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Schriftstellerin und Psychologin
Die vielen Facetten der Alice Sheldon

James Tiptree Jr. war das männliche Pseudonym von Alice B. Sheldon. Ihre Kurzgeschichten wurden unter Science-Fiction-Fans zu Klassikern und sie brachten ihr schnell Ruhm und zahlreiche Auszeichnungen ein. Soeben ist ein Band mit einer Auswahl an Briefen, Gedichten und Essays erschienen.

21.11.2016
    Eine Frau schreibt mit einer Schreibfeder in altertümlicher Schrift.
    Alice Sheldon hatte viele Facetten, und ihr alter ego erlaubt ihr, diese zu leben. Es lässt sie spielen – und an schlechten Tagen schon mal die gesamte Menschheit auf dem Papier auslöschen. (picture-alliance/ dpa / Bernd Thissen)
    Alice Bradley Sheldon hat die Angewohnheit, Briefe an ihre Freunde mit dem Mikrofon aufzunehmen. Als sie im Spätsommer 1968 in munterem Plauderton über eine Bergtour auf Harris Island berichtet, ist sie über 50 und zum zweiten Mal verheiratet. Sie hat eine Karriere als Malerin und Air-Force-Nachrichtenoffizierin hinter sich, eine Hühnerfarm in der Provinz aufgezogen, für die CIA gearbeitet und eben in experimenteller Psychologie promoviert. Was die Freunde nicht ahnen: 1967 schickt sie ihre ersten Science-Fiction-Geschichten an einen Verlag – unter dem männlichen Pseudonym James Tiptree jr.
    Kurzgeschichten über Sex mit Außerirdischen
    Den Namen findet sie eher zufällig, als ihr Blick im Supermarkt auf ein Glas Tiptree-Orangenmarmelade fällt. In der Science-Fiction-Szene der späten 60er schlagen ihre beunruhigenden Kurzgeschichten über Raumschiffe, Sex mit Außerirdischen oder die Sorgen intergalaktischer Verwaltungsbeamten wie eine Bombe ein. Tiptree hat eine Stimme wie kein Zweiter, doch den Besitzer dieser Stimme bekommt niemand zu Gesicht. Allerdings schreibt er freundliche Briefe an Schriftsteller-Kollegen, Lektoren und Fans. Und flirtet über Bande mit den Frauen: Als einer seiner Freunde, der Schriftsteller Robert Silverberg, ihm auf dem Briefpapier seiner Frau schreibt, antwortet Tiptree, er habe sich vor dem Lesen "rasiert und Rasierwasser aufgetragen". Eine Briefstelle, in die sich die amerikanische Autorin Julie Phillips verlieben sollte: Zehn Jahre arbeitete sie an ihrer Tiptree-Biografie, die 2006 unter dem Titel "The Double Life of Alice B. Sheldon" erschien und mit dem renommierten Hugo-Award ausgezeichnet wurde.
    "Es begann, als ich Auszüge aus ihren Briefen las, in denen sie vorgab, ein Mann zu sein – und Witze darüber machte. Sie sprach über ihren Körper, als wäre er der eines Mannes. Wobei: Rasieren, eine Lotion auftragen – das kann ja auf Männer und Frauen zutreffen. Ich dachte: wunderbar! Die Vorstellung, nichts über das Geschlecht dieser Person zu wissen, die auch nichts darüber herausrückt. Bist du ein Mann? Bist du eine Frau? Das so in einem Zwischenraum zu belassen, war für mich faszinierend."
    Befreiende, aber auch destruktive Momente
    Tiptree ist nicht nur ein Trick, um Dinge auszudrücken, die Alice nicht sagen kann. Alice Sheldon hatte viele Facetten, und ihr alter ego erlaubt ihr, diese zu leben. Es lässt sie spielen – und an schlechten Tagen schon mal die gesamte Menschheit auf dem Papier auslöschen. Die wahre Identität geheim zu halten, glaubt Phillips, hat befreiende, aber auch destruktive Momente. Dennoch war die Aufdeckung ihres Geheimnisses Mitte der 70er Jahre ein Schlag für Sheldon.
    "An einem bestimmten Punkt konnte sie nicht mit Tiptree leben. Aber sie konnte auch nicht ohne ihn leben! Zum Ende hin war sie nicht besonders glücklich, Tiptree zu sein. Aber sie war natürlich kein bisschen glücklicher, als sie geoutet wurde. Ich glaube, das hat ihr Schreiben für eine ganze Weile erschwert. Die Leute hatten sie in der Science-Fiction-Szene aufgenommen – aber als Person, die sie nicht wirklich sein wollte: In der Science-Fiction-Welt wollte sie nicht Alice Sheldon sein."
    Geschlossener Selbstmordpakt
    Sheldons Leben endet im Mai 1987, sie ist inzwischen 71, so rabenschwarz wie eine von Tiptrees Geschichten: Nach einem vorab geschlossenen Selbstmordpakt erschießt sie zuerst ihren fast erblindeten Mann und dann sich selbst. Zwei Romane und rund sechzig Kurzgeschichten sind zu ihren Lebzeiten erschienen. Ein schillerndes Werk, das seit Sheldons Tod immer wieder neue Leser gefunden und Schriftsteller beeinflusst hat – von Cyberpunk-Autoren wie William Gibson bis hin zu jenen, die sich mit der Zukunft von Gender und Sexualität beschäftigen. Während Tiptree in Amerika als eine der wichtigsten und spannendsten Autorinnen der zeitgenössischen fantastischen Literatur geschätzt wurde, galt sie im deutschsprachigen Raum, wo ihre Stories bei Heyne in schnellen, bunten Taschenbüchern erschienen, eher als Geheimtipp.
    "James Tiptree jr. habe ich kennengelernt 2003, ist mir das empfohlen worden. Da hat's noch die alten Taschenbücher gegeben, aus den 70ern und 80ern. Und da hab' ich das dann gelesen. Und gleich wie Philip K. Dick oder Isaac Asimov. Und hab' dann parallel zur normalen Mainstream-Literatur auch Science Fiction gelesen - und lieben gelernt."
    Auch Jürgen Schütz führt gewisser Maßen ein Doppelleben: Wegen einer Hauterkrankung wechselte der Automechaniker in den Außendienst von Renault Österreich. Ein harter Job, pro Jahr kommen rund 70.000 Reise-Kilometer zusammen. Daneben ist Schütz kompromissloser Bücherfresser, eine Leidenschaft, für die er von seinen Kollegen aus der Auto-Branche schon mal belächelt wird. 2008 machte Schütz ernst: Mit ein paar guten Ideen, einem Steuerberater und einem Laptop gründet er den eigenen Verlag: Septime. Schütz’ Oldtimer-Sammlung wird zur Anschubfinanzierung; mehrere blitzblanke Alfa Romeos wechseln den Besitzer.
    Wiederbelebung der Legende
    Septime, das immer professioneller betriebene Hobby, führt Schütz von seiner kleinen Wohnung im Wiener Arbeiterbezirk Margareten; der Rüdigerhof, ein Jugendstil-Kaffeehaus ums Eck, dient als Konferenzraum. 2011, nur drei Jahre nach der Verlagsgründung, stößt Schütz auf drei späte Geistergeschichten Tiptrees, die an der Maya-Küste von Yucatan in Mexiko angesiedelt sind und noch zu Lebzeiten der Autorin in dem Band "Tales of the Quintana Roo" zusammengefasst wurden.
    "Und dieser "Quintana Roo"-Band, den wir dann als erstes präsentiert haben, den gab es tatsächlich noch nie auf Deutsch. Und da dachte ich, das wäre doch gut: Mindestens die Fans, die alles schon besitzen, aus den 70ern, haben das noch nicht. Das machen wir! Und das ist mit 160 Seiten auch in der Übersetzung überschaubar. Also, wir konnten uns das leisten."
    Nachdem der Teilzeit-Verleger auch die Rechte an Julie Phillips’ Tiptree-Biografie erworben hatte, sollte die Wiederbelebung der Legende nicht enden, bevor sie richtig begonnen hatte. Zwei Bücher – und Schluss?
    "Wir machen das besser: Wir machen quasi eine Mount-Everest-Besteigung und wir holen uns die Rechte für jedes Wort, das die Frau jemals geschrieben hat. Das hat dann ein bisschen länger gedauert zu verhandeln. Aber die haben uns dann vertraut, die Amerikaner. Und haben gesagt, ja, ihr kriegt das. Und dann haben wir gesagt: Wir machen eine Werkausgabe!"
    Eine Herkulesaufgabe für den kleinen Wiener Verlag:
    "Die Belastung ist wahnsinnig groß. Und ich weiß, dass andere Verlage das nicht fertig brachten: Haffmanns hat Philip K. Dick nicht beendet, die Erzählungen schon, und zwei Romane oder drei. Und dann ist das an Heyne übergegangen. Also, da hat's schon traurige Geschichten gegeben. Die sind sicher nicht durch die Werkausgabe Pleite gegangen. Aber eine Werkausgabe ist wirklich ein Anspruch, wo man sagt: Ich kann das nicht beenden, bevor nicht die Fans alle Bände haben. Und was machen wir, wenn uns da doch was passiert? Wir können jetzt nicht zusperren!"
    "Vermutlich, so genau wollen wir das gar nicht wissen, musste irgendwann noch ein Alfa dran glauben. Pünktlich zu Tiptrees 100. Geburtstag erschien im August letzten Jahres der siebente und letzte Band der gesammelten Erzählungen. Mit "Die Mauern der Welt hoch" folgte kürzlich der erste von zwei aus Tiptrees Feder stammenden Romanen. Die eigentliche Sensation – nicht nur für beinharte Fans – dürfte jedoch die soeben erschienene Auswahl mit Briefen, Gedichten und Essays von James Tiptree jr. sein. Hier findet sich auch der von Julie Philipps einfühlsam kommentierte Briefwechsel zwischen Tip/Alli und der Science-Fiction-Autorin Ursula Le Guin.
    Gelegentliche Anfälle von Aktivität
    Die Korrespondenz begann im April 1971, als Sheldon und ihr Alter ego 45 Jahre alt waren, und währte bis zu ihrem Tod 1987. Die Briefe waren anfangs in gewissem Sinne schon eine Story, Teil von Alice Sheldons Bravourleistung als Tiptree: Beide fanden Vergnügen an der literarischen Finesse des Anderen, Le Guin flirtete sogar mit dem ansprechenden älteren Mann, der seinerseits laut darüber nachdachte, mit ihr durchzubrennen. Das Wissen, einen treuen Leser und geheimnisvollen Freund zu haben, gab beiden Schriftstellerinnen Rückhalt bei ihrer Arbeit. Als Sheldon sich schließlich "outete", war Le Guin die erste Freundin, der sie sich mitteilte. Am 24. November 1976 schrieb sie:
    "Vielleicht möchtest Du lieber wissen, wie ich aussehe. Einsachtundsiebzig, blond-braune Haare mit zunehmend grauen Strähnen, dünn, schwache Spuren einer jungen Frau, die viel gegrinst und vormals als gutaussehend gegolten hat, noch erkennbar unter den 61 Jahren Magerkeit und Falten; lache gern und viel, wie alle depressiven Menschen; gelegentliche Anfälle von Aktivität, wenn es mich überkommt. Jetzt weiß Du’s. Tip nimmt Abschied von einer sehr guten Freundin und allem, was zu ihr gehört. Lass mich wissen, was Du denkst, falls Du noch sprichst mit: Tip/Alli."
    Man fragt sich, was beeindruckender ist – das luzide Werk oder die Person dahinter? Für Julie Phillips liegt Sheldons größte Leistung und ihre nachhaltigste Wirkung in ihrer Rolle als Tiptree – eine Rolle, mit der sie unsere Vorstellungen von männlichem und weiblichem Schreiben ziemlich gründlich auf den Kopf stellte.
    "Es ist sehr schwer zu entscheiden. Manchmal glaube ich, dass mein Lieblingswerk die Briefe sind, die James Tiptree geschrieben hat. Und einige von Alice Sheldons Briefen. Vielleicht ist die beste Tiptree-Geschichte ja die seines – oder ihres - Lebens? Sie hat eine Menge Zeit damit zugebracht, herauszufinden, wer sie war, was sie sein und tun wollte. Auf diesem Weg hat sie einige ziemlich faszinierende Entscheidungen getroffen. So kommt es zu diesen komplett verschiedenen Leben – verschmolzen zu einem einzigen."
    Glaubt man Julie Phillips, zeigt Hollywood an diesem Leben, einer der irrwitzigsten literarischen Biografien des 20. Jahrhunderts, wieder einmal Interesse. Für den bekennenden Cineasten Jürgen Schütz wäre das natürlich ein Traum – der sich nur durch eine Vorstellung toppen ließe:
    "Also, ich habe immer früher gesagt, wenn ich mir aus der Geschichte einen Menschen aussuchen dürfte, mit dem ich auf einen Kaffee gehe, wäre das immer George Orwell gewesen. Aufgrund seiner Essays - also, ich verehre diesen Menschen wirklich sehr. Er war ein guter Mensch. Und jetzt würde ich sagen: George Orwell und James Tiptree jr. - Also, mit dieser Frau hätte ich gern in meinem Leben einmal gesprochen."
    Informationen zu den einzelnen Bänden der Werkausgabe von James Tiptree jr: tiptree
    Zuletzt erschienen unter dem Titel "Wie man die Unendlichkeit in den Griff bekommt" ausgewählte Briefe, Gedichte und Essays von James Tiptree jr.; der Band hat 456 Seiten und kostet 24.90 Euro.