"Mir ist die Liste viel zu lang"

Moderation: Ulrike Thimm · 16.11.2012
Mit dem UNESCO-Welterbe sollen einzigartige Kunststätten wie der Tempel von Abu Simbel geschützt werden. Dutzende Schlösser gehören auch zum Erbe. Es seien aber zu viele, sagt Professorin Marie-Theres Albert. Sie befürwortet eine immaterielle Liste mit Tango und Traditionen.
Ulrike Timm: Das nordfriesische Wattenmeer, die Pyramiden von Gizeh und der Grand Canyon, was haben die gemeinsam? Alle drei gehören zum UNESCO-Welterbe. Zu dem, was aufgrund seiner Einzigartigkeit, seiner Authentizität und seiner Integrität für alle Menschen dieser Welt als schützenswert und wichtig gelten soll. Und während man heute schon mal überlegt, ob man wirklich noch das 34. Barockschloss aufnimmt oder doch lieber Jodeln als immaterielles Kulturerbe, und die Liste sich manchmal auch ein wenig zu verläppern scheint, gab den Anstoß zur Welterbekonvention, die heute vor 40 Jahren in Kraft trat, ein echter Coup: Der Bau des Assuan-Staudammes am Nil. Der drohte nämlich, den weltberühmten Tempel von Abu Simbel schlicht zu versenken, und vor allem dank des Alarms der UNESCO wurde eben der Tempel fein säuberlich abgetragen und dann höheren Ortes wieder aufgebaut. Gibt es solche Ereignisse vergleichbarer Dimension eigentlich heute noch? Auch darüber spreche ich mit Marie-Theres Albert, Professorin für World Heritage Studies, also fürs Welterbe, an der technischen Universität in Cottbus. Frau Albert, ich grüße Sie!

Marie-Theres Albert: Ich grüße Sie auch!

Timm: Heute stehen 936 Stätten auf der UNESCO-Welterbeliste, 725 Kultur- und 183 Naturerbestätten – eine ziemlich lange Liste. Bedeutet da der Titel tatsächlich noch was?

Albert: Ich denke, die Tatsache, dass so viele Erbestätten auf der Liste stehen, bedeutet einfach, dass dieser Titel sich also in den 40 Jahren zu einem – nicht der Titel, sondern das Erbe, was dahintersteht – zu einem ganz besonderen Merkmal von kulturellem Ausdruck, kultureller Pracht, kulturellem Gut entwickelt hat, was die Völkergemeinschaft akzeptiert hat, dass es dieses zu schützen gilt. Und insofern bedeutet der Titel bis heute und hoffentlich auch in die Zukunft eine ganze Menge.

Timm: Ich gehe noch mal auf die Formulierung für alle Menschen dieser Welt. Was bedeutet denn einem Bewohner von Nigeria, was bedeuten ihm die Luther-Gedenkstätten, und umgekehrt, einem Bewohner des Wörlitzer Gartenreichs die Hügel von Tsolido in Botswana, wo es ein paar Felszeichnungen gibt?

Albert: Zunächst erst mal gar nichts. Das ist die Frage der Vermittlung, und das ist die Frage beispielsweise, die für Prozesse des Lernens und in Studiengängen relevant gemacht werden. Die Konvention als solche hat den Anspruch und ist auch so aufgetreten, eben genau dieses weltweit zu vernetzen. Es ist eine Welterbekonvention, die von der internationalen Völkergemeinschaft eben auch für die Welt gemacht worden ist und von der Welt auch genutzt wird in diesen Stätten. Diese Stätten, die Sie gerade genannt haben, sind ja in, ich glaube, 189 Ländern, nein falsch, in 156 Ländern gibt es ja Stätten.

Timm: Aber wenn Sie erst mal in schöner Ehrlichkeit sagen, zunächst noch mal gar nichts, dann ist doch ein Titel in erster Linie eine Aufgabe?

Albert: Das ist richtig, das hat auch nie jemand bestritten. Ein Titel ist eine Aufgabe, und wenn wir jetzt mal auf die Zukunft zu sprechen kommen, dann ist es einfach viel stärker noch eine Aufgabe geworden, eben die Bedeutung dieses Erbes, was wir haben, auch zu vermitteln und zu schützen. Die Aufgabe ist meines Erachtens viel größer geworden, je mehr Stätten wir auf der Liste haben.

Timm: Zu Anfang gab es – ich übertreibe, aber nur ein bisschen – eine imposante Schlösserliste, und inzwischen gehören auch Industriedenkmäler zum Welterbe, es gibt ein immaterielles Welterbe – haben sich die Kriterien im Laufe der 40 Jahre eigentlich geändert?

Albert: Die Kriterien haben sich nicht geändert, die Kriterien sind etwas angepasst worden. Ich mache es mal etwas allgemeiner. Die Welterbekonvention hat sich überhaupt nicht geändert. Die Kriterien zur Bestimmung dessen, was ein Outstanding Universal Value ist, haben sich im Laufe der 40 Jahre natürlich etwas angepasst an die Zeit, und die mit der Zeit einhergehende Notwendigkeit, auch besondere Schutzmaßnahmen zu ergreifen, aber im Großen und Ganzen gab es immer sechs Kriterien für die Definition von Kultur, und vier für die Bezeichnung der Natur. Dieses hat sich im Laufe der 40 Jahre nicht wesentlich geändert, nur etwas angepasst.

Timm: Und Ihnen ist die Liste nicht zu lang?

Albert: Mir ist die Liste viel zu lang, weil es sich inzwischen wiederholt. Ich finde, wir haben viel zu viel Schlösser, ich finde, wir haben viel zu viel christliche Monumente und ich finde auch, dass wir dabei sind, das, was es noch wenig auf der Liste gibt, zum Beispiel wie modernes Erbe oder wie Rock Art, dass wir dabei sind, diese Werte dieser wirklich noch nicht sehr genutzten Typen, etwas in den Hintergrund zu drängen, weil immer mehr diese klassischen Stätten wie eben die barocken Schlösser oder die Gärten oder was auch immer nominiert werden. Aber es ist eine Frage von Quantität und Qualität. Und was ich finde, ist, dass man also dieser Quantität endlich Qualität entgegensetzen müsste, aber nicht unbedingt, indem man mehr Stätten benennt, sondern indem man einfach das, was man hat, anders interpretiert, sodass es auch jeder versteht.

Timm: Wir sprechen mit Marie-Theres Albert übers UNESCO-Welterbe. Heute vor 40 Jahren unterzeichneten fast 200 Staaten dazu die Welterbekonvention. Frau Albert, wenn Ihnen die Liste zu lang ist, was würden Sie denn gerne – die Schlösser würden Sie vielleicht, das eine oder andere, gerne streichen, das habe ich verstanden –, aber was gehört denn für Sie noch drauf auf eine ohnehin schon lange Liste?

Albert: Also, ich würde es nicht streichen wollen, sondern ich würde es etwas anders zusammenstellen wollen. Ich würde – und das ist das, was wir heute machen, und das ist das, was die UNESCO inzwischen auch macht –, ich würde aus den vielen Schlössern, aus den vielen barocken Schlössern eine Nominierung machen, es wäre jene Nominierung, in die ich zum Beispiel die vielen, vielen Schlösser, die vergleichbaren Typs sind, die vergleichbare historische Konstellation haben, die würde ich zu einer seriellen Nominierung machen. Und dann könnte ich eine ganze Reihe an Stätten quasi unter eine Oberkategorie fassen. Das würde die Anzahl um vieles reduzieren.

Timm: Kleine Schlosssammlung sozusagen.

Albert: Zum Beispiel.

Timm: Aber gibt die Liste die Vielfalt der Welt tatsächlich wieder?

Albert: Nein.

Timm: Denn 60 Prozent des Erbes kommt heute aus Europa.

Albert: Richtig. Die Liste gibt weder die Vielfalt – also es gibt weder die Welt in der Weltbedeutung wieder, sie ist eine eurozentrische Liste, und das ist wirklich ein Problem – noch gibt sie die Vielfalt der Erbestätten wieder, noch gibt sie auch die Bedeutung wieder – das war die Eingangsfrage. Was bedeutet eigentlich, also was bedeuten Schlösser und Gärten für jemanden in Nigeria? Ich persönlich würde sagen, so, wir sollten uns mal in Ruhe hinsetzen und angucken, was wir da haben, und dann überlegen, was wir denn noch nicht haben, und was wir brauchen.

Timm: Und was wäre das?

Albert: Weiß ich nicht, muss ich gucken.

Timm: Dann sprechen wir mal über diese immaterielle Liste, die ja in Deutschland nicht ratifiziert wurde, in der zum Beispiel Tango und französische Küche stehen, die auch zum Welterbe gehören.

Albert: Nein – darf ich Sie unterbrechen? Die gehören nicht zum Welterbe, sondern sie gehören zum … sie sind Ausdrücke einer immateriellen Kultur. Immaterielle, kulturelle Ausdrücke, die sich auf andere, völlig andere Kategorien beziehen als das Welterbe.

Timm: Auf welche denn?

Albert: Auf zum Beispiel das Wissen der Zeit, auf die Traditionen der Zeit, auf die Gesänge der Zeit, auf die ganz spezifischen kulturellen, immateriellen, kulturellen Ausdrücke.

Timm: Aber diese immaterielle Liste ist ja gerade auch auf Bestreben von kleineren, von Entwicklungsländern, von afrikanischen Ländern, auch mit entstanden, weil die sich eben da bislang zu wenig widergespiegelt fanden. Was sind denn da die zentralen Begriffe, oder welche Begriffe sollten da eben auch diesen Ländern eine Chance geben?

Albert: Die immaterielle Liste hat weitaus mehr Eintragungen aus afrikanischen Ländern, aus auch asiatischen Ländern als die Welterbeliste. Also, sie wurde wirklich über Japan initiiert und ins Leben gerufen. Ganz explizit als Gegenmodell zu der Welterbeliste, und als Gegenmodell im positiven Sinne, zu sagen, wir brauchen auch eine Liste, nicht von Stätten, sondern von kulturellen Ausdrücken, die das repräsentieren, was man in Europa nicht unbedingt sofort findet, nämlich die Vielfalt von Lebensausdrücken.

Timm: Was steht denn da zum Beispiel drauf und ist Ihnen besonders wichtig, oder was finden Sie besonders anschaulich?

Albert: Der Tango ist da drauf, das finde ich eine ganz interessante Sache. Es sind brasilianische Gesänge drauf, es sind auch Traditionen, Wissenstraditionen, die von Generation zu Generation überliefert werden in afrikanischen Ländern drauf, also es ist, ja … Das sind so Sachen, von denen ich denke, die den Leuten vor Ort helfen, ihre eigene Kultur weiterzuentwickeln, die aber auch dann, wenn sie auf solch einer Liste stehen, der Weltbevölkerung klargemacht werden können, dass es in den Ländern, in vielen Ländern dieser Welt, einfach noch Traditionen gibt, die schützenswert sind, das ist das eine, die aber auch der jeweiligen Gruppe, die diese Tradition pflegt, helfen, sich weiterzuentwickeln.

Timm: Frau Albert, leisten wir es uns doch mal, ein paar Sekunden zu spinnen, wenn man in die Zukunft schaut, dann wird ja ein Bereich immer wichtiger, das Internet. Kann es sein, dass dort schützenswertes Welterbe entsteht, und ist man da für eventuelle Schutzmaßnahmen gewappnet?

Albert: Mir ist nicht so richtig klar, was man denn vom, am oder im Internet schützen kann. Eigentlich ist das Internet sich selbst dauernd überholend und überrennend. Noch würde ich sagen, ist das Virtuelle kein Welterbefall. Ob das irgendwann kommt, weiß ich nicht. Und Welterbe vielleicht sowieso nicht, vielleicht einfach nur – vielleicht kommt irgendwann was, wo man sagt, ja, da haben einfach Leute eine Konstruktion erzeugt, ein Wissen erzeugt, was notwendig ist, weiterhin auch vorangetrieben zu werden, weiter entwickelt zu werden.

Timm: Marie-Theres Albert, Professorin für Welterbestudien an der TU in Cottbus. Heute vor 40 Jahren entstand die UNESCO-Konvention zum Schutz des Welterbes. Frau Albert, ich danke Ihnen fürs Gespräch!

Albert: Gern geschehen!

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