Michael Krüger liest Eduard Mörike "Auf eine Lampe"

Lyrik an der Schwelle zur Moderne

Der Verleger, Dichter, Schriftsteller und Übersetzer Michael Krüger
Der Verleger, Dichter, Schriftsteller und Übersetzer Michael Krüger © picture alliance / Markus C. Hurek
Michael Krüger im Gespräch mit Andrea Gerk · 02.08.2017
"Gedichtinterpretation" - bei dem Wort denken sicherlich viele an langweilige Schulstunden. Dass hinter einem Gedicht aber viel Spannendes steckt und viel über seine Zeit aussagt, das zeigt uns der Dichter und Verleger Michael Krüger im Rahmen unseres Lyriksommers. Diesmal anhand von Eduard Mörikes "Auf eine Lampe".
Andrea Gerk: Wieso "Auf eine Lampe"?
Michael Krüger: Die Dichtung fiel nach der Klassik und der großen Hölderlin-, Goethezeit in ein gesellschaftliches Loch. Eine große Subjektivität machte sich breit. Und in dieser Zeit, da schreibt Mörike, der übrigens ein Pfarrer war, ein Gedicht, "Auf eine Lampe":
Eduard Mörike: Auf eine Lampe
Noch unverrückt, o schöne Lampe, schmückest du,
An leichten Ketten zierlich aufgehangen hier,
Die Decke des nun fast vergessnen Lustgemachs.
Auf deiner weissen Marmorschale, deren Rand
Der Efeukranz von goldengrünenem Erz umflicht,
Schlingt fröhlich eine Kinderschar den Ringelreihn.
Wie reizend alles! lachend, und ein sanfter Geist
Des Ernstes doch ergossen um die ganze Form –
Ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein?
Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.
Krüger: Das sind zehn Zeilen, nicht gereimt sondern in einem bestimmten Rhythmus geschrieben, in einem jambischen Trimeter - aber das soll uns nicht interessieren. Uns soll interessieren, ob uns der Gegenstand - die Lampe von Herrn Mörike - anspricht oder, ob wir lieber Gedichte über Neonröhren oder Autoscheinwerfer oder irgendwas anderes hören möchten.
Gerk: Es sind sehr auffallende, kräftige Bilder in diesem Text. Zum Beispiel das fast vergessene Lustgemach, dem gegenüber die Kinderschar, die erstmal fast im Wiederspruch zueinander stehen.
Krüger: Das fast vergessene Lustgemach heißt ja, dass es wahrscheinlich ein älterer Mann ist, der dieses Gedicht geschrieben hat. Das Gedicht steht an der Schwelle zur Moderne, wo plötzlich die Welt erleuchtet wurde: Wo man Straßenlaternen aufstellte, wo die Wohnungen Elektrizität hatten, wo der Tag und die Nacht nicht mehr wie in der natürlichen Abfolge unterschieden waren. Und in einer solchen Welt hatte die Lampe natürlich eine andere Bedeutung.
Gerk: Und wenn ich Ihnen so zuhöre, ist man mit einer Gedichtinterpretation nie fertig oder? Das kann man ja ewig weiterspinnen.

Das Gedicht steht am Anfang der Zivilisation

Krüger: Das ist das Schöne: Ein Gedicht – und das ist auch der Grund, warum dieses Genre nicht ausstirbt – steht am Anfang der Zivilisation und hört bis heute nicht auf uns zu interessieren. Weil jeder ein Gedicht anders liest. Während der eine nachgrübelt, wie die Welt vor der Elektrizität aussah und der andere sich an den metrischen Formen vergnügt, ist der Dritte auf der Spur der erotischen Anspielungen.
Bei den längeren und komplizierteren Gedichten, wie bei Hölderlin usw. ist der persönliche Zugang zu einem Gedicht ja noch subjektiver und noch persönlicher.
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