Michail Gorbatschow wird 90

Warum Russland ihn schätzen lernen sollte

04:40 Minuten
Michail Gorbatschow, früherer Präsident der UdSSR, im Jahr 2015
Michail Gorbatschow hatte den Weitblick zu erkennen, dass das sowjetische System eine Generalsanierung brauchte, sagt Markus Ziener. © dpa / picture alliance / Sergey Guneev / Sputnik
Von Markus Ziener · 02.03.2021
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Im Westen war er populär. Daheim denkt man bei ihm an Zusammenbruch und Unordnung. Jetzt wird Michail Gorbatschow 90 Jahre alt. Journalist Markus Ziener hat Perestroika und Glasnost vor Ort erlebt und meint: Er hat Unglaubliches geleistet.
Erinnerung kann ungerecht sein, herzlos, ohne Empathie. Sie lässt oft gerade mal das übrig, was griffig ist, was sich in ein paar Sätze pressen, mit ein paar Schlagworten beschreiben lässt. So wie bei Michail Gorbatschow. Der letzte sowjetische Staatspräsident wird von vielen erinnert als jener, unter dem die Sowjetunion zerbrach und auf den Jahre der Unordnung folgten.
Jahre, in denen geschickte Geschäftsleute zu superreichen Oligarchen aufstiegen, Millionen Russen um ihre Renten bangten und Moskau seinen Status als Supermacht einbüßte. Während die Deutschen Gorbatschow für die Chance zur Wiedervereinigung auf ewig dankbar sind, verbindet sich in Russland mit seinem Namen Abstieg und Niedergang.

Gorbatschow erbte einen erstarrten Apparat

Dabei hat der Mann, der heute 90 Jahre alt wird, ganz Unglaubliches geleistet. Um das einschätzen zu können, muss man einen Blick zurückwerfen auf das Politbüro und ZK jener Zeit. Dort herrschten geradezu geriatrische Verhältnisse mit einer vergreisten Führungsriege, die zu jeder Modernisierung unfähig war. Was er erbte, war ein erstarrter Apparat. Gorbatschow hatte den Weitblick zu erkennen, dass das System eine Generalsanierung brauchte. Und er hatte den Mut, diese Erkenntnis in Taten umzusetzen.
Nur: Die Zeit, die ihm für seine Vorhaben zur Verfügung stand, war zu kurz. Für die Perestroika, den ökonomischen Umbau. Und für Glasnost, die politische Öffnung. Dass Letztere in Ansätzen stecken blieb, verfolgt Russland bis heute. Als in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre endlich über die Gräuel der Stalin-Ära gesprochen werden konnte, als unschuldig Verhaftete und Ermordete rehabilitiert wurden, als endlich lange Zeit verbotene Bücher erscheinen durften, da war es fast schon wieder vorbei mit der Glasnost.

Frischer Wind zog durch das Land

Wer diese Zeit in Russland erlebte, als von Moskau bis Wladiwostok endlich die Wahrheiten auf den Tisch kamen, der spürte, welch frischer Wind durch das Land zog. Es war ein überfälliges, aber auch schweres Aufatmen. Weil man einerseits eine neue Freiheit erlebte und andererseits die Trauerarbeit über das grausame Schicksal so vieler Familienmitglieder, Freunde und Bekannte nachholte.
Gorbatschow hatte die Türen und Fenster weit geöffnet und eine Lawine ausgelöst, die ihn am Ende selbst wegspülte. Dafür ist er nicht zu kritisieren, sondern es ist ihm zu danken.
Hätte sich die Phase der Glasnost auch unter Boris Jelzin fortgesetzt, wäre die Aufarbeitung der Vergangenheit weitergegangen, Russland wäre sehr wahrscheinlich heute ein anderes Land.

Aufarbeitung stoppte nach Gorbatschow

Als Deutsche wissen wir, was folgt, wenn man sich der Vergangenheit verweigert. Es dauerte Jahrzehnte, bis sich die Bundesrepublik ihrer Geschichte stellte. Unter Gorbatschow war Russland, war die Sowjetunion auf diesem Weg. Gedenkorganisationen wie "Memorial" entstanden, die Schrecken des Gulags wurden aufgedeckt, auch die Morde an polnischen Offizieren 1940 im Wald von Katyn. Der Prozess der Selbstreinigung hatte begonnen.

Hören Sie dazu auch den Historiker Ignaz Lozo, der Michail Gorbatschow mehrfach getroffen hat. Gorbatschow habe für die Politik gebrannt, sagt Lozo. Er habe den Russen als jovialen, aufgeschlossenen und gütigen Menschen erlebt.
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Heute, im 21. Jahr der Herrschaft von Wladimir Putin, will davon kaum noch jemand etwas wissen. Im Gegenteil: "Memorial" ist seit Jahren von staatlichen Stellen als "ausländischer Agent" gebrandmarkt und dadurch in ihrem Handeln eingeschränkt. Symbole aus der Stalin-Ära werden rehabilitiert. Kritiker des Systems können ihres Lebens nicht mehr sicher sein.

Heute äußert sich Gorbatschow nur zurückhaltend

Gorbatschow selbst schweigt zu alldem. In den wenigen Interviews, die er noch gibt, äußert er sich zurückhaltend. Ob er allerdings tatsächlich zufrieden ist mit jenem Russland, in dem er heute lebt, weiß wohl nur er.
Das Land, das Gorbatschow aus der Isolation führen wollte, hat sich wieder in eben diese begeben. Mehr denn je ist Russland in der Wagenburgmentalität des Kalten Krieges gefangen. Es glaubt sich umgeben von Feinden und ohne Verbündete, mit Gegnern im Inneren und auf sich gestellt.
Dieser Pfad der Wahrnehmung ist historisch nicht neu. Aber nie hat er zu etwas Gutem geführt. Freunde Russlands sollten das Land aus dieser Sackgasse führen. Das wäre, so vermute ich, ganz im Sinne Gorbatschows.

Markus Ziener, ist Autor, Journalist und Hochschulprofessor in Berlin. Er war Korrespondent in Moskau und Washington und berichtete mehrere Jahre aus dem Mittleren Osten. Zuletzt erschien von ihm der Roman "DDR, mon amour" (PalmArtPress, Berlin 2018).

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