Migrationsforscherin zum Asylstreit

"Ein Aufruf aus Bayern zum rechtswidrigen Handeln"

Horst Seehofer, CSU-Vorsitzender und Bundesminister für Inneres, Heimat und Bau, läuft auf seinem Weg zu einer Pressekonferenz, die in Anschluss an die Sitzung des CSU-Vorstands stattfindet, an einem Fernseher vorbei, auf dem die Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) übertragen wird.
Seehofer und Merkel: Entscheidung im Asylstreit vertagt. © dpa-Bildfunk / Peter Kneffel
Sabine Hess im Gespräch mit Dieter Kassel · 19.06.2018
Harte Kritik an der Forderungen der CSU im Asylstreit kommt von der Kulturanthropologin Sabine Hess, Mitglied im Rat für Migration. Seehofer und Söder stünden nicht mehr auf dem Boden der europäischen Grundwertecharta.
Dieter Kassel: "Global" von Leon of Athens. Der Sänger dieser griechischen Band hat übrigens einen schwierigen Weg gewählt für sich selber, er ist vor ein paar Jahren von Griechenland nach Großbritannien gezogen, lebt jetzt in London und wird sich jetzt auch die Frage stellen müssen, ob er als EU-Bürger da in Zukunft überhaupt noch willkommen ist.
Und daran sieht man schon, Europa hat viele Probleme zu lösen, es geht nicht nur um die Flüchtlingspolitik, aber im Moment natürlich auch und besonders – mal wieder – darum, nach dem innenpolitischen Streit in Deutschland. Der ist nicht beendet, aber er ist verschoben worden gestern – und was das alles jetzt und in Zukunft für die Europäische Union bedeutet, darüber sprechen wir mit Sabine Hess, sie ist Professorin für Kulturanthropologie an der Universität Göttingen und auch Mitglied im Rat für Migration. Schönen guten Morgen, Frau Hess!
Sabine Hess: Ja, guten Morgen!
Das von der Nichtregierungsorganisation SOS Mediterranee zur Verfügung gestellte Bild zeigt Flüchtlinge an Bord des Retungsschiffes Aquarius.
Flüchtlinge auf Rettungsschiff «Aquarius»© dpa-Bildfunk / SOS Mediterranee / MSF / Kenny Karpov
Kassel: Ich fange mal böse an: Wird es nicht auf europäischer Ebene für die Kanzlerin sogar einfacher zu verhandeln, denn diese gemeinsame Flüchtlingspolitik mit festen Quoten, für die sie immer stand, für die kann sie doch jetzt nicht mehr stehen mit diesem Regierungspartner.
Hess: Ja, das ist alles ein großes Fragezeichen, was eigentlich der Versuch einer Lösung auf europäischer Ebene soll. Zunächst muss man ja mal feststellen, was soll eigentlich da gelöst werden, wo liegt gerade das Problem. Und zum anderen, warum soll jetzt in zwei Wochen irgendwas klappen, was in den letzten 15 Jahren – also, es sind ja nicht nur die letzten drei Jahre, sondern man muss ja sagen, es sind die letzten 15 Jahre – nicht geklappt hat. Und das ist doch eigentlich der Irrsinn schlechthin, anzunehmen, dass die südeuropäischen Länder damit d’accord gehen könnten mit so einer Dublin-Regelung, mit einer Regelung, die sie sozusagen immer bis heute die Hauptlast der Flüchtlingsbewegungen tragen lässt.

Totale Schieflage der europäischen Architektur

Kassel: Aber wenn jetzt Angela Merkel nach bilateralen Lösungen sucht, das hat sie ja gestern, so wie wir es hören, im Gespräch mit dem neuen italienischen Regierungschef Conte schon getan, das wird so weitergehen. Ist das nicht ohnehin dann mehr oder weniger das Ende der Dublin-Regeln, so wie wir sie bisher kannten?
Hess: Das ist die große Frage: Was heißt hier im Rahmen des gemeinsamen europäischen Asylsystems und im Rahmen dieser noch bestehenden Dublin-III-Verordnung, was heißt hier nach bilateralen Regelungen, nach Abkommen suchen? Das kann letztendlich, wenn sie auf dem Gesetzesboden bleiben will, kann das eben nur bedeuten, innerhalb von Dublin zu sagen: schnellere Transfers, einfacheres Verfahren. Aber das ändert ja nichts an dem Grundproblem, an der Grundkrankheit von Dublin, und das ändert auch nichts an der Grundkrankheit und dem Problem der gesamten europäischen Architektur, dass das eine totale Schieflage ist.
Und wenn jetzt Herr Seehofer und Söder die ganze Zeit jammern, ist das absolut absurd. Erstens sprechen die Zahlen gegen sie, wir haben dieses Flüchtlingsproblem gerade nicht, man muss es auch mit alten Bildern immer wieder hochjubeln. Zum anderen ist es absurd, weil nicht Deutschland die Hauptlast trägt, sondern die Hauptlast gerade der europäischen Flüchtlingsproblematik tragen immer noch Länder wie Griechenland, wie Italien, gerade ist Spanien wieder dabei, auf die Top-10-Liste zu rücken. Es tragen aber auch Länder wie Serbien, die eben nicht im Rahmen der EU sind, und trotzdem als Vorhof dieser Seehoferschen Flüchtlingspolitik missbraucht werden.
Kassel: Das mag, was Sie gerade gesagt haben, für Griechenland stimmen, aber was Italien angeht, wenn ich auf die Zahlen, die mir vorliegen, gucke, dann ist es immer so, dass da ja gar nicht so viele Flüchtlinge bleiben. Also, es kommen extrem viele an, aber wenn Italien immer so tut, als ob es die auch alle behalten müsse und keiner hilft diesem Land, dann stimmt das ja auch nicht. Das heißt, eigentlich hantieren doch alle immer nur in Europa mit der Wahrheit, die ihnen gerade passt.
Hess: Es bleiben natürlich nicht viele in Italien, weil Italien das auch als einen Modus Operandi gefunden hat, wie mit dieser ungleichen Dublin-Regelung umzugehen ist. Welches Land hat denn wirklich die Lust, zum Vorhof, zum Warteraum, zum Abstellraum internationaler Fluchtbewegungen zu werden? Und in der Tat, viele Länder haben schon vor Unzeiten einen sehr saloppen Umgang mit der Dublin-Regelung gefunden, weil die nordeuropäischen Länder nie zugehört haben.

Seit 2015 gilt eine Abschottungsmaxime

Kassel: Nun hören wir aber, dass bilaterale Abkommen zum Beispiel kommen sollen nicht nur mit Griechenland, Italien, das überrascht uns alle nicht, oder mit Bulgarien auch, also mit Ländern mit EU-Außengrenzen. Sondern die Rede ist zum Beispiel auch von Österreich. Ich meine, das klingt schon nach Abschottung. Was würde das denn bedeuten, wenn man sagt, bilateral mit Österreich, denen nehmen wir niemanden mehr ab, dann wird Österreich natürlich auch noch mal ganz anders auf die italienische Grenze gucken. Was könnte das für Folgen haben für Europa?
Hess: Natürlich ist das ein Zeichen einer Abschottungsmaxime, die seit 2015 die europäische Flüchtlingspolitik regiert. Und wenn immer von europäischer Lösung die Rede ist, dann ist die im Effekt nicht viel anders oder viel besser, sie benutzt nur andere Mechanismen und, man muss schon sagen, sie bleibt auf dem Boden der Rechtsgrundlagen, sie bleibt auf dem Boden, oder versucht auf dem Boden der europäischen Grundwertecharta zum Beispiel zu bleiben – was man bei Seehofer und bei Herr Söder schon längst nicht mehr sagen kann. Letztendlich ist es ein Aufruf zu rechtswidrigem Handeln, der gerade aus Bayern passiert.
Aber diese bilateralen Abkommen mit diesen unterschiedlichen Ländern, die haben natürlich eine Kettenreaktion zur Folge, ganz klar. Das heißt jetzt nicht nur, die Zäune sind hochgezogen als Kettenreaktion der Schließung der sogenannten Balkan-Route, sondern jetzt wird nachgelegt. Und letztendlich bedeutet das alles verschärfte Grenzkontrollen und damit letztendlich ein Verstoß gegen den Schengener Code. Oder man muss einfach ganz klar sagen, dieses Europa, wie wir es die letzten 15 Jahre als freien Binnenraum genossen haben und erlebt haben, ist vorbei. Denn man kann Leute nicht raussuchen an der Grenze, ohne wieder engmaschige Grenzkontrollen zu etablieren.

"Wir sind weit, weit entfernt von jedweden Problemen"

Kassel: Was heißt das Ganze nun politisch für Angela Merkel? Sie hat natürlich zusammen mit Frankreich - England kann man ja nicht mehr mitzählen - eigentlich inzwischen immer so eine Führungsrolle übernommen in der EU. Auch eine Führungsrolle, was eben diesen Wunsch nach einer gemeinsamen Regelung, nach einer fairen Verteilung, nach Quoten, die sich auf Wirtschaftsleistung, Größe, Arbeitslosigkeit und ähnliche Kennzahlen berufen. Dafür hat sie ja immer gestanden. Wir haben schon darüber geredet, dass das jetzt schwer wird – kann sie überhaupt noch eine Führungsrolle in Europa, was diesen Teil der europäischen Politik angeht, übernehmen?
Das Handout der Bundesregierung zeigt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), den Präsident des Niger, Issoufou Mahamadou (2.v.r), den Vorsitzende des libyschen Präsidialrats, Fayez Al Sarraj (l), und der Präsident der Republik Kongo, Denis Sassou Nguesso (r), unterhalten sich zu Beginn eines Treffens während des 5. EU-Afrika-Gipfels zu einem Gespräch zu Libyen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel beim EU-Afrika-Gipfel im November 2017© dpa-Bildfunk / Bundesregierung
Hess: Mir ist gerade total schleierhaft, wer überhaupt noch eine Führungsrolle in diesem Chaos einnimmt, denn letztendlich kommen natürlich mit der neuen spanischen Regierung und der neuen italienischen Regierung neue Akteure, die alle letztendlich nicht weitsichtig handeln, die alle sich nicht um den europäischen Tisch setzen, sondern die alle sehr ad hoc, sehr national handeln, und das ist letztendlich auch, was wir seit 2015 sehen: die massive Rückkehr zu nationalen Lösungen. Und was die Kommission will, eben eine einheitliche europäische Außengrenze, Merkels Traum war das ja auch, eine einheitliche europäische Asylagentur, Macron hat auch in die Richtung gesprochen, das scheint gerade auch vom Tisch zu sein.
Vielmehr scheint ja auch Merkel mit ihrem Wiederanknüpfen an der Idee Asylverfahren in Libyen durchzuführen, letztendlich auch, ich finde, den Boden zu verlieren, wo man sagen kann, dass diese Wertegemeinschaft mit einer Genfer Flüchtlingskonvention noch irgendwie ein Maß an – na ja, ich weiß nicht, wie man das sagen kann – an Anstand besitzt. Sich vorzustellen, in einem Land wie Libyen sollten Asylverfahren durchgeführt werden, nur damit hierzulande – ich meine, es kommen gerade pro Monat in Deutschland nur noch 10.000 Flüchtlinge an. Also wir sind weit, weit, weit entfernt von jedweden Problemen, von jedweder Dramatik.
Kassel: Sabine Hess, sie ist Professorin für Kulturanthropologie an der Universität Göttingen und auch Mitglied im Rat für Migration. Frau Hess, herzlichen Dank für das Gespräch!
Hess: Ja, bitteschön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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