Migranten in Ost- und Westdeutschland

Auf wen die Mauer fiel

10:56 Minuten
Dào Quang Vinh
"Die ersten deutschen Wörter, die wir lernen, sind meistens auch Schimpfworte", sagt Dào Quang Vinh, der 1987 in die DDR kam. © Deutschlandradio/Thomas Klug
Von Thomas Klug · 08.11.2019
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Nach der anfänglichen Euphorie beim Mauerfall trat schnell die Ernüchterung ein. Arbeitsmigranten wurden in Ost und West nicht immer willkommen geheißen. Manche fühlen sich bis heute nicht in der Gesellschaft angekommen.
"Sie gehen nach Westberlin ja?" - "Und kommen gleich wieder zurück. Bloß mal gucken." - "Das gleiche wie meine Frau."
Unerhörtes passiert an einem Novemberabend in Berlin. Was auf ewig undurchdringlich scheint, gibt plötzlich den Weg frei nach ... Nun, für die einen sind es unendliche Weiten, für die anderen einfach West-Berlin. Sogar der Rundfunk der DDR ist dabei in jener 1989er Novembernacht:
"Was haben Sie in dieser Nacht noch vor?" - "Ich will erstmal drüben kieken, was los ist. Ich war nämlich bis eben auf Arbeit gewesen."
Wildfremde Menschen fallen sich in die Arme und rufen: Wahnsinn! Und manch einer stellt noch ganz anderes fest auf der Reise von Friedrichshain nach Kreuzberg und zurück.
"Wir waren nur in Kreuzberg. Die freuen sich halt für uns mit. Man hat eben gerade in Kreuzberg viele Ecken gesehen, die ebenso sind, wie man uns berichtet hat. Aber man hat eben auch viel gesehen, was man nicht gewusst hat. Zum Beispiel, dass die Leute freundlich, nett sind, auch in Kreuzberg. Das alles nicht so gefährlich aussieht, zumindest für uns erstmal nicht. Auch die Ausländer. Und die waren alle so lieb, so richtig lieb, ja."

Freudentaumel und 'Türken raus'-Parolen

Ausländer. Menschen aus anderen Kulturen. Migranten. Sie kommen in dieser Zeit wenig zu Wort. Die Euphorie scheint eine eher deutsche zu sein, obwohl sie zunächst wohl alle an den geöffneten Grenzen ergreift:
"Ich habe mich damals gefreut, dass die Ossis endlich ihre Freiheit kriegen, dass sie rausgehen aus dieser Mauern. Ich stand da auch, hab da auch Rosen verteilt. Und am nächsten Mal bin ich nochmal dahingegangen ... Am nächsten Tag bin ich nochmal dahin gegangen und da stand dann 'Türken raus'. Da dachte ich, na ja, da freust du dich, dass die Mauer weg ist. Die haben keine Ahnung von Türken und schreiben gleich 'Türken raus'. Und das war für mich dann vorbei. Und da habe ich auch bereut, dass ich die Rosen da verteilt habe."
Die Enttäuschung kommt schnell. Sie wird vom Freudentaumel übertönt.
"Ich bin die Birgül, Nachnamen will ich erstmal nicht sagen, und lebe seit 1973 hier in Berlin. Jahrelang in Kreuzberg gewohnt und jahrelang in Neukölln gearbeitet und jetzt wohne ich auch noch in Neukölln. Ich bin von Beruf Erzieherin."
Birgül sammelt ihre schlechten Erfahrungen schnell nacheinander – immer im Osten:
"Ich habe für meine Einrichtung eingekauft mit einem Bestellschein, dass ich dahin gehen kann und das kaufen kann. Deutscher Ausweis, aber komischer Name, ausländischer Name. Da schreit die doch: 'Ja, Sie können hier nicht einkaufen, Sie sind nicht kreditwürdig!' Und schreit wirklich so laut, dass jeder das hört."

Herzlicher Empfang für Vietnamesen

"Wir wollten unbedingt hier arbeiten dürfen. Damals Vietnam bitterarm, muss man sagen. Ich heiße Vinh, Dào Quang Vinh."
Vinh kommt aus Vietnam. Im August 1987 landet er auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld. Einen Monat später wird er 18. Fünf Jahre soll er hierbleiben – so steht es in seinem Vertrag. Fünf Jahre arbeiten. Das Verschwinden der DDR ist in dem Vertrag nicht vorgesehen. Vinh lebt zwei Jahre im geteilten Deutschland. Mit den Eigenarten des Sozialismus kennt er sich aus. Etwas anderes hat er bis dahin nicht erlebt.
"Dass die Leute uns sehr herzlich in Empfang genommen haben. Ich habe sogar mit manchen Menschen, also Deutschen, die können sogar vietnamesisch – da wurde versucht, uns zu kontaktieren."
So stellt sich die DDR gern dar – zum Beispiel zum Pfingsttreffen der Jugendorganisation FDJ im Mai 1989 – wie immer mit großer Parade: "Solidarität versteht man hierzulande nicht als noble Geste, sondern als ein Stück politischer Kultur."

"Fidschi" war gang und gäbe

FDJler aus allen Teilen der DDR laufen an der üblichen Ehrentribüne vorbei. Das Fernsehen bemüht sich, auch Gesichter anderer Nationalitäten zu zeigen. Ein tanzendes Mädchen aus Vietnam, ein Arbeiter aus Angola mit dem Schild: "Meine zweite Heimat DDR". Das kleine Land will weltoffen erscheinen. Anderes wird verschwiegen:
"Negative Erfahrungen auch viel. Eine kleine Rangelei auf der Straße zum Beispiel, dass wir weg nach Hause sollen – 'Fidschi' und so weiter – das war gang und gäbe. Die ersten deutschen Wörter, die wir lernen, sind meistens auch Schimpfworte. Das ist wirklich so."
Die so genannten Vertragsarbeiter sollen nur arbeiten. Sie leben in Wohnheimen, meist mit Wachschutz, der Besucher abhalten soll. Ein enger Kontakt zu den Einheimischen ist von der Obrigkeit nicht gewollt.
"Die sind nicht vorgesehen, dass sie hier langfristig bleiben dürfen, sondern nur für diesen Vertrag, für diesen Zeitraum. Und danach wird nach Hause geflogen. Und die Mädchen, wenn die schwanger waren, wird sofort dann abgeschoben. Entweder abgetrieben oder abgeschoben."
Die Mauerspechte beginnen, ihre Arbeit zu verrichten. Die monströse Mauer wird in Souvenirgröße zusammengeklopft. Die Frage "gehen oder bleiben" stellt sich für viele jetzt gerade – wo es ungefährlich geworden ist. Ostdeutsche denken darüber nach. Und Vertragsarbeiter. Auch Vinh:
"Ich war glücklicher als meine Kollegen. Zu dieser Zeit arbeiteten wir viel für Hugo Boss, wir wurden sehr gut bezahlt. Deshalb sind wir sehr fleißig zu dieser Zeit. Der Betrieb funktioniert immer noch, du kannst gut verdienen. Was erwartest du drüben? Hab meine Kollegen und Kolleginnen besucht, die waren in so einer gemeinsamen Notunterkunft. Man hat keine Privatsphäre, schlimmer als hier bei uns im Wohnheim."

Die Mauer ist auf uns gefallen

"Mich interessiert nicht, dass was wir schon tausendmal gehört haben, wie es am 9. November gewesen ist, 'Wo warst du, als die Mauer fiel', sondern wie hat sich das Zusammenleben in Deutschland gestaltet in diesen Jahren bis heute – und zwar von allen", sagt Susanne Jahn-Manske. "Ich bin seit kurzem pensioniert und habe früher als Beraterin gearbeitet, und habe jetzt ein Projekt mit Herrn Hofmeister durchgeführt zum Zusammenleben in Deutschland 1989/90 bis heute."
Durch ihr Projekt hat Susanne Jahn-Manske sehr unterschiedliche Menschen und Lebenserfahrungen kennengelernt. Es gibt wenigstens eine Gemeinsamkeit: "Es gibt eine ganz typische migrantische Erfahrung, nämlich die der sofortigen Ausgrenzung. Das fing am 10. November an und hat sich dann fortgeführt. Das war eine sehr schmerzliche Erfahrung."
Nesrin Tekin kommt ursprünglich aus der Türkei, lebt seit 47 Jahren in Berlin. "Ich lebe gerne in Berlin", sagt sie. "Viele Türken haben das gesagt, meine Eltern haben das gesagt: Die Mauer ist auf uns gefallen. Mit 'uns' ist gemeint die Menschen mit Migrationshintergrund, Ausländer."
Ein Begegnungszentrum in Berlin Kreuzberg. Susanne Jahn-Manske und ihr Mitstreiter haben alle Gesprächspartner eingeladen. Birgül ist dabei und Nesrin. Sie sollen sich kennenlernen. Ein Mikrofon wollen sie nicht dabeihaben. Danach erzählen die Teilnehmer ihre Geschichten – draußen in der abgeschirmten Raucherecke:
"Meine Schwester, die ja hier geboren ist, die war damals Gymnasiastin. Sie ist so von irgendwelchen Glatzköpfen, Nazis, verfolgt worden, also hinter ihr ist hergerannt worden, obwohl meine Schwester nicht mal auf den ersten Blick als eine Türkin erkennbar ist. Wahrscheinlich, weil sie mit ihren Freundinnen sich auf Türkisch unterhalten hat, so. Sie kam voller Angst nach Hause. Sie hat diese Erfahrung gemacht, meine Eltern zum Teil auch.

"Ich habe keine ostdeutschen Freunde"

Auch wenn manche Erfahrungen sehr ähnlich sind, ist das, was Birgül, Vinh und Nesrin daraus ableiten sehr unterschiedlich:
"Ich habe keine ostdeutschen Freunde. Woher soll ich die denn haben, ich habe doch keinen Kontakt zu denen. Mein Freundeskreis besteht ja überwiegend aus Deutschen, aber von West. Das ist ja meine Heimat hier, ich bin ja mit fünf Jahren hergekommen. Aber die lassen mich immer wieder spüren, dass es nicht meine Heimat ist. Und ich bin hier nicht angekommen. Sobald ich Rentnerin bin, will ich gehen, zurück."
"Jetzt habe ich meine Familie hier, ich habe zwei Töchter, die sind gut, sehr gut in der Schule. Die haben kein Problem wie wir. Die deutsche Gesellschaft ist sehr offen. Muss man sagen. Muss man wirklich sagen, dass die deutsche Gesellschaft sehr offen ist."
"Ich komme aus der Türkei, ich kann mir nicht vorstellen, in der Türkei zu leben. Und da hätte ich mit anderen Kämpfen zu tun. Ich sage immer wieder: Nee, wir müssen unsere Teilhabe hier erkämpfen und lassen uns nicht wegdrängen oder wegschicken. Meine allerbeste Freundin ist eine Deutsche. Ich habe ganz tolle Kolleginnen, mit denen ich vielleicht viel mehr gemeinsam habe als mit welchen aus meiner eigenen Familie."
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