhelms II. zum glühenden deutschen Chauvinisten entwickelt. Dass er während der Novemberrevolution von 1918 auch noch seinen Titel verliert, treibt ihn weiter in das Lager völkisch-militanter Kreise: O 3 Sandner Man muss Carl Eduard auch verstehen. Er ist enteignet worden. Die Dynastie ist ja bekanntlich mit der russischen Zarenfamilie verwandt gewesen, die ja letztendlich 1918 ermordet worden sind. Das heißt, ihm ging´s ja wirklich nicht nur wirtschaftlich ans Leder, sondern wirklich auch physisch. Und deswegen wurde Carl Eduard von diesem Moment an der Unterstützer des europäischen Hochadels für Hitler - bis zum Schluss. Sprecher: Der Herzog, der alte Nazi. Autorin: So mein Vater in seinen wenigen Äußerungen über diese Zeit - seine Kindheit. Atmo 3 Spaziergang durch Coburg / Marktplatz (A3 belebt, A3 alt. mit Glocke) Autorin: Bei einem Spaziergang durch die Coburger Altstadt ist Geschichte allgegenwärtig, wenn auch nicht die von 1929 bis 1945. Fachwerkhäuser, neugotische Stadtpaläste, ein Renaissance-Rathaus, der Marktplatz ein stimmiges Ensemble der guten alten Zeit, Kopfsteinpflaster inklusive und dem großen Denkmal von Coburgs berühmtestem Sohn, Albert, Prinzgemahl Victorias von England und Großvater Carl-Eduards. Nur wenige Schritte entfernt: die gotische Moritzkirche, Hauptkirche einer noch immer evangelisch geprägten Stadt. Atmo 4 Moritzkirche Sprecher (Text Steintafel): Hier predigte D. Martin Luther 1530 Autorin: Eine stolze Botschaft, in Stein gemeißelt. Doch Luther brachte den Coburgern nicht nur die Reformation, er hatte auch ein gutes Stück Antisemitismus mit im Gepäck. Der Hass auf Juden wurde schon in den 1920er Jahren von etlichen Kanzeln in Coburg und Umgebung gepredigt. Welche Rolle hat die Kirche gespielt in der Vorbereitung auf das Dritte Reich? O 4a Hambrecht 14´31 (Rolle der Kirche) Puh, die Kirche. ..eine unsägliche. Also Coburg war ja Anfang der 20er Jahre nahezu rein evangelisch. Autorin: Rainer Hambrecht, lange Jahre Direktor des Bayerischen Staatsarchivs Bamberg O 4b Hambrecht eine möglichst reine evangelische Bevölkerung mit ihren nationalprotestantischen Traditionen. Deshalb war die Pfarrerschaft vielfach deutsch-national ausgerichtet und hat von daher bereits vor 33 zum Teil zumindest den Weg in die NSDAP gefunden. Zitat: Das Fremdrassige in unserem Volkskörper bekämpfen wir mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln. Wir wenden uns gegen die Verwelschung im Westen, gegen die Verslawung im Osten und gegen die Verjudung im Innern. Autorin: Rund 90 Prozent der Coburger sind in den 20er Jahren evangelisch. Auch unsere Familie gehört dazu. Unter den Glückwunschkarten zur Konfirmation meines Vaters 1941, die erstaunlicherweise erhalten geblieben sind, finden sich immerhin zwei mit "deutschem Gruß" und Hakenkreuz. 7,3 Prozent der Coburger sind katholisch und nur 1,2 Prozent jüdisch. O 5 Hambrecht So 320 oder so, wenn ich mich recht erinnere, jüdische Mitbürger hat´s da gegeben. Aber das hat nichts zu sagen, denn, das gilt jetzt für ganz Franken: auch in Regionen, wo es so gut wie überhaupt keine Juden gab, hat´s Antisemitismus gegeben. Also für Antisemitismus ist es nicht nötig, dass eine jüdische Bevölkerung vorhanden ist. Möglicherweise war der zum Teil, wo es keine Juden gab, weil man da mit Gerüchten und so, besser arbeiten konnte, noch ausgeprägter. Autorin: Im Gegensatz zu Gotha, dem anderen Bestandteil des herzoglichen Namens, ist Coburg keine Stadt der Arbeiter. Es gibt kein Industrieproletariat und der Organisationsgrad der Gewerkschaften ist nicht besonders hoch. Doch die SPD ist rege, unterhält mit dem Coburger Volksblatt sogar eine eigene Tageszeitung. Schriftleiter Franz Klingler ist zugleich Abgeordneter des Bayerischen Landtages und warnt regelmäßig und in scharfem Ton vor Judenhass und Rechtsradikalismus, der vor allem in Bayern nach der Niederschlagung der Münchener Räterepublik immer stärker wird. Viele der Protagonisten dieser ersten sozialistischen Regierung in Deutschland sind Juden gewesen. Ihre Gegenkräfte, verkörpert durch den Deutsch-Völkischen Schutz- und Trutzbund und die berüchtigten Freikorps, arbeiten in der Folge noch verbissener gegen die Weimarer Republik. Sprecher: Am 26. August 1921 wird der Zentrumsabgeordnete und ehemalige Reichsfinanzminister Matthias Erzberger ermordet von der Organisation Consul. Einem Geheimbund mit engen Verbindungen zu Herzog Carl-Eduard. Coburger Betriebsräte, Gewerkschafter, SPD und USPD entschließen sich zu einer "Demonstrationsversammlung für die Republik und gegen den politischen Meuchelmord". Etwa 3.000 Menschen finden am 3. September auf dem Coburger Schlossplatz zusammen. Während Franz Klingler redet, fahren Lastkraftwagen heran. Von ihnen steigen Mitglieder der Bayerischen Landespolizei, ausgerüstet mit Stahlhelmen und Maschinengewehren. Sie errichten Straßensperren, was zu großem Aufruhr führt und in gewaltsame Auseinandersetzungen mündet. Handgranaten werden geworfen und Schüsse abgegeben. Zitat: Schon hörte man entfernte Schüsse knallen. Genosse Klingler gab das Ende der Demonstration bekannt, wollte gerade zum Auseinandergehen auffordern, die Fahnen und Inschrifttafeln waren schon während des Schlussliedes zusammengezogen und auf die Bürglaßseite verbracht worden, da krachten unmittelbar aus der Johannisgasse die Schüsse. Nun stürmten Genosse Klingler und mehrere Vertrauensleute nach dieser Stelle; da krachte es auf dem Markt, vom Spitaltor her; die Situation so zu schildern wie man sie überall an den gefährdeten Stellen antraf, ist unmöglich. Es krampfte sich das Herz zusammen, bei dem Anblick unseres Coburg und der wild gewordenen "Ordnungsbestie", die in den Straßen unseren friedlichen, herrlichen, schönen Coburgs raste. Sprecher: Bilanz des "Coburger Blutsonnabends", so das Coburger Volksblatt: ein Toter und mehr als zwanzig Verletzte. Autorin: Hat mein Großvater, das SPD-Mitglied, an der Versammlung teilgenommen? Und dort die brutale Durchsetzung bayerischer Staatsgewalt miterlebt? Zu dieser Zeit vertritt der Konservative Gustav von Kahr erst als Ministerpräsident und dann Generalstaatskommissar das Konzept von der "Ordnungszelle" Bayern. Nach Revolution und Räterepublik soll Ruhe und Ordnung im Freistaat hergestellt werden. Wenn es sein muss, mit der Hilfe völkischer und nationaler Extremisten. Ich überlege: Wurde hier einer der Grundsteine gelegt für dieses bleierne Gefühl meiner Kindheit? "Die Anderen", so wurde mir und meinen Geschwistern zu verstehen gegeben, "verstehen" vieles nicht. Da war es egal, ob es um anspruchsvollere Fernsehfilme ging oder die Bedeutung der Entspannungspolitik von Willy Brandt. Und "die Nachbarn" müssten auch nicht alles mitbekommen. Das wiederum verstand ich nicht. Die waren doch alle sehr nett, und dümmer als wir waren sie doch auch nicht? Dieses permanente Gefühl des Hab-Acht, dieses "Wir gegen die" - hat es seine Wurzel in dem Bewusstsein, einer Minderheit anzugehören, die sich nicht durchsetzen kann, und die sich bald nicht einmal mehr auf Recht und Gesetz berufen kann? Ein Bewusstsein, das im Laufe der Zwanziger Jahre mehr und mehr zugenommen haben muss. Musik 2 Autorin: Am 14. und 15. Oktober 1922 findet in Coburg der 3. Deutsche Tag statt. Diese Deutschen Tage sind so etwas wie Heerschauen des rechten Lagers, veranstaltet vom Deutsch-Völkischen Schutz- und Trutzbund. Infolge der Ermordung Walter Rathenaus im Sommer ist er in den meisten deutschen Ländern verboten worden, in Bayern, das sich selbst als "Ordnungszelle" wider die rote Gefahr sieht, wird er jedoch weiter geduldet. Der Veranstalter lädt einen Mann und seine noch kleine Splittergruppe ein, sich dort zum ersten Mal außerhalb Münchens zu präsentieren: Adolf Hitler und die NSDAP. Die Deutsch-Völkischen können zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen, dass sie sich selbst damit den Todesstoß versetzen. Der Zug nach Coburg wird zum ersten Propagandaerfolg des selbsternannten Führers. O 6 Hambrecht Den hat Hitler selber hochstilisiert zu einem Großereignis. Fünf Seiten, glaub ich, in "Mein Kampf" befassen sich damit. Das war eine der ersten Propagandafahrten, als Hitler mit einem Sonderzug und mit einigen Herren seiner Begleitung - das waren 650, etwa 650 Schläger, SA-Leute. In Nürnberg ist Julius Streicher mit seinen Mannen, der sich kurz vorher Hitler unterstellt hatte, zugestiegen, nach Coburg gekommen. Und Hitler ist dann angekommen und hat´s fertig gebracht, diese Gesamtveranstaltung - er war ja nur eine kleine Gruppe unter vielen - restlos zu dominieren. Er hat sich bereits am Bahnhof, da hat man ihn davon in Kenntnis gesetzt, das man nicht geschlossen in die Stadt einmarschieren solle und so. Das hat der Versammlungsleiter mit den staatlichen Behörden ausgemacht. Aber Hitler hat sich sofort darüber hinweg gesetzt, ist mit klingendem Spiel und geschlossenen Formationen in die Stadt einmarschiert und halb-provozierend, halb-provoziert mit Linken, also vor allen Dingen mit SPD-Leuten auseinandergesetzt. D.h. es hat üble Schlägereien gegeben. Und in der öffentlichen Berichterstattung, die ja fast weltweit zur Kenntnis genommen wurde, also weit über Deutschland hinaus, hat vor allem über Hitler und seinen Aktionen gesprochen und nicht von den übrigen. Autorin: Deutschlands Antisemiten und Demokratiefeinde haben einen neuen Helden, Demokraten und Linke einen neuen Gegner - der von Anfang an seine Brutalität und Kompromisslosigkeit zur Schau stellt. Teilnehmer der Gegendemonstration werden in Coburg von SA-Leuten verprügelt - ohne, dass die Polizei eingreift. Auch auf dem Marsch der Hitler-Abordnung vom Bahnhof in die Stadt kommt es zu weiteren blutigen Auseinandersetzungen mit politischen Gegnern. O 7a Sandner Es war im Prinzip der erste derartige Sonderzug, der in Deutschland fuhr, von München nach Coburg. Sprecher/Sprecherin: Harald Sandner, Coburger Chronist O 8 Hambrecht Es war das erste große Ausgreifen nach Norden von München aus. Und in Franken ist danach die NSDAP geradezu explosionsartig gewachsen. Zitat Mein Kampf: Die Bedeutung dieses Tages konnte in seinen Folgen zunächst gar nicht voll eingeschätzt werden. Autorin: Adolf Hitler, Mein Kampf Zitat Mein Kampf: Viele erkannten zum ersten Male in der nationalsozialistischen Bewegung die Institution, die aller Wahrscheinlichkeit nach dereinst berufen sein würde, dem marxistischen Wahnsinn ein entsprechendes Ende zu bereiten. Autorin: Hitler spielt mit den Ängsten des konservativen Bürgertums. Ausgerechnet Coburg als Ort des roten Terrors, Koburg in der Regel dann immer geschrieben mit kernigem deutschen K? Eine Umkehrung der Wahrheiten, wie sie in den folgenden Jahren typisch sein wird. Und wer ist in diesem Denken verantwortlich für die politische Unsicherheit und den Terror jener Jahre? Die Juden natürlich. Prototypisch erklären die Nazis in Coburg Abraham Friedmann zum Sündenbock. Dabei hatte sich der Fleischgroßhändler während des 1. Weltkrieges große Verdienste um die Versorgung der Bevölkerung erworben, sagt der Heimatpfleger Hubertus Habel O 9 Habel Man hat an diesem Wochenende 14./15. Oktober gleich diesem Abraham Friedmann, diesem jüdischen Industriellen, unterstellt, er hätte diese 400 Gegendemonstranten bestellt und bezahlt. Und in dieser Nacht, 14. auf 15. Oktober, in der die Nazis ganz in der Nachbarschaft, hundert Meter entfernt praktisch im Alten Schützenhaus ihr Übernachtungsquartier hatten, haben die dem seine Villa umstellt und ihm mit Gewalt gedroht, wenn er sein Haus verlassen hätte, dann wäre er mit absoluter Sicherheit brutalst misshandelt worden wie viele andere, gerade in Ketschendorf, einem Arbeiterdorf am Stadtrand, viele Arbeiter auch misshandelt worden wären. Atmo 5 Feyler Autorin: Mit Hubertus Habel sitze ich im Cafe Feyler, unweit des Marktplatzes. Nicht weit von hier befand sich die Firmenzentrale der Grossmann AG, der Abraham Friedmann vorstand, und nicht weit von hier richtete die NSDAP dann im Jahr 1933, als alle demokratischen Dämme gebrochen waren, ihre "Prügelstube" ein. Sprecher: Also mitten im Herzen der Stadt. Autorin: 1923 hat die Ortsgruppe Coburg der NSDAP schon 800 Mitglieder. In der Zeitung "Die Coburger Warte" rufen Antisemiten regelmäßig zu Gewalttaten auf jüdische Bürger auf. Die Betroffenen wehren sich. Doch die Beschwerden des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens beim Bezirksamt und der Regierung von Oberfranken zeigen kaum Wirkung. Ernst Fritsch, Vorstand des Coburger Bezirksamts, berichtet der Bayerischen Landesregierung Ende November: Zitat Dr. Fritsch, Bezirksamt Coburg, 1923: Ich habe Herrn Dr. Masur, der mich in recht aufdringlicher Weise fast täglich in dieser Angelegenheit aufsuchte, erklärt, dass Gewalttätigkeiten rechtsstehender Kreise in Coburg bisher nicht zu verzeichnen seien...Insbesondere sei nicht nachgewiesen, dass die oben bezeichneten Sachbeschädigungen Autorin: - Also das Zertrümmern eines Ladenschaufensters und das Einschlagen einiger Fenster der Synagoge - Zitat Dr. Fritsch weiter von rechtsstehenden Kreisen verübt worden sind. Es sei vielmehr sehr leicht möglich, dass die Täter im anderen Lager zu suchen seien und die Sachbeschädigungen in der Absicht begangen worden sind, die Hetze gegen die rechtsstehenden Kreise weiter zu schüren... O 10 Hambrecht Auf dem rechten Auge waren die einfach blind, wie es so schön heißt. Die haben rechtsextreme Gesinnung nach außen hin kommuniziert als ob das staatspolitisch erwünscht wäre. Und darauf sind natürlich viele dem gefolgt. Autorin: Wie ist das, überlege ich: wenn die Stimmung im Ort, in dem man lebt, zunehmend von Hass und Gewalt geprägt wird, wenn Recht und Ordnung nicht mehr gelten, obwohl es noch eine Demokratie gibt? Ab wann begeben sich Menschen in die "innere Emigration", geben den Kampf auf gegen eine Entwicklung, die sie nicht mehr meinen aufhalten zu können? Aus meinen Kindertagen kenne ich den Spruch meines politisch doch immer so interessierten Vaters: Sprecher: Das ist halt so. Das lässt sich nicht ändern. Autorin: Noch im Nachhinein wirken die Ereignisse, die Coburg zur Nazihochburg machten, erschreckend folgerichtig, so, als wären sie kaum aufzuhalten gewesen. Der gescheiterte Hitlerputsch vom November 1923 verzögert die Entwicklung nur, hält sie nicht auf. Das Rezept der extremen Rechten: eine Doppelstrategie aus permanentem Radau und der Lähmung des Stadtrates. Die NSDAP-Vertreter bombardieren das Gremium mit Anträgen und beleidigen ihre politischen Gegner. Nahezu modellhaft drängt Ortsgruppenleiter Franz Schwede alle anderen rechtsradikalen Organisationen an den Rand, indem er immer wieder einen "draufsetzt"- mit dem sogenannten Sprecher: Weckruf - dem Nachrichtenblatt der Bezirksgruppe Coburg der nationalsozialistischen deutschen Arbeiterpartei. Autorin: In seinem Buch "Kampf um Koburg" wird sich Schwede wenige Jahre später rühmen: Zitat Franz Schwede, Kampf um Koburg: Der Weckruf hat in der Öffentlichkeit gut eingeschlagen (...) Kommunalpolitik ist eine allzu ernste und nüchterne Sache auf die Dauer - die Sensationen, um derentwillen die breite Masse gierig nach einer Zeitung greift, liegen auf einem anderen Gebiet. Autorin: Und zwar in einer Mischung aus "Sex and Crime". Zitat Franz Schwede, Kampf um Koburg: "Eine geheimnisvolle Liebesfahrt" kündigt die Überschrift an. Ganz Coburg spitzt die Ohren, ganz Coburg liest den Artikel, ganz Coburg tuschelt, wispert und tauscht Vermutungen aus. So wollen wir es haben! Autorin: Die Stadt, wie Schwede schreibt, ist aufgebracht, denn einer der "üblen Coburger Geschäftsjuden" hat mit einer "deutschen Angestellten" einen Ausflug mit dem Auto gemacht. Zitat Franz Schwede, Kampf um Koburg: Kein Wunder, dass ganz Coburg mit fieberhafter Spannung auf die "nächste Nummer" wartet! Die Auflage ist gesichert! Autorin: Der Jude als gewissenloser Schacherer und Verführer - in Artikeln und Karikaturen. Das ganze öffentliche Leben wird davon vergiftet. Als 1928 eine Einstweilige Verfügung gegen den Weckruf ergeht, kehrt der in bewährter Manier den Spieß um: Zitat Der Weckruf: Die letzten Ausführungen im Weckruf haben der gesamten Bevölkerung gezeigt, wie sich die Juden in Coburg benehmen. Anstatt nun durch Bestrafungen derselben diesem unsittlichen Treiben einen Riegel vorzuschieben, erlässt das Gericht zum Schutze der Juden einstweilige Verfügungen. Sind wir in Coburg schon so weit, dass wir uns alles gefallen lassen müssen? Autorin: Die Gegenwehr der Opfer wird im Kampf um die politischen Mehrheiten zum Vorteil für ihre Angreifer. Idealtypisch lässt sich das, so erzählt Hubertus Habel, am Fleischgroßhändler Abraham Friedmann festmachen. O 11 Habel Ende 1928 sollte Abraham Friedmann den Ehrentitel Kommerzienrat bekommen, da sind die Nazis hier vor Ort auf die Barrikaden gegangen und haben versucht, den Stadtrat unter Druck zu setzen, dass also dieser Ehrentitel nicht vergeben wird. Friedmann hat sich dagegen natürlich massiv gewehrt und seinerseits die Stadt auch unter Druck gesetzt. Der Obernazi hier in Coburg, Franz Schwede, war technischer Angestellter der Städtischen Werke und Friedmann war mit seiner Firma Großabnehmer von Hüttenkoks und Strom und hat gesagt: Wenn ihr als Stadt diesen Obernazi nicht zur Ruhe bringt, dann kündige ich den Strom- und Koksbezug. Autorin: Doch Friedmanns Versuch sich zu wehren geht nach hinten los. Zwar entlässt die Stadt Coburg den Angestellten Franz Schwede, doch das nutzt die NSDAP zu einer neuen Propagandawelle. Tenor: Der reiche Jude führt den Stadtrat vor. In den Hofbräusälen, im Volksmund Die Bierfestung genannt, erlässt sie eine Resolution. O 12 Habel Dass, wenn Schwede nicht wieder eingestellt wird, über ein Volksbegehren der Stadtrat aufgelöst wird und dann eben die bürgerlichen Stadträte sozusagen an die Luft gesetzt werden durch die außerordentliche Neuwahl. Es kam zu diesem Volksbegehren durch massive Unterstützung Hitlers, der hier, in dieser Bierfestung, als Wahlkampfredner aufgetreten ist, hat dieses Volksbegehren für die Nazis zum Erfolg geführt, der Stadtrat wurde aufgelöst. Autorin: Am 23. Juni 1929 kommt es zur außerordentlichen Stadtratswahl, die zu einem erdrutschartigen Sieg der Nazis führt. 13 von 25 Stadtratsmandaten gehören nun der NSDAP. Doch auch dies ist noch keine Stimmenmehrheit. Denn die beiden Bürgermeister, die es zu diesem Zeitpunkt noch gibt, dürfen noch mitstimmen. O 13 Habel Durch Mobbing und ewiges Bohren haben sie es dann geschafft, zum einen 1930 einen dritten Bürgermeisterposten einzuführen. So waren es 28 Stimmen. Diesen dritten Bürgermeisterposten hat Franz Schwede bekommen, also hatte man dann 14 von 28 Stimmen im Stadtrat - damit war Patt gegeben und durch massives Mobbing hat man dann den zweiten Bürgermeister rausgekickt. Schwede ist nachgerückt. Also hatte man dann 15 von 28 Stimmen, damit die absolute Mehrheit und dann war es nur noch die Sache von einem halben Jahr, dass der erste Bürgermeister auch draußen war und das heißt, im Oktober, Mitte Oktober 1931 wurde Franz Schwede deutschlandweit als erster Oberbürgermeister der Nazis hier gewählt. Und damit war hier in der Stadt sozusagen das Dritte Reich perfekt gewesen, aber dass es zu dieser außerordentlichen Stadtratswahl kam, das ist auf dem Rücken von Abraham Friedmann passiert. O 14 Hambrecht Wichtig ist auch, dass die Coburger Bevölkerung nach 1945 nicht, wie man das sonst im übrigen Deutschland machen konnte, sagen konnte: ja, das haben wir nicht gewusst, das haben wir nicht gewollt. Sondern man hat bereits und die NSDAP hat sich da keineswegs zurückgehalten oder da irgendwas kaschiert, man hat bereits vor 1933 ganz klar gesehen, wohin die Entwicklung gehen wird: auf Rechtsunsicherheit, auf rechtliche Ungleichheit in der Bevölkerung, usw. Autorin: Die NS-Stadträte führen ihre Aufwandsentschädigungen dem "Fonds zur Bekämpfung des Coburger Judentums" zu und verbieten, dass Juden das städtische Schlachthaus für das Schächten benutzen dürfen. Bei der Verteilung öffentlicher Aufträge werden Juden einfach übergangen. Schon 1929 berichtete die Berliner Zeitung des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens aus Coburg: Zeitung des Central-Vereins, 1929: Langsam aber sicher wirkt sich die gesellschaftliche Boykottpropaganda der Völkischen aus. Jüdische Ärzte, Anwälte, Kaufleute berichten uns, dass ihnen zwar ihre alten Kunden treu bleiben, deren Söhne aber, fast die ganze jüngere Generation, lieber zu Nichtjuden gehe. Die Ladenschwelle der Juden ist ihr verpönt, und es bedarf bei der jüdischen Geschäftswelt außerordentlicher Anstrengungen, um im Konkurrenzkampf nicht zu erliegen. Darüber hinaus wurden Juden aus den verschiedensten Vereinen, Kriegervereinen und eine Zeitlang namentlich aus Sportvereinen, hinausgeekelt. Autorin: Doch nicht nur die Juden bekommen schon ab 1929, nachdem die Rathausmehrheit erobert worden war, zu spüren, dass sie sich auf Recht und Gesetz nun nicht mehr verlassen können. Franz Klingler, SPD-Abgeordneter und Schriftleiter des Coburger Volksblattes, erhält Morddrohungen und wird mehrfach auf offener Straße angefallen, u.a. von zwei SA-Männern bewusstlos geschlagen. Die Täter werden nicht ermittelt. Unterdessen schaffen die NSDAP-Ratsherren schnell Fakten bei der städtischen Polizei und der Verwaltung. Sozialdemokratische Arbeiter werden entlassen, SS-Führer erhalten Waffenscheine von der Coburger Polizeiverwaltung. Zitat: Ja, meine Herren Marxisten, Sprecher: Erklärt der NSDAP-Stadtrat Faber zum Vorgehen seiner Fraktion: Zitat (Forts.): das ist jetzt nur der Vorgeschmack, in ein paar Jahren wird es noch ganz anders gehen. Autorin: Drohungen, von denen man damals schon wissen kann, dass sie ernst zu nehmen sind. Der Coburger Weckruf ist zur Coburger Nationalzeitung geworden, der ersten NS-Tageszeitung in Deutschland. Dort erscheint am 11. Oktober die Anzeige: Zitat: Eure Kinder heiraten keine Juden! Darum kauft nur in deutschen Geschäften Autorin: Um dem Terror des braunen Stadtrates etwas entgegenzusetzen, lädt die SPD am 28. November 1930 zu einer Protestversammlung, deren Hauptredner der Münchner Staatsanwalt und späterer bayerische Ministerpräsident Wilhelm Hoegner ist. Auf dem Rückweg nach Neustadt wird ein Konvoi von Versammlungsteilnehmern von Nationalsozialisten überfallen. Ein LKW kommt von der Straße ab. 16 Menschen werden verletzt. Immerhin wird die Hälfte der Angreifer verurteilt - obwohl die NSDAP kurz vor dem Prozess eine Massenveranstaltung gegen das "Wüten der roten Pest" abhält. Autorin: Am 18.1.1931, Franz Schwede ist Oberbürgermeister, wird die Hakenkreuzfahne am Coburger Rathaus gehisst - als erstem deutschen Amtsgebäude. Im Juni 1931 schreibt das Blatt des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens: Zitat CV-Zeitung: Am schlimmsten liegen bekanntlich die Dinge in Koburg, wo ein weiland Duodezfürst, mit reichlichen Geldmitteln durch die Republik ausgestattet, Hof hält und eine nationalsozialistische Residenz errichtet hat. Die alteingesessene jüdische Bevölkerung lebt unter dem Terror. Sie ist gesellschaftlich wie wirtschaftlich boykottiert. Verschiedene Stimmen: Im Mai wurde der Kaufmann Herr Josef Altmann, abends gegen 10 Uhr, als er mit seiner Frau durch die Bahnhofsstraße nach Hause gehen wollte, von einem jungen Menschen (...) ohne Veranlassung ins Gesicht geschlagen... An einem regnerischen Sonntagabend ging Herr Rothschild, auch ein Mann in den sechziger Jahren, mit seiner Frau Haus Ecke Spitalgasse/Mohrenstraße vorbei, als plötzlich von hinten ihm ein junger Mensch einen Schlag ins Gesicht versetzte... Auf einem Spaziergang Sonntagnachmittag wurde in der Leopoldstraße Herr Hermann Ehrlich und seine Frau von jungen Burschen belästigt und vom Gehsteig abgedrängt. Ein dem Arbeiterstand angehörender Mann, der seiner Empörung darüber Ausdruck gab, wurde von dem Burschen tätlich angegriffen und geschlagen. Autorin: Der Bezirksamtmann Dr. Fritsch, der die Gefahr von rechts lange Jahre kleingeredet hat, fasst 1931 reichlich desillusioniert zusammen: Zitat: Die Nationalsozialisten fühlen sich hier als Herr und Gebieter der Lage und verlangen, dass alles Übrige, wenn sie es wünschen, mundtot gemacht wird. Autorin: Die Täter werden so gut wie nie zur Rechenschaft gezogen. Nur einmal, so schreibt Hubert Fromm in seinem Buch "Die Coburger Juden", vermerken die Akten einen Erfolg der Polizei. Zitat: Im Oktober 1931 wird ein Mann festgenommen, der mit einer Lederpeitsche auf einen jüdischen Kaufmann eingeschlagen hat. Autorin: Gut ein Jahr später ist Coburg seiner Zeit einmal mehr voraus. Adolf Hitler wird am 15. Oktober 1932 zum Ehrenbürger der Stadt ernannt. Zitat Coburger Volksblatt: Welch eine Schande ist es, Autorin: schreibt die SPD-Parteizeitung Coburger Volksblatt Zitat Coburger Volksblatt (Forts.): wenn eine Stadt den Führer einer solchen terroristischen Bande zum Ehrenbürger ernennt. Autorin: 1932 dürfen Juden in Coburg die öffentlichen Schwimmbäder nicht mehr benutzen. Die Sozialdemokraten verbuchen es zu dieser Zeit schon als Erfolg, wenn sie überhaupt ihre Versammlungen abhalten können. Der Sozialdemokrat Franz Klingler und der Coburger Bezirksamtmann Fritsch fordern vom bayerischen Innenminister die Verstaatlichung der Coburger Polizei. Die kommt auch - jedoch viel zu spät. Der Stadtrat beschließt, sich ihr nicht zu unterwerfen. Mit dem Jahr 1933 hat sich das ohnehin erledigt. Die Machtergreifung wird nun auch in Berlin vollzogen. Rundfunkreportage aus Berlin, 1933 Gerade ist eine größere polizeiliche Aktion eingeleitet. Es wird systematisch in verschiedenen Stadtgegenden ein Straßenzug durchsucht. Vom Keller bis zum Boden. Wohnung für Wohnung. Es wird z.B. darauf Obacht gegeben, ob sich unter den Personen, die angetroffen werden, politisch gesuchte Personen befinden. Eine lange, endlos lange Reihe von Polizeiwagen setzt mit Beamten, Karabinern, Maschinenpistolen, rückt heran. Das dauert ein paar Minuten nicht mal, Sekunden, dass ein großer Komplex abgesperrt, ein ungeheures Aufsehen, eine irrsinnige Angst bei den Kommunisten, bei den sozialdemokratischen Funktionären. Autorin: Auch in Coburg machen die Nazis mit ihren Razzien noch einmal klar, wer nun Herr der Lage ist. O 15 Habel 1933 hatten die Nazis hier in der Stadt schon die Polizei z.B. komplett in ihrer Hand. Das war also eine SA- und SS-Truppe, die Stadtpolizei. D.h. die öffentliche Ordnung war eine Ordnung von Nazis Gnaden gewesen und die haben nach der Reichstagsbrandverordnung und nach der Reichstagswahl am 5. März 1933, wenige Tage später, 10./11. März haben die begonnen hier mit massiven Verfolgungen von Gegnern. Autorin: SPD-Redakteur Franz Klingler, in diesen Tagen schon todkrank, entgeht der Verhaftung nur dank der Standhaftigkeit der verantwortlichen Ärzte im Landeskrankenhaus. An seiner Stelle wird sein Sohn Otto verschleppt. Auch andere Demokraten, KPD-, SPD-Mitglieder und natürlich Juden werden in Schutzhaft genommen, gleich gegenüber des Cafes Feyler, in der Polizeiwache der inzwischen abgerissenen Alten Herberge, in deren 3. Stock sich die so genannte "Prügelstube" befindet. Am 10. März 1933 wird dort u.a. der SPD-Vorsitzende Christian Reichenbecher eingeliefert. Was dort passiert, wird nach dem Krieg mit Zeugenaussagen vor Gericht rekonstruiert. Zitat: In diesem Raum befanden sich ca. 15 bis 20 SS-Leute, die mit Ochsenziemern und Reitpeitschen ausgerüstet waren. Reichenbecher musste Mantel und Jacke ausziehen. Danach gab SS- Sturmbannführer Rittweger den Befehl zum Schlagen. Blindlings droschen die SS-Leute mit den Enden der Reitpeitschen, so dass Karabinerhaken auf seinem Körper aufschlugen, auf ihr Opfer ein. Als Reichenbecher am Boden lag, trat man ihn mit den Stiefelabsätzen in Bauch, Geschlechtsteil, Brust und Rücken, bis er bewusstlos war. Mit einem Eimer eiskalten Wassers wurde der Gemarterte aus der Bewusstlosigkeit wieder zurückgeholt. Um seine Schmerzensschreie dann zu unterdrücken, presste man auf seinen Mund ein Kissen, auf das sich noch zusätzlich ein SS-Mann setzte. Da Christian Reichenbecher dem Ersticken nahe war, bäumte er sich mitletzter Kraft noch einmal auf und warf den SS- Mann von seinem Gesicht herunter. Nun aber ging die Tortur erst richtig los. Der eben geschilderte Vorgang wiederholte sich in dieser Stunde noch viermal... Autorin: 150 Menschen werden in der "Prügelstube" so misshandelt, dass manche von ihnen noch in der Haft versuchen, sich das Leben zu nehmen. Andere werden entlassen und ins Landeskrankenhaus gebracht. Die dortigen Ärzte verständigen die Staatsanwaltschaft. Diese beginnt mit der Rückendeckung des bayerischen Innenministeriums sogar zu ermitteln. Doch die Gleichschaltung der Justiz im neuen Dritten Reich ist schneller. Am 8. Mai 1933 wird das Verfahren eingestellt. Mein Vater ist zu diesem Zeitpunkt sechs Jahre alt. Wenig hat er erzählt aus dieser Zeit, die doch auch für die Familie dramatisch gewesen sein muss. Doch wie viel, außer der vermutlich gedrückten Stimmung, bekommt ein Kind in diesem Alter mit? Eines jedoch erzählte er: der beste Freund seines Vaters, also meines Großvaters, kam ins KZ Dachau. Nach zwei Wochen wurde er entlassen - und hat nie über seine Erlebnisse dort gesprochen. Atmo 6 Glockengeläut Sprecher: Zu Adolf-Hitler ruf ich dich, Franz-Schwede-Glocke heiße ich. Autorin: So die Inschrift der Coburger Rathausglocke, im Herbst 1933 geweiht vom evangelisch-lutherischen Stadtdekan. Franz Schwede, Oberbürgermeister von Coburg, errichtet in seiner Stadt den gleichen Personenkult, wie er im Reich selbst nur Hitler entgegengebracht wird. Zum Dank für seine Erfolge in Coburg, die 1939 den Ehrentitel "Erste nationalsozialistische Stadt Deutschlands" führen darf, wird er zum Gauleiter von Pommern berufen und nennt sich fortan Schwede-Coburg. O 16 Sandner Hitler hat ja ganz bewusst in Coburg vor 33 die Macht auf lokaler Ebene errungen und hat dann mit den Mitteln der Demokratie selbige ausgehöhlt. Das war ja sein Muster. Nachdem er 23 gescheitert ist, wusste er, mit Gewalt kann er es nicht machen, also macht er es auf scheinbar legalem Wege, innerhalb der Gesetze. Es gab dann im Dritten Reich ein Ehrenzeichen über diesen ersten Auftritt von Hitler 1922 in Coburg, was Hitler selbst entworfen hat. Und dieses Ehrenzeichen, das war so begehrt, weil es eine so hohe Auszeichnung war, dass es sogar im Dritten Reich bereits schon gefälscht worden ist. Weil die Leute damals angegeben haben: wir waren damals auch dabei, wir waren mit die ersten, usw, ja? Autorin: Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges war es damit allerdings vorbei - in Coburg wie im Rest Deutschlands. Immerhin: Franz Schwede und einige seine Mitfolterer wurden 7. April 1951 in Coburg wegen 52-facher Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Nötigung im Amt zur Höchststrafe von zehn Jahren Gefängnis verurteilt, von denen er fünf in Haft verbüßte. Zitat Landgericht Coburg 1951: Straferschwerend wirkt auch, Autorin: heißt es in der Begründung des Landgerichts Coburg: Zitat weiter dass diese Ausschreitungen in Coburg gewissermaßen der Auftakt für all die Gräueltaten des nationalsozialistischen Regimes, die Morde des Röhm-Putsches 1934, der Novemberausschreitungen 1938 gegen die Juden, die Misshandlung der KZ-Häftlinge, der Deportationen und Vernichtungen der Juden usw. waren, die unser Vaterland nicht nur ins Unglück gestürzt, sondern dem deutschen Namen auch geschadet haben. O 19 Habel Das Landgericht hat eindeutig festgestellt, dass das, was während des Zweiten Weltkrieges dann in den Vernichtungslagern Treblinka, Auschwitz, Sobibor, usw. an industrialisiertem Massenmord passiert ist, dass das die Keimzelle hier in Coburg hat, und dass diese extrem gewalttätige, brutale, systematische, dieser Vernichtungswille von hier ausgegangen ist. Autorin: Doch warum spielte Coburg in der ganzen Aufarbeitung des Dritten Reiches so gut wie keine Rolle? O 17 a Habel Es gab einen Oberbürgermeister, Dr. Walter Langer, Offizier, Fliegeroffizier des Zweiten Weltkrieges, der als Jurist, als Rechtsanwalt nach dem Krieg in den Entnazifizierungsverfahren die alten Nazis sozusagen rausgehauen hat und der dann 1948 nach einem Wahlkampf, der schlammschlachtmäßig verlaufen sein muss, nach dem, was man den Zeitungen entnehmen kann, hier für die FDP, und zwar für diese nationalliberale Fraktion der FDP, Oberbürgermeister wurde und bis 1970 Oberbürgermeister geblieben ist. Und der, man kann es bildlich sozusagen ausdrücken, einen großen Teppich ausgerollt hat, unter den der ganze braune Dreck gekehrt wurde. Autorin: Zudem lag Coburg jahrelang direkt an der Grenze zur DDR, war also quasi eine Frontstadt im Kalten Krieg. Wie "vernagelt" ist die Welt hier gewesen. O 17 b Habel Selbst die Oberbürgermeisterkette hat bis heute ein Kopfstück, auf dem das Stadtwappen drauf ist, der Coburger Mohr, und dieses rautenförmige Kopfstück hat eine umlaufende Nut und in dieser Nut ist ein goldener Stacheldraht mit Granaten, also roten Halbedelsteinen, die also diesen blutigen Eisernen Vorhang bis heute symbolisiert. Coburg wurde Anfang der 50er Jahre BGS-Standort. Autorin: BGS - Bundesgrenzschutz O 17 c Habel Der BGS ist zunächst aufgetreten in den Naziuniformen, die haben halt einfach diese Bestände übernommen, weil es eben günstig zu kriegen war, mit den Stahlhelmen, usw. Und er hat dann hier bei irgendwelchen größeren Veranstaltungen den BGS aufmarschieren lassen mit Fackelzug und so und es gab hier in Coburg so den Spitznamen des BGS "Leibstandarte Langer". Also da wurden heftige Kontinuitäten sozusagen aus dieser Zeit gepflegt. O 18 Hambrecht Man hat es mit Totschweigen versucht und mit Verdrängung. Autorin: Erst 2004 nimmt sich eine Ausstellung der Rolle Coburgs beim Aufstieg des Nationalsozialismus an. Organisiert wurde sie von Hubertus Habel, damals noch Leiter der Städtischen Sammlungen. O 19 Habel Die hat dann auch ziemlich Aufsehen erregt dadurch, dass wir mit dieser Ausstellung in den öffentlichen Raum gegangen sind auch. Also die hat im Staatsarchiv stattgefunden und wichtige Schauplätze mit Infopylonen kenntlich gemacht und haben es dadurch geschafft, relativ schnell eben dieses Thema in den Alltagsdisput sozusagen, in die Alltagsdebatte der Bevölkerung reinzubringen, weil eben einfach viele Leute, die uns das dann auch mitgeteilt haben, aus allen Wolken gefallen sind, weil sie keine Ahnung hatten, von dem, was hier eben passiert ist. Und es gab natürlich massiven Widerstand. Und auch aus dem Stadtrat dann Kündigungsanträge gelaufen sind, dass also der Auftrag der Verwaltung dieser Städtischen Sammlungen dann im Folge dieser und einer anderen Ausstellung zum Ende des Ersten Weltkrieges, ja, als Spätfolge wohl auch letztlich 2009 der Vertrag gekündigt wurde. Autorin: Hubertus Habel bestätigt damit, was mir von anderen Gesprächspartnern in Coburg nur angedeutet wurde: sein Engagement zur Aufklärung der Nazigeschichte der Stadt kostete ihn sein Amt. Heute ist er Leiter des Gärtner- und Häcker-Museums in Bamberg, aber immer noch ehrenamtlicher Heimatpfleger der Stadt Coburg, der weiterhin Führungen zum Thema anbietet. Auch der Hobbyhistoriker Harald Sandner hat lernen müssen, welche Tabus es bis heute in seiner Heimatstadt gibt. O 20 Sandner Das ging ja so weit, dass man in der hiesigen Zeitung noch 1989 ein Bild vom Herzog mit seiner Frau abgedruckt hat, wo der Herzog in einem schwarzen Anzug dargestellt wird. In Wirklichkeit ist dieses Foto retuschiert worden. Das Originalfoto zeigt ihn nämlich in einer SS-Uniform. Also noch 1989 hat man zur Geschichtsfälschung gegriffen, um ja nicht irgendwie das Thema hochkommen zu lassen. Der war ein Opfer. Der war naiv. Der konnte nichts dafür. Der wurde von Hitler missbraucht, usw. usf. Das stimmt aber natürlich nicht, ja? Denn das war ein intelligenter Mensch. Das war ein Täter. Sein Stellvertreter - er war Präsident des Deutschen Roten Kreuzes von 1933 bis 45 - sein Stellvertreter war SS-Obergruppenführer Ernst-Robert Grawitz, der direkt in die Euthanasie verstrickt war. Und davon will der alles nichts gewusst haben und das ist natürlich überhaupt nicht nachvollziehbar. Sprecher: Mit Coburg habe ich Politik gemacht. Autorin: So Adolf Hitler 1937 zum 15. Jubiläum des Deutschen Tages in Coburg. Trotz dieser großen Bedeutung, die die Nationalsozialisten dieser Stadt und ihrer Geschichte der 20er Jahre einräumten, hat sich Coburg erst 2016 dazu durchgerungen, eine Kommission zur Aufarbeitung einzusetzen. Hintergrund dafür waren internationale Schlagzeilen über die Benennung einer Max-Brose-Straße. Max Brose war Wehrwirtschaftsführer im Dritten Reich und ersteigerte die Villa des von den Nazis gedemütigten und vertriebenen Kaufmanns Abraham Friedmann. Die Tageszeitung "Die Welt" schrieb: Zitat: In Coburg wird erforscht, was längst bekannt. Autorin: Bekannt vielleicht nicht, aber erforscht - durch Männer wie Rainer Hambrecht, Harald Sandner und Hubertus Habel. O 21 Habel Dieses Sprichwort: der Prophet gilt im eigenen Lande nichts und insofern finde ich es, ganz nüchtern betrachtet, als eine passende Geschichte (Geklapper), dass dieser Auftrag über das Institut für Zeitgeschichte gelaufen ist, weil das eine international renommierte Forschungsinstitution in Sachen gerade auch Drittes Reich ist und das Institut für Zeitgeschichte nicht in die Coburger Lokalpolitik verbandelt ist, um es mal so neutral wie möglich zu sagen. Sprecher: Epilog Autorin: Transgenerationale Traumatisierung nennen Wissenschaftler das Phänomen, dass emotionale Wunden bis in die dritte, vielleicht sogar vierte Generation weitergegeben werden können. Bin ich deshalb so aufgewühlt, wenn heute wieder Rechtsradikale in Deutschland ihr Unwesen treiben - weil mein Großvater noch wenige Wochen vor Ende des Krieges an die Ostfront geschickt wurde? Angeblich, so behauptete mein Vater, weil er sich u.a. geweigert hatte, für das Winterhilfswerk zu sammeln. Oder weil 1936 das Haus meiner Großeltern von der Gestapo durchsucht wurde? Lassen sich solche Zusammenhänge überhaupt nachweisen? Tatsache ist, dass die Gesprächspartner, mit denen ich über die braune Geschichte Coburgs spreche, über manche Parallele von damals zu heute erschrecken: O 22 Hambrecht Ja! Erschrecken ist überhaupt kein Ausdruck! Autorin: Der Archivar Rainer Hambrecht findet, dass die Bundesrepublik rechtsradikale Umtriebe nicht unnachgiebig genug verfolgt. Und der Chronist Harald Sandner ergänzt: O 23 Sandner Hitler ist medial omnipräsent. Nach wie vor, weil wir ja nach wie vor im täglichen Leben mit den Folgen seines Tuns zu tun haben, ja? Immer noch. Es ist ja heutzutage schon wieder normal, dass von Nazis die Rede ist. Jeden Tag hören Sie in der Presse: da sind Nazis, dort sind Nazis. Entschuldigung: die NSDAP ist verboten. Aber es ist selbstverständlich, dass heute wieder Nazis auf der Straße sind. Und man gewöhnt sich da dran. Das kann es ja nicht sein. Wir haben jetzt meines Erachtens Zustände Anfang der 30er Jahre zum Ende der Weimarer Republik. Die großen Parteien werden stimmenmäßig immer weniger. Die Kleinen kriegen immer mehr. Dasselbe Muster und keiner erkennt das eigentlich, diese, diese Gefahr. Und da muss man gegensteuern. Gegensteuern tut man durch Aufklärung. Aufklärung ist Abwehr. 3