Merkels Europapolitik hängt "zehn Jahre hinterher"

Moderation: Ulrich Ziegler und Patrick Garber · 29.09.2012
Durch ihre Politik werde der notwendige Wandel in Europa verlangsamt, kritisiert der grüne Europaabgeordnete Jan Philipp Albrecht die Kanzlerin. Er wirft Angela Merkel (CDU) vor, die parlamentarische Mitbestimmung beiseite zu schieben und die grundlegenden Entscheidungen "in der Hand allein der Staats- und Regierungschefs" zu belassen.
Deutschlandradio Kultur: Herr Albrecht, mit heute noch nicht einmal 30 Jahren sind Sie der jüngste deutsche EU-Abgeordnete. Das heißt, wir müssen umlernen. Dieser Satz "hast du einen Opa, schick ihn nach Europa" gilt nicht mehr.

Jan Philipp Albrecht: Nee, der gilt nicht mehr. Zumindest seit der letzten Europawahl sind doch einige jüngere Leute eingezogen ins Europäische Parlament. Und ich glaube, das lag auch daran, dass vielen das aufgestoßen ist, dass eben nur die alt gedienten Minister und Ministerpräsidenten dann nach Europa weitergeschoben werden, wo eigentlich gerade für die junge Generation die wichtigen Entscheidungen und Weichen für die Zukunft gestellt werden.

Deutschlandradio Kultur: Wenn wir uns aber die Parteiprominenz der Grünen auf Bundesebene angucken, da sieht es ja ein bisschen anders aus. Patrick Held, ein Parteifreund von Ihnen aus Bayern und gerade mal 24 Jahre alt, sagt: "Opa Jürgen Trittin hat in den letzten 30 Jahren viel für die Grünen bewegt. Aber er ist ein Veteran der Vergangenheit, steht nicht für die grüne Zukunft." – Ist das eine Einzelmeinung?

Jan Philipp Albrecht: Na ja. Er hat natürlich Recht damit, dass die grüne Zukunft schon ganz anders aussieht, als sie vielleicht vorher auch sichtbar war. Und es hat sich viel verändert bei den Grünen. Also, wir haben heute eine im Grunde genommen komplett andere Partei als noch vor 10 Jahren, weil viele junge Leute nachgekommen sind, die die grüne Bewegung und die grüne Partei als Idee gut fanden – etwa aus der Grünen Jugend, wo ich auch mal Sprecher war und viele Leute kennengelernt habe, die jetzt in Parlamenten sitzen und sozusagen die Grünen ausmachen. Dass die Köpfe, die vorne stehen, die die Verantwortung tragen und die doch schweren Jobs machen, sich dann noch nicht geändert haben, das ist dann halt so. Und ich glaube, das ist aber auch ein stückweit natürlich so.

Deutschlandradio Kultur: Warum ist das natürlich? Das müssen Sie uns erklären. Also, es gibt die FDP, die macht den Generationenwechsel auch nach oben. Es gibt ihn bei der Linken. Und bei den Grünen hat man das Gefühl: Nein, da bleiben die Trittins, die Roths, die Künasts bis in alle Ewigkeit, zumindest bis zur nächsten Bundestagswahl, weil das ihre letzte Chance ist.

Jan Philipp Albrecht: Ja, so wird das natürlich von außen gesehen. Aber man muss auch dazu sagen: Generationenwechsel ist kein Selbstzweck. Es ist schon eine große Leistung, die Jürgen Trittin damit vollbringt, die Grünen nach außen so zu transportieren, und auch die Claudia Roth vollbringt zum Beispiel und andere, die jetzt dort eben als Spitzenpersonen wahrgenommen werden, die Grünen immer noch mit dem Markenkern wahrnehmen zu lassen, den wir uns erarbeitet haben.

Deutschlandradio Kultur: Aber warum braucht man dann eine Urwahl, wenn man sowieso weiß, die sind’s?

Jan Philipp Albrecht: Also, das hat man ja so ein bisschen in Frankreich im Präsidentschaftswahlkampf gesehen, dass solche Primaries oder Vorwahlkämpfe durchaus die Leute mobilisieren können für dann auch die Wahlbeteiligung bei den entsprechenden Wahlen und das es auch eine gewisse Legitimation für die Kandidaten geben kann. Natürlich ist die Frage: Warum sollten die Grünen jetzt noch mal wieder mit dem gleichen Personal antreten wie vorher?

Aber ich denke, wenn so eine Urwahl mit allen Mitgliedern entschieden ist und dann gesagt wird, okay, das sind unsere beiden Kandidaten, dann ist das auch eine Legitimation, aus der diese beiden Kandidaten dann schöpfen können.

Deutschlandradio Kultur: Na ja, aber wenn man sich die Vorgeschichte dieser Wahl anguckt, die uns ja als basisdemokratisch verkauft wird, lief erst mal alles auf Jürgen Trittin als alleinigen Spitzenkandidaten zu. Dann hat Claudia Roth ihren Hut in den Ring gerufen. Dann waren das aber zwei Linke, also mussten auch noch Realos her. Das wurden dann Renate Künast und Katrin Göring-Eckardt. – Fundies, Realos, Frauen und Männer, ist es denn nicht wieder dieses alte Flügel-, Proporz- und Quotenwesen bei den Grünen?

Jan Philipp Albrecht: Das macht die Urwahl ja nun gerade anders. Also, wenn wir nur nach dem Flügelproporz gegangen wären, dann hätte es sozusagen eine Entscheidung in den Parteigremien gegeben, wo man dann sich hätte darüber einigen müssen, wie man das austariert, damit auch alle letztendlich mit dabei sind, an Bord sind, wenn es in den Wahlkampf geht. Und so hat man es geöffnet für die Partei. Man überlässt es auch dem Risiko, dass es keinen Flügelproporz geben wird, und dem Risiko, dass es vielleicht auch zum Beispiel zwei Frauen werden und gar kein Mann.

Das ist ein Wagnis und auf der anderen Seite aber auch meines Erachtens eine große Chance und auch ein Zeichen, zu sagen: Na ja, uns sind die Sachen vielleicht nicht mehr so wichtig, sondern uns ist eigentlich viel wichtiger, dass die Partei mitgenommen wird und mehrheitlich zeigt, das sind unsere Leute, die sollen diesen Job übernehmen und für uns da vorne stehen.

Deutschlandradio Kultur: So sehen es die Grünen. So sieht es auch die parlamentarische Geschäftsführerin Steffi Lemke, die sagt, das wäre eine demokratische Urwahl. Wenn man aber den ganzen Prozess noch mal verfolgt, hat man doch eher das Gefühl, die Grünen-Spitze, wie wir es gerade besprochen haben, ist da eher reingerutscht, eher aus Versehen reingekommen. Also, so dieses basisdemokratische Wollen, dass wir das so machen wollen, das scheint doch irgendwie aufgesetzt zu sein.

Jan Philipp Albrecht: Ich finde schon, dass es ein Schritt voraus ist zu sagen, wir öffnen das, jeder kann sich bewerben und dann wird abgestimmt, wer Spitzenkandidat wird. Das ist eine gute Möglichkeit auch für die altbewährten, für die prominenten Kandidaten, sich auch zu bewähren vor der Öffentlichkeit, der Parteiöffentlichkeit und eben nicht nur vor den Parteigremien und der Medienöffentlichkeit. Das ist schon ein Unterschied. Ich glaube in gewisser Art und Weise, dass das auch die Grünen als solche ein bisschen auflockern wird und erneuert. Ich sehe da keine Show drin und auch keine schlechtere Variante, sondern ich sehe es wirklich eigentlich als guten Beitrag auch.

Deutschlandradio Kultur: Aber dann muss man sich doch schon ärgern, wenn jemand wie Volker Beck beispielsweise sagt, der ist ja Fraktionsgeschäftsführer: Man muss die anderen elf Kandidaten jenseits dieser vier Spitzenkandidaten eigentlich gar nicht ernst nehmen. Da gibt’s dann Protest und man hat das Gefühl, na gut, also, für ihn scheint es so zu sein, als ob die ganze Sache doch irgendwie überflüssig ist.

Jan Philipp Albrecht: Ja, das sagt man dann schnell. Wenn man sich anguckt, welche Kandidaten sich da noch beworben haben, also Leute, die halt sozusagen sehr viel von sich selbst überzeugt sind, aber im Rest der Partei überhaupt nicht wahrgenommen und auch nicht unterstützt werden, da fragt man sich natürlich, inwiefern das Sinn macht.

Aber ich finde trotzdem, dass das eigentlich nicht richtig ist, dass so zu diskreditieren, sondern wenn man sich dazu entscheidet eine Urwahl zu machen, dann kann sich klar jeder bewerben. Dann sollen die Leute sich eben vorstellen und bewerben. Es ist ja auch eine inhaltliche Auseinandersetzung, da kommen noch einmal Sachen hoch, die vielleicht auch an der Basis mehr diskutiert werden, als sie das vielleicht bei den alten Spitzen diskutiert werden.

Deutschlandradio Kultur: Nun geht’s bei den Grünen, mit Verlaub, ja nicht darum, einen Kanzlerkandidaten zu küren, sondern eine Spitzenmannschaft. Warum dann dieses aufwendige Verfahren? Warum hat man nicht gesagt, wir bilden ein Schattenkabinett oder ein Kompetenzteam und zeigen dann, wir sind breit aufgestellt, wir haben für alles Leute? Das hätte ja auch den Vorteil, dass es am Ende keine Beschädigten gibt.

Jan Philipp Albrecht: Also, ich glaube, dass die Möglichkeit jetzt eben sich zu öffnen und auch so eine Debatte zu führen, auch eine Möglichkeit ist, zum Beispiel die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen der Grünen noch mal neu zu diskutieren. Wie möchte man eigentlich auch im Bundestagswahlkampf wahrgenommen werden? Was sind die Punkte, wo wir auch angreifen und zeigen müssen, dass die Grünen auch wichtig sind im neuen Bundestag und in der Bundesregierung?

Und ich glaube auch, dass es in gewisser Art und Weise ja auch die Möglichkeit ist, sich auch neu in der Partei zu organisieren, wie man gemeinsam wahlkämpfen will und wie die Leute miteinbezogen werden sollen, die überall auch aktiv sind. Ich glaube, deswegen ist das eigentlich durchaus ein richtiger, guter Weg gewesen. Man hätte sich das vielleicht auch schon viel früher überlegen können.

Deutschlandradio Kultur: Aber im Vordergrund steht nicht die inhaltliche Auseinandersetzung im Moment, sondern es steht die Frage: Wer soll als Spitzenteam in den Bundestagswahlkampf gehen? Wenn man über Inhalte diskutieren möchte und auch muss vor einer Bundestagswahl, braucht man nicht diese Casting-Show.

Jan Philipp Albrecht: Ja, das stimmt. Auf der anderen Seite ist es halt so: Die Grünen waren immer schon, sag ich mal, eine Partei, bei der es nicht um die eine oder die zwei Spitzenpersonen gehen sollte. Klar, wir hatten eine Phase unter Joschka…

Deutschlandradio Kultur: Aber das machen Sie jetzt.

Jan Philipp Albrecht: Na ja, wir machen zwei Spitzenkandidaten, aber das heißt nicht, dass die sozusagen maßgeblich die Partei nur noch darstellen sollen, sondern die werden schon auch in gewisser Art und Weise ergänzt werden durch die Personen, die wir sonst noch so überall haben. Und ich halte viel davon, dass die Grünen sagen, wir wollen eigentlich weniger ständig auf sozusagen nur Personalisierung setzen, sondern wir wollen auch, dass wir unterschiedliche Themen besetzen, dass wir vielleicht auch anderen jungen Leuten aus der Landesebene und vielleicht auch aus der Europaebene die Möglichkeit geben, Themen neu zu setzen und vielleicht auch mal zu provozieren – neben den Botschaften, die die Spitzenkandidaten aussenden.

Deutschlandradio Kultur: Von den Grünen haben wir eigentlich bisher immer gelernt, dass die Köpfe zwar wichtig sind, aber viel wichtiger sind die Inhalte. Und wenn man sich jetzt mal anschaut, welche Inhalte für die nächsten Jahre wichtig sind, könnte man sagen: Atomausstieg. Okay, der ist besiegelt, zumindest von Schwarz-Gelb so in Angriff genommen. Die Frauenquote, die soll eingeführt werden. Der Mindestlohn soll kommen. – Dann könnte man eigentlich sagen, die Aufgabe der Grünen ist erledigt – mission accomplished.

Jan Philipp Albrecht: Ja, glaub ich gar nicht. Also, wenn ich mir die Welt angucke, dann – klar – ist der Schritt, in Deutschland den Atomausstieg irgendwie mit dieser langen Aus-Phase sozusagen zu beschließen und der Schritt, jetzt über eine Frauenquote nachzudenken, das sind alles erste Schritte. Die kommen meines Erachtens relativ spät angesichts der globalen Herausforderungen, die wir da haben. Und für die Grünen, als eine Partei, die immer diese globalen Zusammenhänge auch nach vorne gestellt hat und gezeigt hat, wir haben den Klimawandel, der noch vor uns liegt, den wir lösen müssen, wir haben die weltweite Armut, die wir lösen müssen; wir haben auch Veränderungen zum Beispiel der Rechte- und Wertestruktur durch die Digitalisierung, durch die Globalisierung, wo einfach unklar ist, welche Grundwerte gelten in dieser Gesellschaft?

Und da braucht es meines Erachtens gerade so ein allumfassendes Programm, ein Projekt, das die Dinge verbindet, wie es die Grünen machen.

Deutschlandradio Kultur: Aber so ein Wahlplakat nach dem Motto "Bündnis 90/ Die Grünen, wir setzen das um, was die CDU versprochen hat", das können Sie sich nicht vorstellen?

Jan Philipp Albrecht: Es gibt natürlich immer die Möglichkeit, Widersprüche auch deutlich zu machen zwischen den gesellschaftspolitischen Vorstellungen von denen, die sozusagen für eine progressive Politik kämpfen und denen, die das vielleicht aus einem bestimmten anderen Beweggrund reaktiv machen, weil der Öffentlichkeitsdruck da ist. Ich glaube, dass viele Entscheidungen, die jetzt eben übernommen werden von der Regierung und gerade auch von der Union, die sind längst überfällig gewesen, ja? Und die Europapolitik zum Beispiel, die Merkel macht, ist meines Erachtens eine, die etwa zehn Jahre hinterher hängt und eigentlich sogar darauf hinwirkt, dass es noch langsamer und schlechter vorangeht mit dem Wandel, den wir in Europa eigentlich brauchen, um die Demokratie wieder zukunftsfähig zu machen.

Deutschlandradio Kultur: Die Europapolitik, die wir gerade angesprochen haben, soll uns jetzt beschäftigen. Europa dürfte ja ein zentrales Thema bei der Bundestagswahl werden – auf die eine oder andere Art. Wie können die Grünen sich als Europapartei profilieren? Was könnte man da von Ihnen erwarten?

Jan Philipp Albrecht: Also, ich glaube, dass es wichtig ist für die Grünen deutlich zu machen, dass sie weiterhin die Europapartei sind. Da stehen wir auch in der Pflicht, das zu beweisen. Denn in den vergangenen Jahren haben wir immer sehr viel für Europa geworben und auch für die Europapolitik als Aufmerksamkeit geworben. Aber ich glaube, dass mittlerweile unklar ist, was ist die Alternative auch zu Merkels Europapolitik im Moment. Und diese Alternative muss deutlich gemacht werden in einer Art zu sagen, die Integrationspolitik, die Merkel macht, ist eine, die die Menschen nicht ernst nimmt, sondern die sie fremdbestimmt. Sie sagt: Die Zukunft ist ungewiss, aber meine Lösung ist alternativlos. – Das ist für mich keine demokratische Politik. Das ist für mich keine Struktur, in der ich leben und entscheiden will.

Das muss eigentlich Kernaufgabe der Grünen sein, als auch basisdemokratische Bewegung zu sagen: Nein. Die Europapolitik muss entschieden werden von den Menschen. Und es muss offengelegt werden, was die Entscheidungen sind. Nur dann können wir nämlich auch denjenigen, die Europa gar nicht gut finden, letztendlich was entgegensetzen.

Deutschlandradio Kultur: Ich halte mal dagegen. Ich könnte auch sagen: Die Kanzlerin ist diejenige, die deutsche Interessen innerhalb Europas verteidigt. Deshalb ist sie sie populär im Moment. Deshalb wird sie einen Europawahlkampf machen. Und deshalb werden die Wähler sagen: Ja, unsere Interessen sind in Brüssel mit dieser Frau am besten vertreten. – Was sagen Sie dagegen?

Jan Philipp Albrecht: Dass das der Trend ist, ist unbezweifelt. Und ich denke, dass Sie absolut Recht haben mit der Vermutung des Wahlkampfes von Frau Merkel. Sie wird diesen Kurs fahren. Und es wird unglaublich schwer für die anderen Parteien deutlich zu machen, was gerade angesichts der Krisenpolitik jetzt die unterschiedlichen Alternativen und besseren Lösungen gewesen wären.

Deutschlandradio Kultur: Was wären denn bessere Lösungen gewesen? Wir haben drauf geachtet, die deutsche Bundesregierung, dass diese Verschuldung nicht zu groß wird, dass es eine Gegenleistung geben muss, dass man nicht einfach deutsche Steuergelder nach Brüssel und nach Griechenland ohne Gegenleistungen einbringt. – Insofern ist das doch nachvollziehbar.

Jan Philipp Albrecht: Nein, sie hat diese ganzen kurzfristigen Maßnahmen ergriffen, ohne dabei deutlich zu machen und Dinge auf den Weg zu bringen, die dahin gehen: Wir brauchen europäische gemeinsame Regeln, etwa für soziale Mindeststandards, etwa für eine wirtschaftliche Koordinierung, die auch dahin geht, dass man in nachhaltige Wirtschaftsstrukturen investiert usw. Da gibt es so viele Forderungen, die die Grünen auch dort aufgestellt haben.

Nur ich glaube, dass das gar nicht der Kern der Debatte sein muss, die im Wahlkampf maßgebend sein muss. Denn es war nicht alles falsch, was Merkel gemacht hat, das ist klar. Sondern was falsch ist, ist die Art und Weise, wie man mit der Demokratie in Europa umgeht, wie man es fast beiseite schiebt, dass es eine Notwendigkeit gibt parlamentarischer Mitbestimmung und parlamentarischer Entscheidungen – gerade auch beim Europaparlament – über die grundlegenden Strukturfragen Europas. Sondern sie belässt es in der Hand allein der Staats- und Regierungschefs. Damit nimmt sie es eigentlich vollkommen raus der öffentlichen Debatte, die die Menschen wollen über die Frage: Wie geht’s denn jetzt eigentlich weiter? Wo können wir überhaupt sehen, dass Europa hingeht? Und darauf gibt Merkel keine Antwort. Das muss die Debatte werden, die geführt wird.

Deutschlandradio Kultur: Ja, aber wie soll denn mehr Demokratie gewagt werden in Europa? Die entscheidenden Kungelrunden sind ja nach wie vor die Europäischen Räte. Die EU-Kommission hat ein gewichtiges Wort. Und das EU-Parlament wird dann hinterher gefragt.

Jan Philipp Albrecht: Ja, ich denke, dass das einerseits zum Beispiel die Klarstellung ist, dass das Europäische Parlament der Ort sein muss, an dem die europäischen Grundsatzentscheidungen gefällt werden.

Deutschlandradio Kultur: Aber dafür müssen Sie ja die Verträge ändern.

Jan Philipp Albrecht: Dafür muss man die Verträge ändern. Das wird aber über kurz oder lang, das hört man ja jetzt auch schon von Merkel und von Schäuble und anderen, dass die Verträge geändert werden. Und ich denke, dass das auch kommen wird. Nur wir haben eine Auseinandersetzung darüber, inwiefern das zum Beispiel dem Europäischen Parlament zugestanden wird oder inwiefern es nur Strukturen sind, die innerhalb des Zusammenspiels der Staats- und Regierungschefs stattfinden, um das Ganze ein stückweit weiter so zu verschleiern, wie es die letzten 10, 20 Jahre passiert ist.

Und ich denke, das ist ein Grundproblem der Politikverdrossenheit oder der Institutionenverdrossenheit, die viele Menschen haben, dass überhaupt gar nicht mehr klar ist: Wer steht eigentlich für welche Entscheidung in diesem Mehrebenensystem Europas und vielleicht sogar auch der Welt? Ja, also, wir haben schon seit den Protesten gegen die G8-Gipfel immer wieder die Frage: Wer gibt uns denn die Sicherheit, dass das, was wir wollen, letztendlich auch in einer Entscheidung vom G8-Gipfel ankommt oder vom Europarat? Da kann einem im Moment keiner eine Antwort drauf geben.

Aber Merkel müsste darauf die Antwort geben oder eben wir wollen darauf die Antwort geben. Es muss zum Beispiel europäische Parteien geben, die maßgeblich bestimmen, welche Positionen im Ministerrat und im Europaparlament entscheidungskräftig werden. Und darauf können sich dann die Menschen auch verlassen und bei ihrer Wahl sozusagen die Entscheidung treffen, ob sie diese Entscheidung gut fanden oder nicht.

Deutschlandradio Kultur: Ziemlich schwieriges Thema, wenn man das in den Bundestagswahlkampf reinbringen möchte als grüne Partei. Sozusagen: Wir Grünen stehen dafür, dass das Europäische Parlament aufgewertet wird, deshalb wählt uns in den Bundestag. – Das geht irgendwie nicht zusammen.

Jan Philipp Albrecht: Nein, ich denke, das wird auch nicht jetzt das Leitthema sein, aber die Grundsatzaussage: Ja, wir wollen nicht nur über einen Fiskalvertrag reden, wir wollen nicht nur über einen ESM reden, sondern wir wollen auch über einen Demokratiepakt reden oder über einen Fahrplan, in dem mehrere Änderungen enthalten sind, etwa: Wie wird der Kommissionspräsident gewählt? Das ist eine ganz wichtige Figur der Politik in Europa. Das ist vielen gar nicht bewusst. Wie wird das Europäische Parlament auch gewählt? Wie werden wir als Abgeordnete eigentlich kontrolliert und rückgebunden an die Wahlkreise?

Das sind Fragen, auf die kein Fahrplan und keine Gesamtantwort gegeben wird. Da, finde ich, ist ein massives Defizit der Europapolitik.

Deutschlandradio Kultur: Deshalb gibt’s ja dann auch wieder Wahlen zum Europäischen Parlament. Sie haben einen Martin Schulz, der sich sehr stark für eine Stärkung des Europaparlaments einsetzt. Noch mal die Frage: Was werfen Sie da der Kanzlerin vor und was wollen Sie als Grüne inhaltlich einbringen in einen Bundestagswahlkampf, wenn es um diese Themen geht?

Jan Philipp Albrecht: Also, ich denke, dass eine Kernforderung im Bundestagswahlkampf sein wird: Wir wollen die Demokratie Europas deutlich klarer strukturieren. Das kann eben nur mit Vertragsänderungen passieren. Und die müssen im Bundestag entschieden werden. Das heißt also: Wenn eine neue Regierung an die Macht kommt, zum Beispiel jetzt 2013 bei der Bundestagswahl, dann muss ein Kernprogramm dieser Bundesregierung ein Reformkonzept für die europäischen Institutionen und für die europäische Demokratie sein.

Und dabei muss auch eine Rolle spielen, wie zum Beispiel die Bundespolitik es klarmacht, dass die Medien, die Politiker in ihrer Art und Weise bestärkt werden, europäische Politik in das Zentrum der Auseinandersetzung zu holen. Das ist ein kompliziertes Thema und es ist nicht immer sexy, aber es muss gemacht werden. Und wenn die Politik davon absieht, dann werden wir in 10, 15 Jahren noch immer genau in der gleichen Situation sein wie heute und bejammern, dass es seit 30 Jahren nicht richtig klar ist, wer eigentlich wie die Einflussnahme in Europa gestaltet.

Deutschlandradio Kultur: Aber Änderungen der Europaverträge müssen ja nicht nur durch den Bundestag, sondern auch noch durch 26 andere Länderparlamente. Und beim Lissabonvertrag haben wir ja gesehen, wie schwierig das ist, so was zu bewerkstelligen.

Wenn es denn schief läuft, können Sie sich auch ein Europa der zwei Geschwindigkeiten vorstellen, also diejenigen, die mehr Demokratie wagen wollen in Europa, und die anderen, die am Rand stehen?

Jan Philipp Albrecht: Ja, wir habe jetzt schon – das ist ja vielen nicht bewusst – ein Europa der vielen Geschwindigkeiten. Wir haben ein Europa der Europäischen Union. Wir haben sogar ein Europa des Europarats, aber das ist noch mal eine andere Geschichte, da geht es um Menschenrechte usw. Wir haben die Europäische Union, wir haben die Eurozone, also die gemeinsame Währung. Wir haben den Schengenraum, also die gemeinsamen Grenzen, wo Großbritannien nicht dabei ist. Wir haben so unterschiedliche Geschwindigkeiten schon, da macht eine Geschwindigkeit oder noch eine, die unterschiedlich ist, mehr oder weniger gar keinen Unterschied, sondern die Frage ist mehr: Geht man gemeinsam auf einem Weg mit mehreren europäischen Staaten gemeinsam mit dem Willen, das dann möglichst zügig so zu gestalten, dass auch für die anderen europäischen Staaten ein Beitritt zu diesen Regelungen möglich ist?

Ich denke, das sollte der Weg sein. Denn die unterschiedlichen Kulturen, die wir haben, die unterschiedlichen Öffentlichkeiten, die erfordern natürlich unterschiedliche Geschwindigkeiten. Wir diskutieren zu unterschiedlichen Zeiten auf Französisch, auf Finnisch oder auf Deutsch oder auf Schwedisch oder Polnisch darüber, was das Renteneintrittsalter ist usw. Solche Fragen sind immer unterschiedlich geregelt. Und da spielen viele kulturelle Gründe auch eine Rolle. Das muss man respektieren. Nichtsdestotrotz darf man deswegen nicht anhalten. Man muss da vorangehen und diese Regelungen schaffen. Sonst verliert man die Bevölkerung, die Vertrauen in die Politik setzt, dass sie diese Herausforderung annimmt.

Deutschlandradio Kultur: Also gehe ich mal davon aus, dass Sie überzeugter Europäer sind. Ja?

Jan Philipp Albrecht: Ich bin überzeugter Europäer, absolut.
Deutschlandradio Kultur: Und dann kritisieren Sie vehement die Europäische Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung und sagen, ja, das wollen wir nicht machen, obwohl es diese Richtlinie gibt. Das heißt also, Sie als überzeugter Europäer sagen: Ja, Europa, ja bitte, aber nur so, wie ich es haben möchte.

Jan Philipp Albrecht: Ich sage: Ja, Europa, aber nicht als Selbstzweck, sondern weil ich sage, das ist der Ort, an dem ich meine politischen Diskussionen und meine gesellschaftlichen Entscheidungen treffen will. Ich möchte dort in Europa mit allen Europäern …

Deutschlandradio Kultur: Bleiben Sie mal konkret. Wenn wir bei dieser Richtlinie sind und es gibt eine europäische Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung, dann müssten Sie als überzeugter Europäer sagen: Ja, das akzeptiere ich, und ich suche mir Mehrheiten, wenn ich damit nicht einverstanden bin. Aber ich kann nicht sagen: Nein, ich bin dagegen, obwohl es die Richtlinie gibt, und ich tu’s nur dann, wenn ich meine Mehrheit habe, mich als überzeugten Europäer zu outen. Das verstehe ich nicht.

Jan Philipp Albrecht: Nein, als Anhänger rechtstaatlicher Strukturen auch in Europa muss ich sagen: Wenn die Entscheidung gefällt wurde für eine solche Richtlinie, dann müssen die Mitgliedsstaaten sie umsetzen. Allerdings ist dieser Fall einer, der etwas komplizierter gelagert ist. Es haben vier Verfassungsgerichte in Europa deutlich gemacht, dass die Vorratsdatenspeicherung, also die anlasslose Speicherung unserer Telekommunikationsdaten, unvereinbar ist mit dem Menschenrecht auf Privatsphäre und dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Dieses Signal muss wahrgenommen werden.

Und dann kann es nicht sein, wenn diese Debatte losgeht und auch in Europa schon darüber nachgedacht wird, dass die Richtlinie eigentlich falsch ist und die Evaluationen auch deutlich darauf hinweisen, dass man dann vorschnell umsetzt mit vielen, vielen Kosten – die erste Umsetzung hat die deutsche Volkswirtschaft 300 Millionen Euro gekostet. Das macht keinen Sinn, zumal der Grundrechtseingriff offensichtlich debattiert wird und der Europäische Gerichtshof darüber noch nicht geurteilt hat.

Deutschlandradio Kultur: Also dann lieber Geldstrafen zahlen von deutscher Sicht aus?

Jan Philipp Albrecht: Das ist dann das mildere Mittel. Das ist immer noch in Anbetracht dessen, dass wir vielleicht ein Jahr bis zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs oder ein Dreivierteljahr warten, viel weniger als die Kosten, die man jetzt für eine erneute Umsetzung zahlen würde.

Deutschlandradio Kultur: Herr Albrecht, Sie haben die deutsche und Sie haben die französische Staatsbürgerschaft. Können Sie sich vorstellen, so wie Daniel Cohn-Bendit, Ihr Parteifreund, auch mal für die französischen Grünen zu kandidieren fürs Europaparlament?

Jan Philipp Albrecht: Ja, das kann ich mir durchaus vorstellen. Dazu muss ich zwar noch vielleicht noch ein bisschen besser Französisch lernen als ich vielleicht jetzt schon ein bisschen kann. Für mich ist es klar, wir müssen eigentlich ein Europa gestalten, in dem die Grenzen, die nationalen Grenzen eine geringere Rolle in unseren Köpfen spielen. Sie spielen schon, sag ich mal, faktisch eine geringere Rolle, aber in unseren Köpfen existieren sie doch noch immer sehr stark, was die Sprachen angeht und was die Regionen angeht.

Ich glaub, dass wir darüber hinweg müssen. Und dann steht es auch offen, an unterschiedlichen Orten zu kandidieren. Das soll überall in Europa möglich sein, fürs Europäische Parlament besonders. Aber ich kann mir das sogar vorstellen dann auch für die nationalen Parlamente, dass man da kandidieren kann, wenn man da länger gewohnt hat als EU-Bürger. Das ist in USA zum Beispiel ganz üblich und in Deutschland mittlerweile ja auch. Warum sollte das nicht in Zukunft auch in Europa möglich sein?

Deutschlandradio Kultur: Wir haben uns überlegt, es gäbe vielleicht auch eine Alternative für Sie. Sie könnten auch nach Berlin kommen, weil Sie mal gesagt haben, Europa ist mittlerweile selbstverständlich auch Innenpolitik geworden. Und wir gehen mal davon aus, es kommt der Generationenwechsel bei den Grünen – vielleicht nicht 2013, aber vier Jahre später.

Wenn es soweit ist, werfen Sie Ihren Hut in den Ring?

Jan Philipp Albrecht: Also, ich bin ja jetzt nicht irgendwie, ich wehre mich jetzt nicht dagegen, dass ich vielleicht irgendwann mal Innenminister werden könnte, das wäre ein spannender Job. Aber im Moment habe ich einen ultraspannenden Job im Europäischen Parlament. Ich finde das sehr spannend, was da läuft, kann da viel bewegen. Und ich glaube, dass es genügend Leute bei den Grünen gibt, die geeignet sind, führende Positionen jetzt nach der nächsten Bundestagswahl zu übernehmen. Da muss ich mich nicht selber auch noch mit bewerben.

Deutschlandradio Kultur: Es gibt ja auch den schönen Satz von Winfried Kretschmann vor der Landtagswahl in Baden-Württemberg, als er gesagt hat: "Das Amt muss zum Mann kommen und nicht umgekehrt."

Jan Philipp Albrecht: Ich denke, das ist schon ein stückweit Wahrheit.

Deutschlandradio Kultur: Dann werden wir mal sehen. Herr Albrecht, vielen Dank.
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