Menschliches Scheitern, nationale Niederlagen

08.04.2013
2012 erhielt Jérôme Ferrari den begehrten Prix Goncourt für diesen Roman, der ein korsisches Dorf zur Weltenbühne macht. Die Glaubensgewissheiten des Heiligen Augustinus verwebt der Schriftsteller mit Leibniz‘ Beschwörung der besten aller möglichen Welten - tiefsinnig, anschaulich und mit leichter Ironie.
Ein Leben lang sollte sich Marcel Antonetti in die Betrachtung einer Silberchlorid-Fotografie aus dem Sommer 1918 "verbeißen", denn es war ihm unmöglich, das "Rätsel der Abwesenheit in ihr" zu ergründen. 1918 war bereits eine Welt zu Grunde gegangen, doch die Fotografierten - seine Mutter und die fünf vor ihm geborenen Geschwister in einem korsischen Dorf - blicken ahnungslos in die Kamera. Weltbrände und Kolonialkriege veränderten im 20. Jahrhundert die politischen Landkarten, doch nicht einmal retrospektiv sind Ferraris Romanfiguren bereit, historische Abgründe in den Blick zu nehmen. Was bleibt, streut er nüchtern ein, ist der "nicht abreißende Vollzug der Generationen-Komödie".

Marcel Antonetti ist der Großvater eines Philosophiestudenten, der sein Studium in Paris abbricht, um mit einem Kommilitonen auf die Insel zurückzukehren, eine pleite gegangene Kneipe zu pachten und diese zur "besten aller möglichen Welten zu machen". Die schwärmerischen Pächter treffen auf Bauern und großmäulige Jäger, einsame Junggesellen, frivole Kellnerinnen, unverdrossene Musiker sowie eine Handvoll Touristinnen, die die männliche Kundschaft zu Saufgelagen animiert. Das Unternehmen muss im Fiasko enden. Indes steht die Dorfbar nur für eine von vielen Welten, an deren Untergang Ferrari bildmächtig erinnert.

Das Rückgrat des Romans bilden die Predigten des Kirchenvaters Augustinus, der im Jahr 410 in der nordafrikanischen Stadt Hippo Regius von der Eroberung Roms durch die Barbaren erfuhr. Ferrari stellt jedem Romankapitel Glaubenssätze des Bischofs voran. Für Augustinus bedeutete der Fall des Römischen Reiches keinesfalls den Untergang des ganzen Erdkreises. Seinem Glauben an das ewige Leben und den "Lauf der Sterne" konnte das nichts anhaben. Ferraris Figuren müssen hingegen, egal ob in Paris, auf Korsika oder im Staub der Grabungsstätte Hippo Regius, ohne metaphysische Gewissheit auskommen. Sie sind Unerlöste, die meist wegschauen, um ganze Teile ihres Lebens "ins Nichts zurückzuschicken".

In indirekter Rede - und so eine erzählerische Distanz schaffend - schildert Ferrari in langen Schachtelsätzen, wie Handlungen sich unmerklich verketten und unheilvolle Zwänge entstehen. Zart beschreibt er die misstrauisch beäugte Liebe einer französischen Archäologin zu einem algerischen Kollegen und die schmerzhafte Einsicht, dass es für diese Liebenden nur einen Ort geben kann: das Grabungsfeld zwischen den "zusammen gesackten Steinen von Hippo Regius, wo der Schatten von Augustinus noch immer die geheimen Hochzeiten derer zelebrierte, die sich nirgendwo sonst vereinigen konnten".

Die Weise, wie Jérôme Ferrari menschliches Scheitern und nationale Niederlagen zu einem Roman verdichtet und einbettet in die große Erzählung vom Werden und Vergehen aller Welten, "eine nach der anderen", ist hoch ambitioniert. Man folgt ihm gebannt über 194 Seiten hinweg. Und Christian Ruzicska, seit der Übersetzung des Romans "Und meine Seele ließ ich zurück" vertraut mit Ferraris Diktion, hat auch dieses Werk kongenial ins Deutsche übertragen.

Besprochen von Sigrid Brinkmann

Jérôme Ferrari: Predigt auf den Untergang Roms
Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
Secession Verlag für Literatur, Zürich 2013
208 Seiten, 19,95 Euro