Michael Wildenhain

Geschichte einer Verblendung

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Eine Romanze, die auf Sylt beginnt, endet bei Michael Wildenhain im Politischen. © picture alliance / Stephan Persch
Rezensent: Rainer Moritz · 03.03.2015
"Das Lächeln der Alligatoren" befasst sich mit großen Themen: Liebe, deutsche Geschichte, politischer Terror. Mit seinem neuen Roman gelingt es Michael Wildenhain, die Verstrickungen von Privatem und Politischem anschaulich zu erzählen.
Nicht wenig, was sich der 1958 geborene Berliner Schriftsteller Michael Wildenhain da in seinem neuen Roman vorgenommen hat: Von den Euthanasieideen der Nationalsozialisten bis hin zum bundesdeutschen Terrorismus in den 1970er-Jahren reicht das zeithistorische Panorama, das Wildenhain ausbreitet und in eine Familiengeschichte voller tragischer Elemente einbettet.
Matthias, im gleichen Alter wie sein Autor, heißt der Protagonist in "Das Lächeln der Alligatoren", ein anfangs 15-Jähriger, der 1972 mit seiner Mutter die Sommerferien auf Sylt verbringt. Doch es ist keine Vergnügungsreise, die die beiden unternehmen: Ihr Ziel ist ein Behindertenheim, wo Matthias' vier Jahre jüngerer Bruder Carsten untergebracht ist. Nach einem Unfall, an dem Matthias nicht unbeteiligt war, vermag sich Carsten kaum mehr zu artikulieren und verbringt seine Tage damit, Bauklötze immer wieder aufs Neue zu arrangieren.
Matthias verliebt sich in Marta - die Liaison wird nicht gut ausgehen
Die ungeliebten Besuche beim Bruder verändern ihren Charakter, als sich Matthias in dessen drei Jahre ältere Betreuerin Marta verliebt. Dieser wird Matthias – im zweiten Teil des Romans – Jahre später in einem Berliner Hörsaal wiederbegegnen und ihr erneut erliegen.
Matthias' Familienumfeld hat sich derweil völlig verändert: Seine Mutter ist gestorben, und da sich sein leiblicher Vater längst aus dem Staub gemacht hat, wird Matthias von seinem Onkel, dem berühmten Hirnforscher Manfred Erich Kastèl, adoptiert.
Marta lebt in einer Wohngemeinschaft, hat unterschiedliche Liebhaber, ist zu einer radikalen Kritikerin des "Konsumfaschismus" geworden und nähert sich, ohne dass Matthias das realisieren würde, der linken Gewaltszene an. Dass es Dinge gebe, die wichtiger seien als Matthias' "schrecklich romantische Vorstellung von der Liebe", versucht sie ihm, ohne rechten Erfolg, klarzumachen.
Leidenschaft, die die Anzeichen des Terrors nicht sieht
So gesehen ist Wildenhains Roman die Geschichte einer Verblendung, einer Leidenschaft, die die Anzeichen des Terrors nicht wahrhaben will.
Kaltblütig erschießen Marta und Konsorten Matthias' Adoptivvater, der einer mit dem Hungerstreik von Holger Meins befassten Kommission vorstand und, wie sich herausstellte, in der NS-Zeit über die Tötung von Behinderten, dem "Reichsausschussmaterial", nachsann.
Matthias steht vor den Trümmern seines jungen Lebens und sieht sich verraten. Die Alligatoren, deren "Lachen" er beim Sex mit Marta nicht hören wollte, haben zugeschlagen.
Michael Wildenhain hat einen mit Leitmotiven (das silberne Schokoladenpapier zum Beispiel) und behutsam eingesetzten, das Phänomen des Erinnerns thematisierenden Reflexionen klug konstruierten Roman geschrieben, der seine beide Hauptfiguren viele Jahre später, als es Matthias zum Professor gebracht hat, noch einmal aufeinandertreffen lässt. Der Zauber, der einst auf Sylt herrschte, ist selbst dann nicht verflogen.
Wildenhains Stil ist bewusst spröde, meidet metaphorische Höhenflüge meist und entgleitet nur gelegentlich – etwa wenn von der "Erlaubnis, am Strand spazieren gehen zu dürfen", die Rede ist. Dass ihm ein Roman gelungen ist, der Fragen der Gewaltlegitimation neu stellt und die Verstrickung von Privatem und Politischen erzählerisch veranschaulicht, wird dadurch kaum geschmälert.

Michael Wildenhain: Das Lächeln der Alligatoren
Klett-Cotta, Stuttgart 2015
241 Seiten, 19,95 Euro

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