Mircea Cărtărescu: "Solenoid"

Obsessionen, Neurosen und mutierte Parasiten

06:44 Minuten
Buchcover "Solenoid" von Mircea Cărtărescu.
Höllenstürze und Himmelfahrten: "Solenoid" von Mircea Cărtărescu bietet alles. © Hanser Verlag/Deutschlandradio
Von Jörg Plath · 03.01.2020
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Mircea Cărtărescu ist ein Meister der Überwältigungsästhetik. Bei der Lektüre seines Romans "Solenoid" kann man nie sicher sein, welche Ausgeburt seiner Angst- und Erlösungsphantasie auf der nächsten Seite losgelassen wird.
Kleinmut ist dem rumänischen Schriftsteller Mircea Cărtărescu fern. Sein neuer Roman "Solenoid", wie schon die Trilogie "Die Wissenden" im ruinösen Bukarest des Spätsozialismus angesiedelt, hält Höllenstürze und Himmelfahrten bereit: Die "melancholischste Stadt" der Welt birgt panischen Schrecken, und am Ende erhebt sich ein Teil von ihr in einer irren Sequenz in den Himmel.
Ein Vorstadtlehrer an der Schule Nr. 86 ist der Erzähler dieses Romans. Mit seinem ersten Langgedicht "Der Niedergang" ist er, anders als Mircea Cărtărescu in den späten 80er Jahren, in einem Literaturzirkel der Universität gescheitert. Er schreibt weiter, nun aber nur für sich, getrieben von einem Gefühl der Vorbestimmtheit und dem Wunsch, allerlei seltsame Vorkommnisse zu verstehen. Denn während der ärmliche Schulalltag deprimierend vorhersehbar verläuft, erlebt der Lehrer außerhalb der Klassenräume Seltsames: Er verirrt sich im großen eigenen Haus, weil dessen Räume nie am selben Ort liegen.

Überbordender Wortschatz

Ein Solenoid genannter Elektromagnet unter ihm hebt alles in ihm auf Knopfdruck ein wenig in die Lüfte, was dem Lehrer und seiner Geliebten wunderbaren Sex erlaubt. In einer kathedralengleichen Fabrikhalle neben der Schule stößt er auf zahllose Vitrinen mit mutierten Parasiten: Milben, Läusen, Zecken so groß wie Tiger und Elefanten. Auf den Straßen demonstrieren "Mahner", geführt von Menschen mit Insekten auf den Handflächen. In Fabrikhallen mit riesenhaften Zahnarztstühlen, unter denen dicke Adern pochen, begierig auf Leid und Schmerz, begegnen die "Mahner" gewaltigen Kreaturen, die von oben einschweben, nachdem sich das Dach wie eine Blüte geöffnet hat.
Bereits im ersten der vier Buchteile erscheinen diese Elemente und Motive. Sie werden in langen Satzperioden und mit einem überbordendem Wortschatz, von Ernest Wichner mit ausgesprochener Eleganz übertragen, verknüpft mit Kindheit und Jugend des Lehrers: mit seinen intensiven Impf- und Zahnarztqualen, einem langen Sanatoriumsaufenthalt als Tuberkulosekranker, mit obsessiven Lektüren des Buches "Stechfliege" sowie eines Bandes über Parasiten.

Katastrophische Begegnungen

Auf all dies kommt Cărtărescu , der zuweilen von seiner Sprach- und Beschreibungsmacht hinweggetragen zu werden droht, in immer neuen Wendungen zurück, das Netz zwischen den Erinnerungen, Ereignissen, Obsessionen, Neurosen, Psychosen, Halluzinationen, Ahnungen ständig erweiternd und verdichtend. Man sieht der paranoischen Welt mit ihren panisch verzerrten Größenverhältnissen und den Einsprengseln von Liebe und Komik voller Schrecken und Erstaunen beim Entstehen zu.
In den oft katastrophischen Begegnungen von Insekten-, Menschen- und Riesenwelt von "Solenoid" ist eine große Gottessehnsucht spürbar. Spätestens wenn der Lehrer für eine kleine Parasitenewigkeit in eine Milbe verwandelt wird, muss man den Roman auch als Reflexion über die Möglichkeit einer Verkündungsbotschaft oder über Interkulturalität lesen. Der 1956 geborene Mircea Cărtărescu ist ein großer christlicher Mystiker. Nie wissen die Leser dieses rumänischen Meisters der Überwältigungsästhetik, welche Ausgeburten einer überaus erlesenen und sprachmächtigen Angst- wie Erlösungsphantasie auf den nächsten Seiten auf sie losgelassen wird.

Mircea Cărtărescu: "Solenoid"
Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner
Zsolnay Verlag, Wien 2019
906 Seiten, 36 Euro

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