Merkels Rückzug im historischen Vergleich

"Regieren auf Lebenszeit war der Normalfall"

Die CDU-Vorsitzende und Bundeskanzlerin Angela Merkel winkt am 09.12.2014 in Köln (Nordrhein-Westfalen) nach ihrer Rede während des Bundesparteitages der CDU.
Angekündigter Abgang: Angela Merkel will nicht mehr als CDU-Vorsitzende kandidieren und strebt keine weitere Amtszeit als Bundeskanzlerin an. © picture alliance / dpa / Michael Kappeler
Leonhard Horowski im Gespräch mit Dieter Kassel · 30.10.2018
Über Jahrhunderte galt in Europa die Erbmonarchie. Aus Sicht des Historikers Leonhard Horowski hatte das durchaus einen Vorteil: Stabilität. Für ihn sei der selbst gewählte Abgang der Kanzlerin, die keinen "Erben" benennen will, historisch gesehen richtig.

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: Wenn man ein paar Jahrhunderte zurückblicken will, dann kommt es manchmal auf ein paar Minuten nicht an. Im Radio aber schon. Wir wollen eigentlich an dieser Stelle mit dem Historiker Leonhard Horowski reden und ein bisschen den angekündigten Rücktritt oder zumindest die Ankündigung, nicht weitermachen zu wollen, bei Angela Merkel in eine historische Perspektive setzen. Und wir hätten ihn fast nicht erreicht, aber ich glaube, jetzt gerade ist es gelungen. Schönen guten Morgen, Herr Horowski!
Leonhard Horowski: Guten Morgen!
Kassel: Ich grüße Sie. Angela Merkel hat gestern angekündigt, ab Dezember steht sie schon nicht mehr zur Wahl als Parteivorsitzende, in der Legislaturperiode nicht mehr als Kanzlerin. Und sie hat in diesem Zusammenhang auch mal gesagt, es sei historisch gesehen immer schief gegangen, wenn scheidende Herrscher versucht hätten, ihre eigene Nachfolge zu organisieren. Ich nehme an, Frau Merkel hat damit wahrscheinlich so ungefähr die letzten hundert Jahre nur gemeint. Aber wenn man, so wie Sie, noch weiter zurückgehen kann, stimmt das dann eigentlich?
Horowski: Da hat sie insofern recht, als tatsächlich die Herrscher, die ihre Nachfolge wirklich selbst entscheiden konnten, meistens damit Komplikationen und Probleme ausgelöst haben. Die wirklich stabilen, langfristig existierenden europäischen Staaten haben ihre Stabilität dadurch bekommen, dass niemand eigentlich eine bewusste Entscheidung treffen musste, weil die nach und nach die Erbmonarchie so eingeführt haben, dass ein ganz striktes, rigides Prinzip von vornherein bestimmte, wer erben soll, und der Herrscher selbst da gar nichts mehr zu entscheiden hatte.
Dadurch entstand Stabilität, die natürlich teuer erkauft war, weil dieses rigide Erbprinzip eben mit einer gewissen Regelmäßigkeit auch unfähige Leute auf den Thron bringt. Aber wenn man versucht, selbst den Besten auszuwählen, schafft das Instabilität, die in den Fällen, wo das gemacht worden ist, tatsächlich oft dazu führte, dass niemand sich seiner Position sicher war und der Erbe häufig dann dachte, ich putsche vielleicht lieber gleich, bevor ich als Erbe wieder abgesetzt werde, weil das ja auch möglich ist.

Erbmonarch dachte in längeren Zeiträumen

Kassel: Nun endete ja die Herrschaft von Monarchen in der Regel früher durch deren Tod, nicht unbedingt immer aus natürlichen Ursachen, aber halt doch durch den Tod. Haben die sich überhaupt veranlasst gesehen, über ihre Nachfolge nachzudenken?
Horowski: Das haben sie schon, weil der normale Monarch ja Vertreter eine Dynastie war, Erbmonarch, und deswegen das Land als den Besitz seiner Familie ansah und deswegen auch dazu trainiert war, in viel längeren Zeiträumen zu denken, als das moderne demokratische Politiker in der Regel können oder auch dürfen, wenn man so will.
Das heißt, der wurde dazu erzogen, es so zu sehen, dass er dieses Erbe seiner Familie gut weitergeben muss. Andererseits, die Tatsache, dass er bis zum Tod regierte, hatte natürlich einen Vorteil: Es gab zwar schon einen vordefinierten Kronprinzen, aber niemand wusste genau, wann der die Macht übernimmt. Dadurch wurden Probleme vermieden, die entstehen, wenn nicht nur, wie jetzt auf dem CDU-Parteitag gewissermaßen ein Kronprinz ernannt wird, sondern auch klar ist, wann der spätestens die Macht übernimmt.
Kassel: Gab es denn dann auch so Fälle – Sie haben es ja jetzt mit der Schlussbemerkung mir auch wieder leicht gemacht, ein bisschen doch nach den Parallelen zwischen heute und damals zu suchen –, gab es denn auch Fälle, wo wirklich ein Land in Stillstand geriet, ein Reich, weil jemand zu lange lebte und damit zu lange regierte und irgendwann amtsmüde war?

Abdanken als Zeichen von Verrücktheit

Horowski: Interessanterweise hat eigentlich vor dem vorletzten Jahrhundert praktisch nie jemand abgedankt. Regieren auf Lebenszeit ist wirklich der Normalfall gewesen. Und wenn Herrscher abdankten, wurde das als ein Zeichen von Verrücktheit angesehen. Die musste man schon entweder mit Gewalt vom Thron entfernen oder sie bis zum Tod ertragen. Allerdings wurden die Leute dann ja doch auch durchaus weniger alt. Es ist zum Beispiel 800 Jahre lang kein französischer König auch nur 60 Jahre alt geworden. Das heißt, die Regierungen waren dadurch dann doch etwas begrenzt.
Kassel: Aber auch, wenn Sie gerade ja gesagt haben, dass aus nachvollziehbaren Gründen die Nachfolgefrage oft nicht so kompliziert war, es hat doch Konkurrenzverhältnisse gegeben. Und musste nicht auch ein Monarch, der einfach qua dieser Erbfolge dann irgendwann Herrscher wurde, manchmal trotzdem Konkurrenten, ich will nicht gleich sagen, aus dem Weg räumen, aber zumindest in den Griff bekommen?
Horowski: Je weiter man zurückgeht, desto eher, weil es ja eine lange Zeit gebraucht hat, bis sich gewissermaßen alle Beteiligten daran gewöhnen, dass wirklich automatisch der älteste Sohn erbt. Und in den außereuropäischen Monarchien ist das tatsächlich, man muss wohl sagen, bis in die Gegenwart eher der Normalfall geblieben. Also sowohl im Osmanischen Reich als auch im Großmogulreich oder bei den chinesischen Kaisern war es fast der Regelfall, dass eben einmal pro Generation um die Macht gekämpft wurde und es nach dem Tod eines Herrschers einen kurzen blutigen Machtkampf gab.
Und wir haben in Saudi-Arabien gerade vor Augen, dass dort die Kronprinzen schnell abgelöst werden und sich ihrer Rolle unsicher sind, und dass das sehr dazu beiträgt, diesem Land zu schaden – um auf Ihre vorherige Frage zurückzukommen. Da ist also ein Land eher beschädigt dadurch, dass es zwar bis vor Kurzem oder offiziell bis heute immer von 90-Jährigen regiert worden ist, weil die eben heute alle älter werden und ein Bruder auf den anderen folgt. Jetzt aber wird es dadurch beschädigt, dass das Gegenteil passiert und man also einen 30-Jährigen zum Erben eingesetzt hat, der aber in seiner Rolle nicht sicher ist und deswegen um sich schlägt.

Saudi-Arabien als warnendes Beispiel

Kassel: Ein bisschen klingt mir das bei Ihnen aber auch, Herr Horowski, nach einer gewissen Ambivalenz. Ich hatte vorhin fast ein bisschen den Eindruck, dass Sie sagen, na ja, wenn das sowieso durch die Erbfolge klar ist, wer Nachfolger wird, dann gibt es auch weniger Streit und weniger Ärger. Jetzt gerade klang es wieder anders. Wir wollen ja in Deutschland nun nicht zurück zur Monarchie, das ist auch keine Frage, die sich stellt. Aber würden Sie sagen, gewisse Vorteile hat das System da auch gehabt?
Horowski: Ja. Das System, so, wie es sich in Europa eingependelt hat, verhindert zum Beispiel genau die Probleme, die man in Saudi-Arabien hat, weil eben in Saudi-Arabien wirklich der Kronprinz ernannt und auch wieder abgesetzt werden kann. Und das ist in den letzten Jahren ständig passiert. Deswegen ist sich keiner seiner Rolle sicher, deswegen haben die tatsächlich die Nachteile der Monarchie, aber nicht den Stabilitätsvorteil, den Europa lange hatte, bevor dann irgendwann natürlich die Staatsform auch zu komplex wurde, als dass das überhaupt noch gut gehen konnte mit einer einzigen übermächtigen Person an der Spitze.

Eine Hand wäscht die andere

Kassel: Ich sehe eine Parallele noch zwischen Regierungen damals, wo dann ein König oder ein Kaiser an der Spitze stand, und auch demokratischen Regierungen. Es gibt ja immer zwei Möglichkeiten, mit Konkurrenten, vielleicht sogar tendenziellen Feinden umzugehen. Man kann sie bekämpfen oder man kann sie umarmen und versuchen, sie so zu integrieren, dass sie auch nichts anderes mehr machen können als das, was man selber will. Welche Methode hat historisch eigentlich besser funktioniert?
Horowski: Das kommt sehr auf das System an. Je mehr das System an Brutalität gewöhnt ist, desto eher wird man die Konkurrenten auch lieber beseitigen, weil man damit rechnen muss, sonst tun die das. Im Osmanischen Reich hat 150 Jahre lang jeder den Thron besteigende Sultan alle seine Brüder umbringen lassen, bevor man dann danach zur freundlicheren Variante überging und sie nur noch im Harem einsperrte.
In einem friedlicherem System wie dem unseren ist es oft sinnvoller, sie einzubinden. Aber auch da ist natürlich die Ernennung eines Kronprinzen dann oft ein Problem. Denn solange jemand wie zum Beispiel die Bundeskanzlerin keine erklärte Nachfolgeperson hat, solange kann sie Leute zur Mitarbeit motivieren, die sich sagen, vielleicht werde ich zum Nachfolger designiert, wenn ich hier gut mitarbeite. Das entfällt dann, wenn eine Person als solche designiert ist.
Und gleichzeitig gibt es natürlich das Problem, dass Politik aus lauter Mikrotransaktionen besteht, bei denen eine Hand die andere wäscht und man sagt, wenn du das jetzt für mich tust, tue ich später was für dich. Wenn aber ein Herrscher oder in diesem Fall eine Bundeskanzlerin eben dieses Später gar nicht mehr lange ausfüllen kann, weil alle wissen, dass ihre Amtszeit in absehbarer Zeit endet, dann werden solche Transaktionen schwieriger, sowohl im Land als auch international.
Kassel: Warten wir ab, wie es weitergeht. Wir machen den nächsten historischen Vergleich beim nächsten Kanzler. Leonhard Horowski war das, Historiker und Autor des Buches "Das Europa der Könige. Macht und Spiel an den Höfen des 16. und 17. Jahrhunderts." Danke Ihnen sehr für das Gespräch, schönen Tag noch!
Horowski: Ganz vielen Dank, Ihnen auch. Auf Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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