Merce Cunningham im Film

Jede Bewegung ist möglich

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Die Merce Cunningham Dance Company führte 2011 in London zum letzten Mal das Stück "Antic Meet" auf.
Die Merce Cunningham Dance Company führte 2011 in London zum letzten Mal das Stück "Antic Meet" auf − und löste sich dann auf. © picture alliance / LNP / Tony Nandi
Von Elisabeth Nehring · 16.12.2019
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Merce Cunningham ist einer der bedeutendsten Choreografen der Postmoderne. Er war berühmt für "reinen Tanz" ohne Geschichte und emotionale Grundierung. In dem Film "Cunningham" zeigt Alla Kovgan ein großes Lebenswerk in Bewegung.
"Ich habe mich nie für Tanz interessiert, der eine Stimmung, ein Gefühl oder eine Musik ausdrücken soll. Tanz reagiert nicht auf irgendetwas von außerhalb. Er ist, was er ist: eine einzigartige visuelle Erfahrung. Tänzer sind menschliche Wesen – auf der Bühne genauso wie im wirklichen Leben, aber sie interpretieren nicht die Bewegung, sondern präsentieren sie. Die Interpretation wird stattdessen jedem Einzelnen im Publikum überlassen."
Genau dafür ist Merce Cunningham berühmt: die reine Bewegung, der pure Tanz ohne Geschichte, ohne emotionale Grundierung, und dennoch niemals ausdruckslos. Mit seiner sachlichen, oft gradlinigen Bewegungssprache, den komplexen Choreografien und den kongenialen Zusammenarbeiten mit anderen Kunstschaffenden ist der 1919 geborene Tanzkünstler zu einem der einflussreichsten Choreografen des 20. Jahrhunderts geworden.

Ein unglaublich guter Tänzer

Alla Kovgan, die Regisseurin des Films "Cunningham", hat aber nicht nur das erfolgreiche Ende der Karriere interessiert, sondern vor allem ihr Anfang:
"Viele Leute erinnern sich an Merce als alten Mann, aber nur sehr wenige kennen ihn als jungen Tänzer. Und dabei war er ein unglaublich guter Tänzer! Manche Leute sagen, dass er seine Kompanie nur gegründet hat, um selbst auf der Bühne zu stehen und zu tanzen. Als Regisseurin hat mich interessiert, wie Merce zu Merce wurde. Was war das für ein Weg von dem jungen Tänzer in New York zu einem der berühmtesten Choreografen seiner Zeit?"
Merce Cunningham als Tänzer in dem Stück "Variations V" seiner Compagnie bei einem Auftritt 1966 in Paris
Merce Cunningham als Tänzer in dem Stück "Variations V" seiner Compagnie bei einem Auftritt 1966 in Paris© picture alliance / Le Pictorium / MAXPPP / Philippe Gras
In verschiedenen Settings zeigt der Film Ausschnitte aus Produktionen, die in den Jahren zwischen 1942 und 1972 entstanden sind. Wir sehen die letzte Tänzergeneration der Merce Cunningham Dance Company bei Sonnenaufgang auf dem Dach eines New Yorker Hochhauses, in alten, verblichenen Sälen oder feinen Stadtvillen, grünen Parks oder unbestimmbaren Fantasieräumen, deren Farben und Muster sich den Kostümen der Tänzer anpassen.

Größtmögliche Ausdehnung des Körpers

Alla Kovgan hat keinen Dokumentar-, sondern einen Kunstfilm über Person und Werk Merce Cunninghams gemacht und dafür nicht nur die ehemaligen Tänzer sieben Jahre nach dem Tod des Meisters noch einmal antreten lassen, sondern auch tief in den Archiven gegraben.
Merce Cunningham: "Meine Idee von Tanz besteht in dem Glauben, dass alles möglich ist – jede Bewegung, vom absoluten Stillstand bis zur größtmöglichen Ausdehnung des Körpers."
Die Inszenierungen der Choreografien gewinnen durch die 3D-Technik visuell an Tiefe und Plastizität – keine Frage. Genau wie in Wim Wenders' Film "Pina" stellt auch "Cunningham" eine große Nähe zu den Tänzerinnen und Tänzern her, die in der Realität so niemals entstehen kann. Inhaltlich ist es aber vor allem das Archivmaterial, das den Film so wertvoll macht.

Schwieriger Start in New York

Wo ist je gezeigt worden, wie Merce Cunningham über die kargen Verhältnisse der ersten Jahre spricht, über seine Armut, das kräftezehrende tägliche Training und die Feuer, für die er Holz in den Straßen New Yorks sammelte? Cunningham, das wird deutlich, war ein harter Arbeiter und Idealist, der unbeirrt seinen künstlerischen Ideen folgte – zusammen mit seinen Freunden John Cage und Robert Rauschenberg.
Alla Kovgan: "Die ersten 30 Jahre waren unglaublich schwierig. Sie hatten kein Geld, keinen Erfolg, keine Unterstützung, keine Presse, kein Publikum. Aber sie hatten sich selbst! John Cage, Robert Rauschenberg und Merce Cunningham. Sie waren wie eine Familie: Sie kümmerten sich umeinander und blieben trotz aller Schwierigkeiten beieinander. Und dann hatten sie auch den Erfolg zusammen."

Philosophischer Kosmos

Die Eleganz, der Stil, die Hingabe an ihre Kunst, aber auch ihr Humor und ihre Wärme – das hat das Trio Cunningham, Cage, Rauschenberg nicht nur künstlerisch, sondern auch menschlich so einzigartig gemacht.
Der Pop-Art-Maler Robert Rauschenberg und der Choreograph Merce Cunningham stehen 2000 vor dem Bühnenbild, das Rauschenberg für Cunninghams Ballett "Interscape dedicated to treatro La Fenice" entwarf.
Merce Cunningham (1919−2009, rechts) mit dem Maler Robert Rauschenberg (1925−2008) stehen im Jahr 2000 vor dem Bühnenbild für das Stück "Interscape dedicated to treatro La Fenice".© picture alliance / epa / ansa Merola
Dass der Film vor allem zu Beginn nicht nur auf das Werk Cunninghams, sondern vor allem auf die Ideen dahinter und die Entstehung fokussiert, gibt auch einem nicht-tanzaffinen Publikum die Möglichkeit, tief in den künstlerischen, aber auch philosophischen Kosmos des amerikanischen Choreografen einzutauchen und sich von der Begeisterung der Regisseurin Alla Kovgan anstecken zu lassen:
"Merce war ein Humanist und mindestens genauso intelligent, warm und generös wie Cage und Rauschenberg. Ich bin sehr beeindruckt davon, wie sehr er an seine Kunst geglaubt hat und immer dabei geblieben ist."

Der Film "Cunningham" läuft am 19. Dezember 2019 in vielen deutschen Kinos an. Alle Startkinos hier

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