Michael Köhlmeier und Michael Maar im Gespräch

Die Magie der Märchen

29:51 Minuten
Märchenbuch von 1916: Schon immer haben Menschen gerne Märchen gehört und gelesen.
Zeichnung aus dem englischen Märchenbuch "Princess Marie-José's Children's Book " aus dem Jahr 1916. © picture alliance / Design Pics / Hilary Jane Morgan
Moderation: Dorothea Westphal · 06.12.2019
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Märchen sind vielleicht die faszinierendste literarische Gattung - voller Mythen und Tabus und im Kern rätselhaft. Über die Magie der Märchen sprechen der Schriftsteller Michael Köhlmeier und der Literaturwissenschaftler Michael Maar.

Der magische Kern

Ob "Rapunzel", "Aschenputtel" oder unbekanntere Märchen wie das von der Gänsemagd und ihrem Hengst Fallada: Märchen sind "die Primzahlen der Literatur" – nicht ableitbar und rätselhaft. Das jedenfalls findet der Schriftsteller Michael Köhlmeier, der in seiner Abhandlung "Von den Märchen" seiner lebenslangen Liebe zu dieser speziellen Gattung sowie der Frage nachgeht, warum Märchen so anders sind als jede andere Erzählung.
Für den Literaturwissenschaftler Michael Maar sind Grimms Märchen Weltliteratur und unsterblich, wie er in seinem Buch "Hexengewisper" darlegt, denn sie erzählen von Tabus, die den Menschen schon immer auf der Seele lagen. "Das Magische ist der Kern von Märchen. Sonst hätten sie nicht so lange existiert und es gibt sie schon seit 3000 Jahren. Es müssen sich da Menschheitsmythen oder Kerne verstecken. Das ist der Reiz von Märchen."

Es war einmal

Michael Köhlmeier hat seine Liebe zu den Märchen seiner Großmutter zu verdanken, die ihm als Kind Märchen nicht vorlas, sondern erzählte. Diesem Vorbild sei er nachgegangen. Schon früh habe er Schriftsteller werden wollen. Und es sei ihm dabei um den magischen Kern einer Geschichte gegangen.
"Wie kommt es überhaupt, dass wir uns von der Realität des Tages oder der Stunde ablenken lassen und eine Geschichte, etwas, das nicht existiert, der Realität vorziehen.. Das ist der Grund von 'Es war einmal'."
Der österreichische Autor Michael Köhlmeier.
Der österreichische Autor Michael Köhlmeier stellt auf der Leipziger Buchmesse sein Märchenbuch vor.© picture alliance / dpa / Jan Woitas
Märchen bleiben immer frisch, weil sie frei von Psychologie und für jede Deutung offen seien. Woher sie kommen, wie alt sie sind, das verliere sich im Frühnebel der Zeit, sagt Michael Maar.
Und Märchenstoffe haben nicht nur Schriftsteller fasziniert, auch die Hollywood-Industrie würde ohne sie nicht auskommen.
"Die Märchen," so Michael Köhlmeier, "haben etwas unvereinbar Widersprüchliches. Einerseits haben sie im Kern ein unauslotbares Rätsel, und auf der anderen Seite sind sie ganz Oberfläche, und das ist für uns unerträglich, weil wir immer gewöhnt sind, hinter die Dinge zu schauen."
Es sei gerade das Rätselhafte, das einen nicht loslasse.

"Die Märchen"

Seit dreißig Jahren schreibt Köhlmeier selbst Märchen – bevorzugt im Zug. Seiner Phantasie könne er dabei freien Lauf lassen, was ihm eine ungeheure Freiheit eröffne. 151 dieser Märchen sind jetzt in einem Prachtband mit Illustrationen von Nikolaus Heidelbach im Hanser Verlag erschienen. Mit den Volksmärchen der Brüder Grimm haben sie, bis auf die Tatsache, dass Köhlmeier einige Märchen als Vorlage verwendet, wenig zu tun. Es seien Kunstmärchen, sagt Michael Maar – schon, weil sie einen Autor haben wie die Märchen von Hans Christian Andersen.
Der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler  Michael Maar.
Auch der Literaturwissenschaftler Michael Maar beschäftigt sich mit Vorliebe mit Märchen. © picture alliance / dpa
"Es ist eine Trennung, die man machen kann, aber die Übergänge sind im Grunde fließend, denn berühmte Kunstmärchen wie die von Andersen greifen auch zurück auf bereits überlieferte Märchenstoffe. Trotzdem: Sie könnten nicht anonym veröffentlicht sein. Der Autor steht dazu. Und Köhlmeier hat sich die meisten der Stoffe tatsächlich selbst ausgedacht."

30 Mal der Teufel

Das Verwirrende: Es kommen darin zwar Hexen, Riesinnen, Feen und böse Schwiegermütter vor, aber auch reale Personen wie Lenin, der Revolutionär, die Genossen auf einem von Stalins Parteitagen oder die Filmfigur des Horrorclowns Joker sowie ganze 30 Mal der Teufel.
Was war das Faszinierende am Teufel? "Das Widersprüchliche. Dass das Böse als das Gute auftreten kann, dass das Böse als das Dumme auftreten kann, als das Grausame. Das Auftreten des Teufels im Märchen ist auch eine narrative Analyse des Bösen."
Es sind unheimliche, skurrile, auch grausame Geschichten, die Köhlmeier in einem knorrigen, ganz märchenhaften Ton erzählt. Und die wunderbaren Illustrationen von Nikolaus Heidelbach sind mindestens so verstörend und vieldeutig wie die Texte.
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