Migration

Rätselhafte Abschiebung aus den Golfstaaten

Eine aufstrebende afrikanische Stadt: Addis Abeba. Hier entsteht auch langsam eine Mittelschicht.
Eine aufstrebende afrikanische Stadt: Addis Abeba. Hier entsteht auch langsam eine Mittelschicht. © picture alliance / dpa / Michael Kappeler
Von Benno Müchler  · 24.06.2014
Viele junge Afrikaner gehen in die Golfstaaten, um dort zu arbeiten. Doch jetzt werden die Äthiopier in einer groß angelegten Aktion zu Hunderttausenden zurückgeholt. Die Gründe dafür sind unklar - genau wie ihre Zukunft in ihrem Heimatland.
Nur langsam kriecht der hellgrüne, in die Jahre gekommene Bus die Serpentinen des äthiopischen Hochlands hinauf. Nebelschwaden verhängen die Berge. Es ist kalt hier oben auf 2.000 Metern Höhe. Der 23-jährige Mohammed Jemal hat den Reißverschluss seines blauen Pullis bis nach oben gezogen und verkriecht sich tief in seinem Sitz. So fühlt sich die Heimat an, aus der er einst weggelaufen ist. Nun die unfreiwillige Rückkehr. Noch drei Tage zuvor war er im heißen Riad, der Hauptstadt des Wüstenstaats Saudi Arabien – wo er lange als Hausmeister arbeitete.
"Mir gehen gerade sehr viele Dinge durch den Kopf. Ich mache mir viele Gedanken über mich selbst. Ich möchte weiterhin meine Familie unterstützen. Aber ich will auch wieder zur Schule gehen. Das beschäftigt mich gerade.”
Mohammed ging vor zwei Jahren illegal nach Saudi Arabien. Er suchte Arbeit. Was ihn trieb, war jedoch nicht nur die Armut.
"Ich hatte an der Uni studiert und bin durchgefallen. Ich scheiterte. Wäre ich ein Schreiner geworden, hätten die Leute meine Familie ausgelacht: Schaut her, dieses Kind ging zur Universität, aber er hat es nicht geschafft und wurde jemand gesellschaftlich Unbedeutendes. Das wollte ich nicht. Deswegen bin ich davonglaufen, um frei zu sein und das zu tun, was ich will.”
Mohammed hatte eine Chance verspielt, die nur wenige haben, wo er herkommt. Er stammt aus einer kleinen Stadt in Zentraläthiopien, in der es für die Jugend kaum andere Optionen gibt, als in die Fußstapfen der Eltern zu treten und Bauern zu werden.
Eine Million Menschen abgeschoben
Die Furcht vor Spott wächst in Mohammed mit jedem Kilometer, den sich der Bus seinem Heimatdorf nähert. Gedanken an die Zukunft quälen auch viele andere Passagiere. Mohammed sitzt im Bus mit 50 abgeschobenen Äthiopiern.
Rund 150.000 illegal eingewanderte Äthiopier schob Saudi Arabien Ende vergangenen Jahres ab. Nach Informationen der Internationalen Organisation für Arbeit, ILO, waren es insgesamt eine Million Menschen aus Afrika und Asien, die abgeschoben wurden. Die Wiedereingliederung der Auswanderer ist für Äthiopien eine finanzielle Herausforderung. Das Land verzeichnet zwar seit Jahren ein starkes Wachstum, ist aber nach wie vor sehr arm. Die Geld-Rücküberweisungen der Auswanderer trugen viel zur Entwicklung Äthiopiens bei. Damit ist es jetzt vorbei.
Als Mohammed aus dem Bus steigt und sein Gepäck vom Dach hebt, eilen Freunde herbei und umarmen ihn. Viele von ihnen waren selbst bis vor ein paar Tagen noch in Saudi Arabien. Die Bewohner erzählen, dass Leguama, eine Kleinstadt mit rund 6.000 Einwohnern, fast seine gesamte Jugend an Saudi Arabien verloren hätte, die jetzt mit einem Schlag zurückgekehrt sei. Der Gemeindevorsteher Alebachew Assen Ahmed ist glücklich über ihre Ankunft.
"Das ist eine frohe Stunde für die Familien der Auswanderer. Wir freuen uns, dass sie wieder hier sind und glauben, dass sie viel zur Entwicklung unserer Stadt beitragen können.”
Das Leben in Leguama beginnt morgens mit dem Krähen des Hahns und endet abends nach dem Einbruch der Dunkelheit. Die wenigsten Menschen hier haben fließend Wasser und Strom.
Allerdings hat sich das Leben in der Stadt durch das Geld der Auswanderer verbessert. Viele Familien konnten sich neue Häuser bauen und mehr Dinge leisten als früher. Leguama bekam eine Schule, Handyshops, neue Gemischtwarenläden. Bald soll es einen Krankenwagen geben, der von Haus zu Haus fährt.
"Natürlich hat das Geld viel zur Entwicklung der Stadt beigetragen. Manche Menschen haben durch den Bau neuer Häuser ein Vermögen verdient. Das Geld hat uns Fortschritt gebracht. Seit 2007 hat sich die Stadt verändert, so dass es gar keinen Zweifel am positiven Effekt der Geld-Rücküberweisungen geben kann. Aber der sichtbare Fortschritt in unserer Stadt hat auch zu einem Gefühl beigetragen, dass man nur etwas ändern kann, wenn man sein Land verlässt.”
Es wird schwer für die jungen Heimkehrer sein, sich in Leguama wieder einzufinden. Während sie die Welt sahen, haben die Daheimgebliebenen in Leguama nachmittags zum Zeitvertreib Kaffee getrunken und zerzausten Kindern mit triefenden Nasen dabei zugeschaut, wie sie mit Stöcken rollende Felgen anschieben.
Die Rückkehrer bringen den Islam mit
Die Erfahrung in Übersee hat die Heimkehrer entfremdet, was man schon äußerlich sieht. Sie tragen moderne Kleidung, haben teure Smartphones und flanieren mit großen, bunten Kopfhörern und MP3-Playern über die staubigen Feldwege der Stadt.
Und noch etwas hat sich verändert. Äthiopien ist ein mehrheitlich christliches Land. Doch die Region um Leguama ist stark muslimisch geprägt. So tragen viele der jungen Männer längere Bärte als vorher. Viele junge Frauen sind voll verschleiert.
Mit dem Lohn ihrer Kinder in Saudi Arabien bauten die Bewohner Leguamas auch vier neue Moscheen. Der Gemeindevorsteher ist nicht besorgt über die Islamisierung seiner Stadt.
"Nein, wir sind nicht besorgt. Wir wissen zwar nicht, was es bedeutet, aber wir können es womöglich in die richtigen Bahnen lenken.“
Mohammed ist inzwischen fast da. Sein jüngerer Bruder, Endris, und ein Freund tragen den Koffer zum Haus der Familie. Dort steht der Vater vor der Tür, küsst seinen Sohn auf die Wangen und sagt leise: "Alhamdulillah“, "Lobet den Herren.“ Dann führt er seinen Sohn ins Haus, das dieser noch nicht kennt. Sie bauten es von seinem Geld, das er in Saudi Arabien verdient hat.
Die kärglich eingerichtete Lehmhütte ist nicht größer als 30 Quadratmeter. Im Wohnzimmer liegen ein paar Matratzen. Von der Decke hängt eine Glühbirne. Im Nebenraum steht ein Bett. Vorne hat der Vater ein kleines Nähzimmer eingerichtet, wo er sich mit Schneiderarbeiten etwas dazu verdient. Hinterm Haus fließt ein Bächlein, das die Menschen zum Geschirrspülen, Wäschewaschen und Baden nutzen. Der Vater blickt sorgenerfüllt in die Zukunft.
"Das ist ein großes Problem. Das Geld war der Pfeiler unseres Lebens. Hätten die Kinder uns nicht dieses Geld geschickt, wären wir nicht über die Runden gekommen. Wir konnten uns dieses Haus nur von Mohammeds Geld leisten. Nun werden eine Menge Probleme entstehen. Wenn die Regierung keine Fabriken baut und keine Arbeitsplätze schafft, dann werden unsere Kinder weder für sich noch für uns sorgen können.”
Mohammeds 19-jähriger Bruder Endris sagt, er habe schon darüber nachgedacht, nach Saudi Arabien zu gehen, sei aber noch unentschieden: Im Land bleiben oder gehen? Diese Frage stellen sich Millionen Äthiopier. Mit den Folgen kämpft gerade die Regierung.
"Wir glauben nicht, dass es ein soziales Desaster geben wird. Was die Rückkehrer betrifft, wird es keine negativen Auswirkungen haben. Das hier ist eine wachsende Volkswirtschaft.”
Dina Mufti ist der Sprecher des äthiopischen Außenministeriums, das für die Rückführung der Auswanderer aus Saudi Arabien verantwortlich war. Die äthiopische Regierung hat 1,8 Millionen Euro für Re-Integrationsmaßnahmen der Auswanderer bereitgestellt. Allerdings war diese Summe nur für 30.000 Rückkehrer vorgesehen. Unerwartet verfünffachte sich deren Zahl.
“Wir versuchen alle Beteiligten in ein Boot zu kriegen. Den öffentlichen und den Privatsektor. Alle sind gefragt. Auch die Regionen und Landesregierungen sind sich der Aufgabe bewusst und arbeiten an Projekten. So werden die Heimkehrer hoffentlich Arbeit in Kleinbetrieben finden, die einen großen Sektor in Äthiopien darstellen.“
Über die Hintergründe der Millionen-Abschiebung aus Saudi-Arabien äußert sich der Sprecher des Äthiopischen Außenministeriums nicht. Es gibt Anzeichen für politische Gründe. In Saudi Arabien leben schätzungsweise neun Millionen ausländische Arbeiter, ein Drittel der Landesbevölkerung. Die Abschiebung von rund einer Million illegaler Einwanderer im vergangenen Jahr war Teil eines Nationalisierungsprogrammes des saudischen Arbeitssektors, um Arbeitsplätze für Einheimische zu schaffen. Kritiker sagen jedoch, das Programm sei aus der Angst vor einem Arabischen Frühling in Saudi Arabien entstanden, den in Tunesien vor allem Proteste gegen Arbeitslosigkeit ausgelöst hatten.
Beziehungen mit Saudi-Arabien angeknackst
Im Minutentakt kommen Ende November Maschinen der saudischen Fluggesellschaft am Flughafen von Addis Abeba an. Innerhalb eines Monats werden so 120.000 Äthiopier heimgebracht. Ein logistisches Kunststück, das nur durch die Mithilfe internationaler Organisationen gelingt.
Laut äthiopischer Regierung habe die Episode die Beziehungen zu Saudi Arabien nicht verschlechtert. Saudi Arabien ist einer der größten Investoren in Äthiopien neben China, der Türkei und Indien. Die beiden Nachbarländer am Roten Meer – seit 1991 liegt Eritrea dazwischen – eint eine historische Freundschaft. Im 7. Jahrhundert nach Christus fanden verfolgte Muslime aus Mekka Zuflucht im christlichen Äthiopien. Der Prophet Mohammed soll seinen Anhängern persönlich befohlen haben, die äthiopischen Herrscher zu achten und in Frieden mit den Christen zu leben.
Mulugeta Gebrehiwot, Direktor des Instituts für Friedens- und Sicherheitsstudien in Addis Abeba, ist jedoch sicher, dass die Beziehungen mit Saudi Arabien auf zwischenmenschlicher Ebene langfristig einen Knacks erhalten haben.
"Das hat auf jeden Fall einen Preis. Die Saudis hätten mit der Sache besser umgehen können. Viele der Rückkehrer wurden in Saudi Arabien Opfer fürchterlicher Formen der Misshandlung. Die Saudis hätten dafür Solidarität und Mitgefühl zeigen können. Sie hätten den Fällen nachgehen können. Sie hätten sich auch symbolisch bei der Reintegration dieser Menschen hier in Äthiopien einbringen können. Diese Menschen sind nicht zum Spaß in Saudi Arabien gewesen. Sie haben gearbeitet. Sie haben die schmutzige Arbeit für die Saudis gemacht.“
Die äthiopische Regierung hat nach dem Vorfall die Migration nach Saudi Arabien einstweilig verboten. Der Politologe sieht darin auch eine Chance.
"Was die meisten Menschen dort gemacht haben, war doch nichts anderes als Schafehüten oder andere niedere Tätigkeiten. Sie verdienten 200, vielleicht 250 Dollar im Monat unter allen möglichen schlimmen Umständen. Mal wurde ihnen das Gehalt nicht gezahlt, dann wieder nicht und wieder nicht. Jetzt setzen sich die Menschen hoffentlich hin und vergleichen die dortigen Möglichkeiten mit dem, was sie hier verpasst haben, weil sie ihr ganzes Geld lieber in den Transit übers Meer investierten, um am anderen Ufer einen Billigjob zu bekommen. Vielleicht ist diese Episode daher im Nachhinein ein Segen.“
Äthiopien ist eine wachsende Volkswirtschaft. Im ganzen Land wird gebaut. Langsam entsteht eine Mittelschicht. Doch die städtische Arbeitslosigkeit im zweitbevölkerungsreichsten Land Afrikas liegt bei 18 Prozent. Das Leben wird teurer, die Gehälter bleiben gleich. Und so ist die mögliche Aussicht aufs große Geld im Ausland genug, um viele Äthiopier weiterhin zum Verlassen der Heimat zu bewegen.
Mohammed Jemal arbeitete als Rezeptionist und Hausmeister in einem Gästehaus in der Hafenstadt Jeddah. Er verdiente rund 2.900 saudische Riyal, umgerechnet 560 Euro im Monat. Damit verdient er etwa 25-mal soviel wie in seinem Heimatland. Ein Äthiopier erarbeitet pro Jahr im Durchschnitt lediglich 280 Euro – pro Jahr!
Sein Geld fehlt nun der Familie. Dennoch blickt Mohammeds Mutter gelassener in die Zukunft als der Vater.
"Das macht doch nichts. Selbst wenn man Geld hat, hat man doch nie genug. Wir werden sehen, was passiert.“
Die Mutter ist überglücklich, dass ihr Sohn wieder da ist und bringt dem Weitgereisten als erstes ein großes Tablett mit äthiopischem Fladenbrot, gedünsteten Linsen, Möhren und Kartoffeln.
"Ich versuchte ihn damals aufzuhalten. Ich hatte so viel Angst, dass ihm bei der Fahrt übers Meer etwas zustoßen könnte. Ich konnte vor Angst nicht schlafen.“
Die Mutter ist vor ihrem Sohn selbst viele Jahre in Saudi Arabien gewesen. Wie er auch illegal. Sie geht als Pilgerin nach Mekka und bleibt. Arbeitet mal als Köchin, mal als Dienstmädchen. Sie durchlebt viele der Horrorgeschichten, von denen sich Äthiopier erzählen.
"Ich hatte viele Probleme. Ein paar Arbeitgeber waren gut zu mir. Doch ich hatte auch drei, vier schlechte Erfahrungen. Manchmal haben mich die Ehefrauen eingesperrt, wenn sie mit ihren Männern zusammen sein wollten. In manchen Häusern habe ich kein Essen bekommen."
Sie verdient gutes Geld, doch dann sagt ihr Mann, dass er die Söhne nicht länger alleine großziehen könne. Die Mutter kehrt heim. Ihr Geld reicht, um Mohammed nach der Schule auf die Universität zu schicken, wo er Sportwissenschaften studiert. Doch dann erkrankt sie an Nieren und Magen und plötzlich reicht das Geld nicht mehr für ihre Behandlung. Zeitgleich fällt Mohammed an der Universität durch. Er macht sich seither viele Vorwürfe.
"Zu jedem Zeitpunkt in meinem Leben habe ich jemand ernsthaftes sein wollen, jemand, der die Dinge anders angeht. Ich weiß, dass das viele Menschen nicht so sehen mögen wie ich und lieber sorgenfrei leben; einfach nur leben. Doch für mich funktioniert das nicht. Ich denke ständig darüber nach, wie ich ein besserer Mensch sein kann. Der Gedanke im Leben verantwortlich zu sein, treibt mich an.“
Und so ging Mohammed nach Saudi Arabien, 25 Tage, die meiste Zeit zu Fuß. Von den äthiopischen Bergen hinunter über die Grenze nach Djibouti, durch die Wüste an die Küste. Von dort übers Meer. In Jemen runter vom wackeligen Kahn und wieder zu Fuß, mal auch per Bus. Tag und Nacht in ständiger Angst, entdeckt zu werden. Rund 1.000 Euro zahlt er an seine Führer. Fahrtkostenerstattung bei Verspätung oder Nicht-Erreichen des Ziels gibt es im Menschenschmuggel nicht.
Saudi-Arabien bleibt eine Option für ihn
Ein ehemaliger Schulfreund kommt vorbei, um Mohammed Willkommen zu heißen. Der Freund gehört zu den jungen Menschen, die Leguama nicht verließen. Im Gegenteil: Er versucht, die Auswanderer aufzuhalten und wenn nötig mit Gewalt zurückzubringen. Der 22-jährige Ahmed Ymer ist Soldat in einem Grenztrupp und hält Ausschau nach Landsleuten, die wie Mohammed versuchen, die Grenze nach Djibouti illegal zu überqueren.
"Es ist immer mein fester Glaube gewesen, dass man sein Land ändern kann. Äthiopien besitzt jede erdenkliche Ressource. Fruchtbares Land, Bodenschätze. Wenn die Menschen das Geld, das sie investieren um ins Ausland zu gehen, hier investierten, könnten wir unser Land verändern.“
Der Freund sagt, wenn er Mohammed an der Grenze erwischt hätte, hätte er ihn verhaftet wie jeden anderen auch.
Die Dunkelheit bricht herein. Mohammed kniet neben seinem Vater nieder. Der hat einen Gebetsteppich ausgebreitet. Beide gucken nach Mekka. Es ist das erste gemeinsame Gebet seitdem Mohammed vor zwei Jahren wegging.
Mohammed bleiben noch 750 Euro von seinem Verdienst in Saudi Arabien. Er möchte wieder studieren; diesmal erfolgreich. Wenn das nicht geht, will er versuchen, eine Arbeit in einer Großstadt zu finden, um seine Familie zu unterstützen. Und wenn das nicht klappt, sei auch Saudi Arabien wieder eine Option.