Misha Glenny über den Drogenboss Nem

"Er hatte irgendetwas Magisches"

Antonio Bonfim Lopes, genannt Nem, wird der Presse von schwer bewaffneten Polizisten vorgeführt.
Antonio Bonfim Lopes, genannt Nem, wurde im November 2011 von der Polizei verhaftet. Er war der bedeutendste Drogenhändler in Rio de Janeiro zu diesem Zeitpunkt. © dpa/ picture-alliance/ Marcelo Sayao
Moderation: Ute Welty · 16.01.2016
Der britische Journalist Misha Glenny hat ein Buch über Nem geschrieben, einen der größten Drogenbosse Brasiliens. "Er war alles: Premierminister und Eigentümer des größten Geschäfts", sagt Glenny. Er sei so beliebt gewesen in dem Armenviertel, das er beherrscht habe, dass er von manchen als "König der Favelas" angehen worden sei.
In seinem neuen Buch hat der Journalist und Buchautor Misha Glenny die Lebensgeschichte des brasilianischen Drogenbosses Nem aufgeschrieben. Er hat Nem, der im November 2011 festgenommen worden war, zehn Mal im Gefängnis besucht und insgesamt 28 Stunden interviewt.
Im Deutschlandradio Kultur beschrieb Glenny die erste Begegnung mit Nem, dessen bürgerlicher Name eigentllich Antônio Francisco Bonfim Lopes lautet:
"Es war sonderbar. Man musste sofort Vertrauen aufbauen. Und das ist ganz schwer, wenn er da auf der anderen Seite des Tisches sitzt. Er hatte natürlich Handschellen an, er war nervös, er wusste nicht, wer ich bin. Und ich habe dann damit angefangen, ihn nach seiner Kindheit zu fragen. Und das war eine gute Idee."
Premierminister und Geschäftsinhaber
So habe Nem offenbar das Gefühl bekommen, dass sich wirklich jemand für ihn interessiere. Im Verlauf der Interviews habe er dann viel über sein Leben und das Kokaingeschäft erzählt, berichtete Glenny. Nur in Bezug auf die Mordanklage gegen ihn sei er vorsichtig gewesen. Fünf Jahre lang habe Nem das Stadtviertel Rocinha, eine der größten Favelas in Rio de Janeiro, beherrscht:
"Er war alles: Premierminister und Eigentümer des größten Geschäfts."
"Er wusste alles, was in der Favela passiert"
Die Bewohner von Rocinha würden Nem oft als "König" oder auch als "Allseher" bezeichnen, so hat Glenny bei seinen Recherchen festgestellt:
"Er wusste alles. Er hat seine Macht teilweise auf einer Informationspolitik aufgebaut. Er wusste alles, was in der Favela passiert. Und was außerhalb der Favela - mit der Polizei, mit den anderen Gangs in Rio passiert. Und die Leute haben teilweise geglaubt, dass er irgendwie etwas Magisches hatte. Er war dermaßen beliebt in der Favela, dass manche ihn schon als 'König' beschrieben."

Misha Glenny: "Der König der Favelas. Brasilien zwischen Koks, Killern und Korruption."
Klett-Cotta, Stuttgart 2016
424 Seiten, 22,95 Euro


Ute Welty: Die Geschichte von Nem klingt nach Hollywood: Kind armer, alkoholabhängiger Eltern in einer der größten Favelas von Rio de Janeiro, schafft anscheinend den Absprung ins bürgerliche Leben, dann aber erkrankt die Tochter schwer, und Nem sieht keine andere Möglichkeit, als mit Drogen das Geld für ihre Behandlung zu beschaffen. Am Ende wird Nem bei einem spektakulären Fluchtversuch gefasst und sitzt jetzt, strengstens bewacht, in einem brasilianischen Gefängnis. Die Geschichte von Nem ist warm, und aufgeschrieben hat sie der britische Journalist Misha Glenny für sein Buch "Der König der Favelas", das in genau einer Woche erscheint. Wir können heute schon darüber reden, denn Misha Glenny ist zu Besuch hier im "Studio 9". Guten Morgen!
Misha Glenny: Guten Morgen!
Welty: Zehnmal haben Sie Nem im Gefängnis getroffen, insgesamt 28 Stunden interviewt, um eben dieses Buch zu schreiben. Wie war die erste Begegnung mit diesem Mann?
Glenny: Es war sonderbar, muss ich sagen. Man musste sofort Vertrauen aufbauen irgendwie, und das ist ganz schwer, wenn er da sitzt, auf der anderen Seite des Tisches, und er hat natürlich Handschellen drauf, er ist nervös, weiß nicht, wer ich bin und so weiter. Und ich habe angefangen, ihn zu fragen, was seine Kindheit war. Und das war eine gute Idee, weil er war mehrmals von anderen Leuten interviewt worden, also von der Polizei, von Journalisten, von Rechtsanwälten und so weiter. Aber niemand hat ihn über seine Kindheit und seine Eltern und sein normales Leben gefragt.
Welty: Hatte er vielleicht das Gefühl, jetzt interessiert sich endlich mal jemand für mich selber?
Glenny: Eben. Das glaube ich. Und langsam, aber sicher, über die 28 Stunden, hat er dann angefangen, alles über sein Leben zu erzählen, außer - er bleibt immer noch im Knast wartend auf den Prozess, wo er als Mörder angeklagt ist, also er musste vorsichtig sein, was diesen Mordfall betrifft. Aber sonst hat er viel erzählt über sein Leben und über das Kokaingeschäft und über die Tatsache, dass er diese Favela, Rocinha, die größte Favela in Rio und in ganz Brasilien, beherrscht hat. Das war eine Herrschaft von fünf Jahren. Er war alles, Premierminister und Eigentümer des größten Geschäfts.
Welty: Wenn Sie aber sagen, der König der Favelas, das ist ja schon eine etwas romantisierende Begrifflichkeit, die Sie da wählen.
Glenny: Ja, es ist interessant insofern, dass, wenn man die Bewohner von Rocinha fragt, sie sehen ihn teilweise als König, teilweise als Allseher - er wusste alles. Er hat seine Macht teilweise auf einer Informationspolitik aufgebaut, wo er alles wusste, was in der Favela passiert und was außerhalb der Favela passiert, mit der Polizei zum Beispiel, mit den anderen Gangs in Rio. Und die Leute haben teilweise geglaubt, das hat mir sogar einer der Ermittlungsoffiziere der Polizei erzählt, dass er irgendwie etwas Magisches hatte. Insofern, er war dermaßen beliebt in der Favela, glaube ich, ja, mancher würde ihn schon als König beschreiben.
Welty: Wir reden hier aber von einem Schwerverbrecher. Wie gesagt, er wartet auf einen Prozess wegen Mordes. Inwieweit lässt man sich von so einer Faszination, von so einer Magie, haben Sie gesagt, auch einfangen? Womöglich lässt man sich dann auch benutzen, instrumentalisieren?
Glenny: Schauen Sie, es ist Folgendes: Ich würde einfach sagen, dass es bessere Könige und schlechtere Könige gibt, und er war einer der besseren. Das rechtfertigt nicht, dass er in gewalttätige Aktionen und Zwischenfälle verwickelt war oder dass er mit Kokain gehandelt hat. Das ist mir völlig klar. Aber man muss das gewissermaßen im Zusammenhang sehen. Das war eine Gemeinschaft von 100.000 bis 120.000 Leuten, man weiß nicht ganz genau, wie viel. 120.000 Leute, und das hat er verwalten müssen mit 120 seiner eigenen Soldaten, die schwer bewaffnet waren. Und das ist schon eine Verantwortung. Im Grunde würde ich sagen, dass die Hauptschuld die Regierung, der Staat trägt. Wenn man solche Leute im Stich lässt, wie sie das mit den Favela-Bewohnern gemacht haben, muss man erwarten, dass schlechte Dinge passieren.
Welty: Die Haltung des brasilianischen Staates gegenüber den Favelas hat sich im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft 2014 radikal geändert. Man hat da massiv eingegriffen. Ist die Situation jetzt besser für die Menschen?
Glenny: Schauen Sie, diese Politik, die heißt Pazifizierungs- oder Befriedungspolitik, ist meiner Ansicht nach eine gute Sache, und es hat geholfen. Nur, wie oft in Brasilien, ist sie schlecht ausgeführt worden, mit nicht genügend Geld. Und das heißt, dass der Job nur halb gemacht worden ist, und leider, weil Brasilien momentan in einer großen politischen und wirtschaftlichen Krise steckt, werden Budgets überall gekürzt, einschließlich das Budget für die Sicherheitspolitik in Rio. Das ist für mich eine Katastrophe, sechs Monate vor den olympischen Spielen. Und was wir sehen, letzte Woche zum Beispiel in Rocinha, ist die Wiederkehr von Waffen und Schusswechseln. Vor einer Woche in Rocinha, wie gesagt, ist jemand getötet worden und mehrere verletzt. Und das ist auch in den anderen, pazifizierten Favelas passiert, dass die Gangs wieder da sind mit den Waffen, und sie konfrontieren die Polizei. Das ist eine Gefahr für Rio, eine Gefahr für die Olympischen Spiele.
Welty: Das Buch über den "König der Favelas" ist auch ein Buch über Brasilien zwischen Koks, Killern und Korruption. Das neue Buch von Misha Glenny, der heute Morgen hier im Studio war und das Gespräch, für das ich mich herzlich bedanke, das haben wir aufgezeichnet.
Glenny: Bitte!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.