Michelin-Tester

Bei diesem Gast bekommen Köche weiche Knie

Ein Mann steht in einem Restaurant
Ein Foto von Ralf Flinkenflügel können wir nicht zeigen: Für seinen Job will er anonym bleiben. © imago/Westend61
Von Kristina Hüttl · 01.12.2016
Seit 50 Jahren schmücken sich die besten Restaurants in Deutschland mit "Michelin"-Sternen: Undercover-Inspektoren testen die feinsten Küchen der Republik immer wieder neu. Ralf Flinkenflügel ist einer von ihnen - und in Deutschland oberster Chef.
Treffpunkt Hauptbahnhof in Karlsruhe. Doch wie erkennt man jemanden, dessen Gesicht ein streng gehütetes Geheimnis ist? Und dass obwohl er seit beinahe 20 Jahren der wichtigste Restaurant-Tester in Deutschland ist.
Ralf Flinkenflügel arbeitet für den Guide Michelin, den von Köchen gefürchteten Gourmetführer, der Sterne vergibt, sie manchmal aber auch wegnimmt.
Ein Mann nähert sich - auf seiner Jacke ist ganz klein das Michelin-Logo, das kugelrunde Männchen, zu erkennen. Ja, es ist Flinkenflügel, Chefredakteur des Michelin-Führer Deutschland. Warum aber will der oberste Inspektor unbedingt anonym bleiben?
"Der Grund ist, dass wir einfach als ganz normaler Gast essen gehen wollen. Und dann nicht besonders behandelt werden wollen. Erstmal wäre mir das persönlich nicht angenehm. Und zweitens könnte es auch sein, dass dann der Service nervöser reagiert, oder der Küchenchef versucht, noch was extra machen."

Sterneküche hat sich gewandelt

Apropos Service: Flinkenflügel hat noch nicht gefrühstückt. Er schlägt das Café Endle vor, laut ihm die bestePâtisserievon Karlsruhe. Er und jeder seiner zwölf deutschsprachigen Inspektoren gehen um die 250 Mal im Jahr für den Michelin Test-Essen und fahren dafür quer durch die Republik. In Karlsruhe sitzt die Redaktion, gleich neben dem Michelin-Werk, wo die Reifen produziert werden. Denn eigentlich ist der Gastroführer um 1900 als Marketing-Idee in Frankreich entstanden:
"Viele wissen das gar nicht, dass es damals nur 3000 Automobile in Frankreich, gab und die Gebrüder Michelin haben sich überlegt, wie bekomme ich die Leute dazu, dass sie ihr Auto bewegen und ihre Reifen abfahren. In der ersten Ausgabe waren daher hauptsächlich Informationen über Werkstätten, Benzin Depots und welche Straßen befahrbar waren..."
… und wo die besten Gaststätten zur Stärkung sind. Im Café Endle ist ein Tisch auf einen fremden Namen reserviert – auch wenn Flinkenflügel heute weder die Qualität der Petits Fours, Torten und Quiches noch des Service beurteilen muss. Die Idee, den besten Restaurants, Sterne zu verleihen ist in Deutschland 50 Jahre alt. Doch die Sterneküche damals lässt sich kaum mehr mit der heutigen vergleichen:
"Ich habe mir mal die Mühe gemacht, im Führer von 66 zu stöbern, da gibt es dann Spezialitäten, die wir angegeben haben zu jedem Sternerestaurant. Wenn man das liest: Holzfäller-Steak oder Chateau Briande mit Bernaise oder Shrimpscocktail - das sind Sachen, die man in jedem Durchschnittsrestaurant findet. Damals war es etwas besonderes."

Innovative und weltoffene Küchen sind gefragt

66 Ein-Sterne-Restaurants listet der erste Führer für Deutschland, heute tragen 290 einen oder mehrere Sterne. Wer heute als Koch punkten will, muss innovativ und weltoffen sein, eigene Akzente setzen. Pompöse Gerichte, eine große Weinkarte und teures Geschirr - all das sind keine Voraussetzungen mehr für den Stern, sagt Flinkenflügel.
Er blättert jetzt die Karte im Café durch, nein, besser: Er studiert sie. Es ist das Einzige, woran man den Profi erkennt. Flinkenflügel fällt weder durch extravagante Kleidung noch durch seine Bestellung auf – er trägt eine dunkle Strickjacke zu dunkler Hose - und nimmt Mineralwasser zur Quiche mit Schinken. Er selbst hat Koch und Hotelfachmann gelernt, wie fast alle Michelin-Inspektoren:
"Es sind ausschließlich Köche, die langjährige Erfahrung haben in der Spitzengastronomie. Die waren im Ausland unterwegs, haben viele gute Küchen kennen gelernt, die haben ein großes Spektrum gesehen, bevor sie von uns eingestellt werden."
Über die Michelin-Inspektoren kursieren viele Gerüchte. Es heißt, sie fahren gerne Autos mit Karlsruher Kennzeichen und arbeiten wie Agenten mit Decknamen und wechselnden Kreditkartennummern.
Denn auf der anderen Seite betreiben Restaurants einen Riesenaufwand, um sie zu enttarnen: Sie speichern Reservierungen, hängen Fahndungsplakate in der Küche auf. Auch starten Spitzenköche schon mal einen Alarm-Rundruf, wenn ein Gast im Verdacht steht, Tester zu sein, um die Kollegen zu warnen.

Heute nicht im Dienst

"Einige haben natürlich so ein Näschen. Ist unterschiedlich, manche sind völlig perplex, andere sagen, habe ich mir doch gleich gedacht."
Zum Abschied zieht er einen Bewertungsbogen aus seiner Aktentasche, den jeder Inspektor nach einem Testbesuch ausfüllt. Jedes einzelne Gericht wird erst beschrieben, dann in einer zwölfspaltigen Tabelle von ganz schlecht über minus und Standard bis hin zu ein-zwei oder drei Sternen unterteilt, die dann auch noch in kleine, solide und gute Sterne ausdifferenziert sind.
Doch heute bleibt der Bogen unausgefüllt, Flinkenflügel ist nicht im Dienst.
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