Michael Roes: "Melancholie des Reisens"

Die Annäherung zwischen Menschen in der globalisierten Welt

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Zu sehen ist das Cover des Buches "Melancholie des Reisens" von Michael Roes.
Einerseits ethnologische Erkundungen, andererseits aber auch Sinnsuche: die Reisen von Schriftsteller Michael Roes. © Schöffling Verlag / Deutschlandradio
Von Dirk Fuhrig · 08.02.2020
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"Melancholie des Reisens" ist eine Sammlung vor allem von Tagebuch-Notizen. Michael Roes verknüpft subjektive Alltagsbeobachtungen mit tiefschürfenden Passagen und stellt dabei auf erfrischende Weise etwas Grundlegendes fest.
Der Schriftsteller Michael Roes ist nie als Tourist unterwegs. Seine zahllosen Reisen sind einerseits ethnologische Erkundungen, andererseits aber auch Sinnsuche - die Reise als Flucht vor dem Daheim-Sein, als Heilmittel gegen die Depression der Existenz. So hat Roes es immer wieder in seinen Texten beschrieben.
Dieser neue Band bringt diese unaufhörliche Suche nach sich selbst auf den Punkt. Es ist eine Sammlung sehr unterschiedlicher Texte, keine fiktionalen, sondern reflektierende, vor allem Notizen in Form von Tagebuchaufzeichnungen. Roes führt uns nach Afghanistan, nach Timbuktu, nach Algerien oder nach Israel.

Immer auch literarische Vorbilder im Gepäck

Die Orte an sich sind aber nicht das Entscheidende, sondern es geht um den Blick auf die Menschen. Alltagsbeobachtungen aus subjektiver Sicht verknüpft er mit räsonierenden Passagen, denn er hat immer auch literarische Vorbilder im Gepäck, etwa Arthur Rimbaud in Aden; auch Rimbaud war einer, den das Fremde unwiderstehlich anzog.
Roes stellt komplexe Fragen, die das zwischenmenschliche Verhältnis betreffen. Für ihn finden Begegnungen zunächst zwischen Individuen statt, nicht zwischen Kulturen. Und das, obwohl er zahlreiche Reisen unternommen hat, bei denen er deutsche oder europäische Bildungstradition dabei hatte. William Shakespeare oder Frank Wedekinds "Frühlings Erwachen" in Algerien oder Marokko zum Beispiel. Lauter verrückte Projekte - aber ganz typisch für diesen unerschrockenen Weltbürger.

Angleichung Fortschritt oder modische Äußerlichkeit?

Roes berichtet in dem Buch von den Konflikten, die er auf diesen Forschungsreisen erlebt hat. Von Behörden, die die Aufführungen verbieten wollen, von Morddrohungen, vom Druck, der auf den Dozenten aus Deutschland ausgeübt wird, weil allein das Proben eines Theaterstücks als Provokation und Verstoß gegen die guten Sitten aufgefasst wird.
Andererseits notiert er, dass die am Mobiltelefon klebenden jungen Leute in Tanger die gleichen Brillen tragen wie in den hippen Vierteln Berlins. Er fragt sich: Ist dieser Prozess der Angleichung ein Fortschritt - oder eine rein modische Äußerlichkeit? Er erzählt auch von den Protesten gegen die Gay Pride Parades, also die Schwulen-Demonstrationen, in Israel, und von einer Inszenierung von Lessings "Nathan der Weise" in den israelischen Siedlungen.
Aber es sind nicht nur Widerstände vor Ort, sondern zunehmend auch die Diskurse, die die akademische Welt in den USA und Europa umtreiben. Roes setzt bewusst auf den Universalismus. So schiebt er einen Exkurs ein, in dem er der Neokolonialismus-Debatte vorwirft: "Jede Form des interkulturellen Austauschs steht unter dem Generalverdacht, nur Agent wirtschaftlicher und politischer Interessen des Westens zu sein." Sein Standpunkt ist klar und erfrischend, indem er darauf hinweist, dass "uns als Menschen jenseits unserer kulturellen Unterschiede mehr verbindet als trennt".
Das Buch zeigt, wie schwierig und zugleich einfach die Annäherung zwischen Menschen in der globalisierten Welt ist. Einerseits die Abschottung aus religiösen oder traditionellen Gründen. Andererseits die Neugier gerade junger Menschen auf zunächst fremdartige Anregungen und Einflüsse.

Zeitgenössische Debatten und viel eigene Reiseerfahrung

Die "Melancholie des Reisens" ist ein Buch über das Gemeinsame im scheinbar Fremden. Roes streift die zeitgenössischen Debatten, setzt ihnen jedoch seine lebenslange eigene Reiseerfahrung und seine Freundschaften mit Menschen auch aus traditionellen Zusammenhängen entgegen.
Vor allem ist das Buch aber die Dokumentation einer Suche nach sich selbst. Denn das Unterwegssein hat bei Roes immer auch mit dem Unwohlsein am Dableiben zu tun. "Melancholie des Reisens" ist ein brillanter Essay und eine sehr offene persönliche Befragung. Ein fesselnder Text nicht nur über die Begegnung der Kulturen, sondern auch über das Verhältnis des Individuums zur Welt. Sich näher kommen, heißt bei Roes nicht in jedem Fall, sich besser zu begreifen. Eine ungemütliche Erkenntnis - jedenfalls eine melancholische.

Michael Roes: "Melancholie des Reisens"
Schöffling, Frankfurt am Main 2020
536 Seiten, 28 Euro

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