Heinrich Marschners Oper "Hans Heiling"

Schauerromantik in Wien

Von Frieder Reininghaus · 13.09.2015
Das Theater an der Wien hat eine vergessene Oper wiederentdeckt: "Hans Heiling" von Heinrich Marschner ist nicht nur ein Stück voller Geheimnisse und Abgründe, sondern kann auch als Schlüsselwerk der Musiktheatergeschichte verstanden werden.
Der Schauspieler Eduard Devrient, der bei der Wiederaufführung der Matthäus-Passion unter Leitung von Felix Mendelssohn Bartholdy im März 1829 die Christus-Partie bestritt, hatte bereits vor dieser gemeinsamen Pioniertat für seinen Freund ein Opernlibretto geschrieben. Es stützte sich auf eine böhmische Sage – wie das zum "Freischütz", mit dem Carl Maria von Weber 1821 in Berlin großen und nachhaltigen Erfolg errang. Gerade die thematische Nähe aber und wohl auch einige heftige Ungereimtheiten des Textes veranlassten Mendelssohn, von der Komposition "Hans Heiling" Abstand zu nehmen. Mit einiger Zeitverzögerung schickte Devrient das Textbuch dem Hannoveraner Hofkapellmeister Heinrich Marschner. Der war 1822 in Zittau mit "Der Kyffhäuserberg", 1825 in Dresden mit "Der Holzdieb" hervorgetreten und hatte 1827 mit "Lucretia" die erste durchkomponierte Oper präsentiert. "Der Vampir" (1828) und "Der Templer und die Jüdin" (1929) avancierten zu Publikumslieblingen und wurden bis vor einigen Jahrzehnten immer wieder auf die Spielpläne gesetzt – allen voran das Hauptwerk "Hans Heiling" (1833 in Berlin uraufgeführt). Auch da geht es um Geheimnisvolles, Abgründiges, Okkultes – effektvolle "Schauerromantik".
Für den Anfang ließ sich Marschner etwas Außergewöhnliches einfallen: Ein paar kurze Introduktions-Takte des Orchesters führen zu einem fugierten Gedenk- und Trauerchor, der an den Tod Hans Heilings erinnert und die den Verlust des Sohns beklagende Königin des Geisterreichs exponiert. Die Geschichte wird mithin von hinten her aufzäumt (dieser singuläre Kunstgriff hat mit großer Zeitverzögerung der Filmregie eine wichtige Anregung beschert). Erst nach diesem Prolog erklingt die Ouverture – eine kompositorische Volte, die Mendelssohn für sein Oratorium "Elias" übernahm. Kurz: "Hans Heiling" darf getrost als ein Schlüsselwerk der Musiktheatergeschichte verstanden werden, zumal auch Richard Wagner die Partitur weidlich ausbeutete. Die "Todesverkündigung" der "Walküre" stammt tongetreu aus einem Arioso der Geisterkönigin: Da bedroht Heilings Mutter Anna, in die sich ihr Sohn verliebte.
Zu Beginn des zweiten Akts schwankt dieses lebenslustige und -tüchtige Biedermeiermädchen hinsichtlich der bei ihr auf der Agenda stehenden Verheiratung zwischen dem biederen burggräflichen Leibschützen Konrad, der sich schon lange Hoffnungen auf sie macht, und dem steinreichen, aber offensichtlich ziemlich schrägen und abgründigen "Meister Heiling". Bei dem handelt es sich um den abgedankten Kronprinzen des Reichs der Erdgeister, in dem wertvolle Metalle geschürft und – wie später bei den Nibelungen – gewinnbringend veredelt werden. Der des Bergwerksdaseins überdrüssige Schöngeist wohnt neuerdings inkognito im Dorf. Ihn hat es – nachdem er allzu viel mütterliche Liebe und Bevormundung abbekam – hinauf in die Welt der Menschen gezogen. Insbesondere eben zu Anna, die er – unterstützt von der auf eine "gute Partie" der Tochter versessenen Gertrude – unbedingt als seine Frau gewinnen möchte. Anna kommt der in einem okkulten Buch blätternde und allzu herrisch aufbrausende Bräutigam zunehmend suspekt vor. Sie entscheidet sich drei Tage vor der Hochzeit um – für Konrad, der eine Eifersuchtsattacke Heilings und den Messerstich in die Brust überlebt. Als der von allen Geistern und selbst der schützenden Hand der Mutter verlassene Heiling nach vollzogener kirchlicher Trauung seine Rache vollenden will, endet die Konfrontation für ihn tödlich.
Eine eskalierende Inzest-Story
Anna hatte die hochproblematische Abhängigkeit des Sohns von der dominanten Mutter früh durchschaut und gesungen: "Hörig seiner Mutter Liebe / ist er Opfer seiner Triebe." Roland Geyer, der Direktor des Theaters an der Wien, hat die textlose Strecke der nachgelegten langen Ouvertüre dazu genutzt, mit einer Folge von Tableaux vivants eine eskalierende Inzest-Story zu insinuieren. Sie zeigen Angela Denoke als unterirdische Königin mit dem Säugling Hans, mit dem vier-, dem acht-, dem zwölf, dem sechzehn- und zwanzigjährigen Sohn in Situationen, die an Eindeutigkeit zunehmend wenig zu wünschen übrig lassen. Die Nachzuckungen der sexuellen Freizügigkeit finden sich dann als Objekte in Meister Heilings Wohnung: Ein Filmstill aus "Praxis der Liebe" und eine Pan-Statue mit zwei stattlichen Schwänzen (sie dient dann auch dem Dorffest als Bierbrunnen).
Die konservativ-narrativ angelegte Regie – immer strikt dem Libretto entlang – hat sich nicht nur mit aktueller Kleidung kostümiert, mit Bildern eines heutigen Friedhofs oder Intellektuellen-Lofts, einer ländlichen oberösterreichischen Hochzeitskirche und anderen "Tatort"-Drehorten versehen, sondern die Frage der Mutterliebe radikal einseitig genommen. Das macht den altberlinisch-romantischen Stoff noch einmal prickelnd und sorgt für brisante Pointierung. Der vom Kapellmeister Constantin Trinks mitunter zu breit gestreichelte Streicherfluss, dem die vormärzliche Schlankheit abgeht, ist ein kleiner Wermutstropfen in einer musikalisch hochkarätigen Produktion. Angela Denoke verleiht ihr mit einer fulminanten singschauspielerischen Leistung szenische und stimmliche Schärfe. Sehr schön leicht und in den Stimmungswechseln überzeugend profiliert sich Michael Nagy in der Titelpartie. Das Grübeln, Grummeln und Greinen dieses Baritons unterstreicht die drastischen optischen Hinweise auf die grenzwertige Mutter-Sohn-Beziehung in der Vierecksgeschichte. In der bleibt Peter Sonn mit seinem optimistischen Tenor der lichte Widerpart. Und Katerina Tretyakova stellt alle Vorteile der begehrenswerten Braut aus: Zum klaren Sopran kommt die vorteilhafte Figur und eine bedenkenlos zur Schau gestellte Naivität, die viele Herzen höher schlagen lässt.
Mehr zum Thema