Michael Tomasello: "Mensch werden. Eine Theorie der Ontogenese"

Lächeln macht den Unterschied

Buchcover zu Michael Tomasellos "Mensch werden - Eine Theorie der Ontogenese".
Wie der Mensch zu dem werden konnte, was er ist, erklärt Michael Tomasello in "Mensch werden - Eine Theorie der Ontogenese" anhand der frühkindlichen Entwicklung. © Suhrkamp Verlag
Von Volkart Wildermuth  · 01.07.2020
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Was macht den Menschen zu einem besonderen Lebewesen? Dazu gibt es viele Antworten und noch mehr Bücher. Der Neurowissenschaftler Michael Tomasello zeigt über hochinteressante Versuche, dass schon Babys mehr können als Menschenaffen.
Zehn Jahre lang hat der Psychologe und Neurowissenschaftler Michael Tomasello am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig in einem einzigartigen Forschungsprogramm menschliche Babys und Kinder und Schimpansen vor genau die gleichen Herausforderungen gestellt. Dabei zeigten sich spannende Parallelen – beide Gruppen entwickeln ein ähnliches Grundverständnis für physikalische Phänomene.
Aber menschliche Kinder überflügeln die Menschenaffen schnell in allen sozialen Fragen. Und das liegt am Lächeln der Babys.

Auf Unterstützung angewiesen

Anders als bei Schimpansen sind menschliche Säuglinge auf die Unterstützung durch mehrere Personen angewiesen. Für das Baby ist es überlebenswichtig, schnell Beziehungen aufzubauen: "Die starke Motivation menschlicher Säuglinge zur Abstimmung von Gefühlen liefert den emotional-motivationalen Ausgangspunkt für die gesamte einzigartig menschliche Psychologie."
Auch Schimpansen kommunizieren und kooperieren sehr effektiv, aber sie wollen dabei von Anfang an eigene Interessen durchsetzen. Kleinkinder hingegen versuchen schon mit neun Monaten, anderen zu helfen oder für sie interessante Dinge mitzuteilen. Aus "ich" und "du" entsteht etwas Neues, ein gemeinsames "wir" - und das, so Michael Tomasello, verändere alles.

Aus ich und du wird wir

Denn dieses "wir" soll die faire Aufteilung der Beute ebenso ermöglichen wie Parlamentsdebatten. Acht Merkmale, die unser Handeln vom dem der Menschenaffen unterscheiden, hat der Forscher dabei herausgearbeitet: soziale Kognition, Kommunikation, kulturelles Lernen, kooperatives Denken, Zusammenarbeit, Prosozialität, soziale Normen und moralische Identität.
All das ist nicht einfach angeboren oder wird von den Eltern gelehrt. Es handelt sich um einen Prozess, der durch Kommunikation immer neue Ebene der Kooperation entfaltet.
Tomasello verfolgt diese Entwicklung der menschlichen Psyche bis zum Alter von etwa sechs Jahren - und zwar so genau, dass er den zeitlichen Ablauf, in dem jedes dieser Merkmale auftritt, klar benennen kann. So braucht ein Kind sechs Jahre, um sich für sich selbst und für andere verantwortlich zu fühlen.

Ein knallhartes Fachbuch

Wie danach die ganze - nicht immer schöne - Bandbreite der menschlichen Psychologie entsteht, interessiert den Wissenschaftler nicht weiter. Sein Fokus liegt ganz auf der Entwicklung von Babys und Kindern.
Leider hat Michael Tomasello ein knallhartes Fachbuch geschrieben – das Wort "Ontogenese", was den "Prozess der Individualentwicklung artgleicher Nachkommen" meint, im Untertitel gibt schon einen Vorgeschmack. Man muss schon sehr aufmerksam lesen, um mitzukommen.
Und schade: viele Anekdoten, die es rund um seine Experimente mit Kindern und Schimpansen einfach geben muss, verschweigt der Forscher. Dennoch ist "Mensch werden" wissenschaftlich wie gesellschaftspolitisch wichtig. Denn es gibt erste valide Hinweise, wie wir werden, was wir sind: Menschen.

Michael Tomasello: "Mensch werden. Eine Theorie der Ontogenese"
Suhrkamp, Berlin 2020
542 Seiten, 34 Euro

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