Meritokratie

Singapur - ein idealer Staat?

Singapurs Skyline bei Nacht
Singapurs Skyline bei Nacht © picture-alliance / dpa / Wallace Woon
Von Gerd Brendel · 12.02.2017
Pragmatismus, Anti-Korruptionskurs und eine strikte Orientierung am Leistungsprinzip: Das macht nach singapurischem Verständnis den Erfolg des Stadtstaates aus. Die Kehrseite: die Bürgerrechte sind stark eingeschränkt. Ist dieser Preis zu hoch?
Erste Station: die "Lew Kuan Yew school of public policy", benannt nach Singapurs erstem Premierminister, mitten auf dem parkähnlichen Campus der "National University of Singapur". Hier lernen Hochschulabsolventen aus ganz Asien, was das ist, Gutes Regieren, und zwar am Beispiel Singapur. Der Grundlagen-Kurs von Institutsleiter Kishore Mabubhani ist für alle Pflicht:
"The purpose of this lecture is to give you the secret of Singapore success. So what’s the secret of Singapore success? I call it the 'mph' formula."
"MPH" wie "Miles per hour” lautet seine Formel für Singapurs Erfolgsgeheimnis.
"Das "M” steht für Meritokratie, Leistungsgesellschaft, in der nur die Fähigsten das Sagen haben."
Das schließt Vetternwirtschaft genauso aus wie allein durch Wahlen legitimierte Entscheidungsträger und erinnert an das aristotelische Modell der Aristokratie, als Herrschaft der Besten und natürlich an Platos Idee von den Philosophenkönigen, die er in seiner Schrift vom "Staat" entwickelt:
"Wenn nämlich wahre Philosophen (...) in einer Stadt Herrscher werden und wenn sie die heutigen Ehren geringschätzen, weil sie sie für gemein und wertlos halten, dagegen das Richtige und die von ihm ausgehenden Ehren über alles stellen, vor allem und als Notwendigstes aber das Gerechte fördern, richten sie ihre Stadt ein."

Statt um Recht oder Unrecht geht es um gesellschaftlichen Nutzen

Wobei Mabubhani die Frage nach "Recht" und "Unrecht" für Singapur durch die Frage nach dem gesellschaftlichen Nutzen ersetzt. Lösungsorientierten Pragmatismus nennt der Philosoph und ehemalige Diplomat das.
"Pragmatismus, das zweite Element meiner MPH-Formel ist der Schlüssel zu Singapurs Erfolg: Egal, welche Probleme Singapur hat, Wohnraum, Wasser oder Landesverteidigung - irgendwo auf der Welt hat es schon mal jemand für uns gelöst. Das brauchen wir dann nur noch auf unsere Situation anpassen."
Pragmatische Problemlösungen bestimmen den Alltag: Zum Beispiel in den zahllosen Hochhaussiedlungen mit Sozialwohnungen, in denen über 80 Prozent aller Singapurianer wohnen. Wohnraum ist knapp auf der Insel. Wer hier in seine Wohnung ziehen will, muss warten, bis er 35 ist oder heiraten.
Kinder und Jugendliche aus Singapur am Wasser
Singapur ist Vorreiter im Recyceln von Wasser© picture alliance / dpa
Die Erdgeschosse sind aufgeteilt nach Ladenflächen, Garküchen und den sogenannten "Void decks", eine Art Gemeinschaftswohnzimmer für Hochzeiten oder Beerdigungen. Die Wohnungsvergabe erfolgt nach Quoten an Chinesen, Inder und Malaien entsprechend ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung, um Getto-Bildungen zu vermeiden.

Seit mehr als 50 Jahren regiert die gleiche Partei

Die zweite Station auf der Suche nach dem Erfolgsgeheimnis von Singapur führt mich zu einem der ältesten Public-Housing Blocks in Chinatown. Hier bin ich mit dem Philosophen Choua Beng–Hua verabredet.
"Wenn Sie Singapur verstehen wollen, verabschieden Sie sich von allen liberalen Ideen, weil hier Politik und Wirtschaft anti-liberal und anti-individualistisch sind."
Seit über 50 Jahren regiert dieselbe "Democratic Action Party", alle fünf Jahre durch Wahlen bestätigt. Der Premierminister ist der Sohn des ersten Regierungschefs. Der soziale Frieden ist Teil des Erfolgs, der andere ist die sehr pragmatische Wirtschaftspolitik der Regierung. Offiziell herrscht Kapitalismus. Die niedrigen Steuern haben zahllose Banken und Firmen ins Land gelockt. Den höchsten Umsatz allerdings verzeichnet der Staat selbst.
"Der Staat Singapur hat weltweit eine Billionen Dollar investiert. Mit 50 Prozent der Rendite subventioniert er das Staatsbudget. Eigentlich ganz schön sozialistisch, oder?"
Über die "TEMASEK Holding"-Gesellschaft ist der Staat Singapur weltweit an Unternehmen beteiligt, von der deutschen Drogeriekette Rossmann bis zur landeseigenen Fluglinie.
"We may be owned by the government", sagt SIA -Pressesprecher Nicholas Ionides.
"Wir gehören vielleicht der Regierung, aber wir müssen als profit-orientiertes Unternehmen arbeiten."

Der Staat als gigantisches Dienstleistungsunternehmen

Station Nummer drei: Das hypermoderne Trainingscenter der Fluggesellschaft – fast eine Metapher für den Stadtstaat:
In nachgebauten Flugzeugkabinen lernen die Stewardessen und Stewards den perfekten Service. Hier wird das verkauft, womit ganz Singapur Geld verdient: Dienstleistung mit dem stets lächelnden Antlitz einer zumindest auf den ersten Blick harmonischen multi-ethnischen Gesellschaft. Was Ionides über sein Unternehmen sagt, gilt genauso für den jungen Inselstaat:
"Es gibt kein garantiertes Existenzrecht für uns. Wir müssen uns ständig auf dem Markt beweisen, sonst überholt uns die Konkurrenz."
Der Stadtstaat: ein gigantisches Dienstleistungsunternehmen, zum Erfolg verurteilt, geführt, nein, nicht von Wahrheit schauenden Philosophen, sondern einer leistungsstarken Wirtschaftselite. Für Kishore Mabubhani kann das nur funktionieren, wenn auch das letzte Kriterium seiner Formel erfüllt ist:
"Der schwierigste Teil meiner 'MPH-Formel' ist das 'H' für 'Honesty' –Ehrlichkeit. Das bedeutet, dass es in Singapur null Korruption gibt."

Kritik nur Ausdruck westlicher Arroganz?

Im weltweiten Korruptionsindex steht Singapur auf Platz 7 gleich hinter Norwegen und vor Kanada und Deutschland. Dass das Land seit seiner Unabhängigkeit quasi von einer Familie regiert wird, dass Meinungs- und Pressefreiheit stark beschränkt sind, dass es Todes- und Prügelstrafen gibt - Mabubhani weist die Kritik als typisch westliche Arroganz zurück:
"Ihr Europäer habt die Einsichten Platos, Aristoteles und Cicero und deren Kritik an der Demokratie als Herrschaft der Masse vergessen. Und jetzt behauptet ihr voller Arroganz, dass es nichts Besseres als Demokratie gebe, aber die Demokratie lässt sich leicht kidnappen und missbrauchen. Schauen Sie sich die USA an: Da steht die Herrschaft des Volkes vor dem Ausverkauf."
Bleibt nur die Frage, wer eigentlich bestimmt, wie hoch der Preis ist, den Bürger für einen pragmatischen Superstaat wie Singapur bezahlen müssen.
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