Michael Krüger: "Vorübergehende"

Liebe als Zumutung

Mann im Zug: Gelöstes Gleiten durch Zeit und Raum, während das Leben still steht
Mann im Zug: Gelöstes Gleiten durch Zeit und Raum, während das Leben still steht © picture alliance/dpa; Cover: Haymon
Von Carsten Hueck · 17.12.2018
Er ist erfolgreich, wohlhabend, alt und einsam - sie fremd, sehr jung und mittellos. Diese Konstellation in dem Roman "Vorübergehende" könnte schnell auf eine Lolita-Geschichte hinauslaufen. Doch Michael Krüger schreibt erfolgreich dagegen an.
Es beginnt klassisch wie in einem russischen Roman: Eine Zugfahrt, ein Mann, ein junges Mädchen, gelöstes Gleiten durch Zeit und Raum. Der namenlose Ich-Erzähler in Michael Krügers neuem Roman ist ein in die Jahre gekommener Coach, der quer durch Deutschland reist, um in Workshops und mit Vorträgen Mitarbeiter mittelgroßer Firmen zu besseren Leistungen zu motivieren. Fast fünfzig Jahre hat er diese Tätigkeit ausgeübt, anfangs mit Ambitionen, die Arbeitswelt zu verbessern, dann aus Gewohnheit, inzwischen als Zeitvertreib. Er lebt allein, finanziell unabhängig in einer millionenschweren Münchener Altbauwohnung, ist belesen, Philosophie und Kunst zugeneigt - und einsam. Ein Kulturmensch, der von sich sagt, er sei "ein Asozialer in besseren Verhältnissen".
Sein Leben ist zum Stillstand gekommen. Bewegung findet nurmehr im Kopf statt, und selbst da kreisen seine Gedanken, zwischen Aphorismen von Nietzsche und Cioran, um die Abwesenheit von Schönheit und den Mangel an Überraschungen. Entsprechend schnell schläft er auf der Zugfahrt ein.

Vom Balkan, unbegleitet, mittellos

Als er aus einem dramatischen Traum aufschreckt, ruht an seiner Schulter der Kopf eines jungen Mädchens, das ihm zuvor noch gegenübergesessen hatte, "eine eigentümliche Mischung aus Kobold und Fee": Jara. Offensichtlich kommt sie vom Balkan, ist unbegleitet und mittellos. Ein wenig Deutsch versteht sie aber. Und ganz selbstverständlich begleitet sie nach der Ankunft in München den Coach nachhause. Zu dessen Freude, denn als er seinen Wohnungsschlüssel nicht findet, verschafft ihm Jara mithilfe einer verbogenen Büroklammer flink Einlass.
Michael Krüger ist bewusst, dass diese Konstellation schnell auf eine Lolita-Geschichte hinauslaufen könnte. Und so schreibt er erfolgreich dagegen an. Die sich entwickelnde Beziehung der beiden Protagonisten ist keine schlüpfrig erotische, vielmehr ein selbstgewähltes Risiko. Für das Jugendamt, die Nachbarn oder die polnische Putzfrau jedoch eine große Zumutung.

Ganz modern – aber nicht zeitgemäß

Jara nutzt selbstbewusst alle Annehmlichkeiten, die ihr geboten werden, lässt aber keinen Zweifel daran, dass sie autark und wenig mitteilungswillig ist. Sie zeichnet allerdings – kartographiert ihre Innenwelt, schafft ausdrucksstarke Panoramen auf Papier, das, je nach Drehung des Blattes, gefallene Engel zeigt oder einen in den Himmel gespuckten Lavastrom. Als Jara dem staunenden Coach ihren "Atlas der verborgenen Erinnerungen" übergibt, fühlt sich dieser so großzügig beschenkt wie nie zuvor in seinem Leben.
Die Selbstverständlichkeit, mit der Michael Krüger von unerhörten Begebenheiten, von eigenwilliger Moral und seelischer Zartheit erzählt, macht sein Buch faszinierend. Die Figuren sind ganz modern – aber nicht zeitgemäß. Sie passen in kein Raster, sind eigenwillige Menschen, verrücken den Blick auf Alltagstrott und verschieben die Grenzen dessen, was als gesellschaftliche Norm gilt. Zwei Welten treffen hier aufeinander – sie haben nichts miteinander zu tun, weder kulturell, noch sozial, noch was das Alter betrifft. Und doch berühren sie sich, wirken im Vorübergehen aufeinander ein. Das ist mit Leichtigkeit und Eleganz entwickelt, mit Humor, der durchaus wütend, doch nie zynisch ist. Und mit einer Spur Wehmut, die der Lebensklugheit des Autors entspringt.

Michael Krüger: "Vorübergehende"
Haymon, Wien 2018
195 Seiten, 19,90 Euro

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